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Mit dem Album „Piano Solo“ von 2006 wurde Stefano Bollani schlagartig bekannt – ein Jazzpianist von überschäumender, humorvoller, bizarrer Virtuosität. Seine Jazzkarriere begann aber schon zehn Jahre vorher.

Frühe Jahre eines Genies
Über den Jazzpianisten Stefano Bollani
(2016)

Von Hans-Jürgen Schaal

Klaviervirtuose, Komödiant, Nostalgiker: Der Mailänder Jazzmusiker Stefano Bollani ist ein schillerndes Unikum in der Musikwelt. Einen „Slapstick-Virtuosen“ hat man ihn genannt, einen „Roberto Benigni des Jazz“. Schnelle Tempi, verrückte Ideen, wilde Stilbrüche sind Bollanis Leidenschaft. Der Auslöser dafür, sagt Bollani, war eine Schallplatte mit Scott Joplins „Maple Leaf Rag“, die er als Kind häufig auflegte. „Ich habe diese Platte absolut geliebt, ich habe sie immer und immer wieder gehört. Ich mochte es, wie die Bassstimme so schnell umherhüpfte, und ich versuchte das am Klavier zu imitieren.“ Später soll sich herausgestellt haben, dass er die Platte immer zu schnell abgespielt hat – aber da war es schon zu spät: Der rasante Rhythmus hatte ihn gepackt, Tempo und Exzentrik ließen ihn nicht mehr los, die Stilmittel des frühen Jazzpianos wurden, modern verfremdet, ein Teil von Bollanis pianistischer Identität.

Aber nicht Pianist wollte er werden, sondern Komiker, Popsänger und Fernsehstar. Bollani ist ein geborener Entertainer und Selbstdarsteller. „Ich habe nur mit dem Klavier angefangen, weil ich mich als Schlagersänger selbst begleiten wollte“, behauptet er. Nach seinem Studium am Konservatorium in Florenz begann er daher zunächst als Keyboarder für italienische Popstars zu arbeiten – bis zu dem Tag, als er an den Trompeter Enrico Rava geriet, ein Zentralgestirn der italienischen Jazzszene. Rava erkannte Bollanis fantastisches Klaviertalent: „Warum nur verschwendest du deine Zeit mit dem Spielen dieses Pop-Zeugs?“ Das war 1996, Stefano Bollani war 23 Jahre alt und fand, es könne ja nicht schaden, noch etwas anderes auszuprobieren. Welch ein Glück – denn ein Musiker mit Bollanis Spieltechnik, Temperament, Witz und Originalität ist auch im Jazz ein seltenes Juwel.

Schon gleich 1996 startete Stefano Bollani mit den Aufnahmen für sein Album L’Orchestra Del Titanic (edel Caution 0208908CTT). Die Musikkapelle auf der Titanic, so heißt es, soll noch beim Untergang des Schiffes unablässig Walzer und Ragtimes gespielt haben – eine ideale Inspiration für einen wie Bollani, der so gern aus frühem Jazz, alten Schlagern und nostalgischen Rhythmen seine wilden Funken schlägt. Schon im Thema des ersten Stücks, „La Sagra Di Paolòpoli“, scheinen Fragmente aus mehreren Schmachtmelodien des frühen 20. Jahrhunderts aufeinanderzuprallen. Später gibt es auch Swingrhythmen, zwei echte italienische Schlager und etliche nostalgieselige Einfälle von Bollani, mit denen er liebevoll und ironisch jongliert. Das Album ist eine unberechenbare Klavierplatte mit sanfter Band-Unterstützung, wobei Antonello Salis am Akkordeon für die volkstümliche Färbung sorgt. „Was ich an der heutigen Zeit mag“, sagt Bollani, „ist die postmoderne Auffassung, dass man viele verschiedene Dinge hernehmen kann, sie durchschüttelt und dann schaut, was dabei herauskommt.“ In diesem Fall: ein surrealer, unerschöpflicher Hörspaß.

2001 – Bollani war 28 – entstand mit Les Fleurs Bleues (Label Bleu LBLC 6635) das vermutlich erste Jazzalbum, das dem französischen Schriftsteller Raymond Queneau gewidmet ist. Unser Tastenwirbler präsentiert sich diesmal in den beiden Standardformaten des Jazzpianos – im Solo und im Trio. Seine Triopartner, Scott Colley (Bass) und Clarence Penn (Drums), kommen aus der obersten amerikanischen Jazzliga und bringen von dort eine Menge Groove und Feeling mit. Ob Filmballade („Se Non Avessi Più Te“), Freejazz-Stück („Chippie“) oder eine eigene Erfindung im Jahrmarktsstil („Il Duca“): Bollani swingt unermüdlich, seine improvisatorische Fantasie blüht, die Töne strömen üppig. Aber auch in den Solostücken ist der Pianist eine komplette Band – immer rhythmusbetont, voller Überraschungen und freigebig. Sein Spiel erinnert dabei gelegentlich an ein großes Vorbild: „Chick Corea war von Anfang an einer meiner Lieblingsmusiker, seit ich begann Jazz zu hören“, verrät Bollani. „Ich habe viel gestohlen von seinem Stil, seiner Phrasierung, seinem wunderbaren Sinn für Rhythmus.“ Hinter dem neckischen Titel „Bar Biturico“ versteckt sich übrigens die wundersamste Hommage ans frühe Jazzpiano.

2006 folgte Bollanis vielseitigstes und fantastievollstes Album: eine Doppel-CD, vollgepackt mit wechselnden Besetzungen und widersprüchlichen Stilistiken. Die Basisformation auf I Visionari (Label Blue LBLC 6695/96) ist ein Jazzquintett mit zwei sehr flexiblen Holzbläsern (Mirko Guerrini und Nico Gori), für das Bollani großartige Stücke geschrieben hat, irgendwo zwischen zeitgenössischem Jazz und verfremdetem Folklore-Ton. Zuweilen wird die Band noch erweitert durch Mark Feldman (Violine) bzw. Paolo Fresu (Trompete). Nicht nur Bollanis Soli fesseln hier das Ohr, auch seine Mitspieler improvisieren hellwach. Aber das Album hat noch ganz andere Facetten: ein experimentelles Klangstück („Intro“), die Klaviersolo-Version eines Jazzstandards („Alone Together“) und diverse, unterschiedlich ernsthafte Gesangseinlagen. Viele musikalische Quellen vermischen sich da auf witzige Weise – das ist Bollanis Methode, „das ganze Repertoire der Musikgeschichte zu verwenden, um das eigene Ding zu machen. Und ich glaube absolut, dass Humor zur Musik dazugehört.“

© 2016, 2018 Hans-Jürgen Schaal


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