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Das europäische Pianotrio ist schon fast ein eigenes Genre. Ruhe, Raum, Romantik spielen dabei eine nicht unwichtige Rolle – aber um die Ecke lauert oft schon die Eintönigkeit. Nicht so beim Trio des Pianisten Florian Favre: Mit Kraft und Interaktion entkommt es der Langeweile-Falle. „Das Gleichgewicht zwischen geschriebenem Material und Raum für Freiheit ist für mich die größte Herausforderung“, sagt der Pianist.

Florian Favre
Zum Horizont schauen
(2016)

Von Hans-Jürgen Schaal

Alles Wesentliche steckt vielleicht schon in dieser ersten Nummer. Sie heißt „Ur“ – so wie das Album –, und sie beginnt mit einer minimalistischen, polyrhythmischen Figur. Gleich darauf aber packt uns eine romantische kleine Melodie, der improvisatorische Flow steigert sich, dann plötzlich fällt die Dynamik wieder um einen Level zurück, die Band setzt immer wieder anders an, doch der rhythmische Puls lässt nie nach... Das Klaviertrio als kurzweiliges Stufendrama? Ein interaktiver Fluss, gegliedert von Stromschnellen, Staubecken, Wasserfällen? „‚Ur‘ ist wahrscheinlich das Stück, in dem am meisten Geschriebenes steckt“, sagt Florian Favre, „die Dramaturgie ist hier Teil der Komposition. Aber die Komposition ist durch unsere gemeinsame Arbeit sehr gewachsen. Ich bin jederzeit bereit, Änderungen zu machen, und oft sind diese Änderungen eine Verbesserung. Demokratie ist mir sehr wichtig in der Band. Es macht keinen Sinn, wenn jemand etwas spielt, das er nicht mag. Das kommt dann auch nicht ehrlich rüber.“

Das Ehrliche, das Substantielle – darauf legt der 30-jährige Pianist aus Fribourg großen Wert. Das Wort „Ur“ steht für Ursprünglichkeit, für echte Musikalität, für die Essenz der Musik – anstelle von bloßen Tricks und blenderischer Technik. Favre, der frankophone Westschweizer, ist geradezu fasziniert von der deutschen Vorsilbe „ur“. Überhaupt scheint das Pendeln zwischen den beiden Sprachen für ihn amüsant und anregend zu sein. „Im Deutschen kann man etwas mit unglaublicher Präzision beschreiben – es wirkt manchmal allerdings etwas kalt und analytisch“, räsoniert Favre. „Die französische Sprache erlaubt mehr Poesie und Fantasie, worin man sich dann oft verlieren kann. Die Sprache hat wahrscheinlich sogar Einfluss auf die Art zu spielen. Ich kenne viele französische Pianisten, die unglaublich viel und schnell reden, und sie spielen auch genauso! Die deutschen Musiker, die ich kenne, sind etwas überlegter, kohärenter und vielleicht ein wenig kälter“ – natürlich sagt er es mit einem Augenzwinkern. Denn: „Es gibt wahrscheinlich Tausende von Gegenbeispielen, und das ist auch besser so.“

Nach T’inquiète Pas, Ça Va Aller (2013, etwa: „Keine Sorge, alles wird gut“) ist Ur das zweite Album, das Favre in Triobesetzung aufgenommen hat. Manu Hagmann ist wiederum sein Bassist, während hinterm Schlagzeug jetzt Arthur Hnatek sitzt. Man hört den Spaß, den diese drei am Plötzlichen und Dynamischen haben, an Interplay und Rhythmus, an dem, was Jazz im ursprünglichen, im amerikanischen Sinn ausmacht. „Ich habe mich sehr lange auch für Hip-Hop und Black Music interessiert“, verrät Favre nicht ganz überraschend. „Generell habe ich eine Vorliebe für Musik, die quasi physisch ist, auf die man tanzen kann.“ In dem Stück „Indie“, das Motown-Beats nachempfunden ist, soliert Favre auf besonders „sprechende“ Weise. „Bei diesem Stück war mir vor allem der Drum-Groove wichtig. Mich interessiert, was für ein Gefühl ein Drum-Groove erzeugen kann. Bei ‚Indie‘ war es der Versuch, ein ‚happy‘ Gefühl zu transportieren – dieses Gefühl, bei dem man denkt: Alles läuft, ich surfe auf dem Glück.“

Trotzdem ist Florian Favres Band natürlich ein Klaviertrio der europäischen Art. Es gibt keinen harten Swing, sondern durchaus auch romantische Nuancen, klangliche Schattierungen, schwebende Stimmungen, eine Betonung des Komponierten. „Das kommt wahrscheinlich aus der europäischen Tradition“, sagt Favre. „Auch das Spiel mit Ruhe und Space ist ja etwas sehr Europäisches. In gewissen Jazzclubs in New York dagegen müssen die Musiker viel Gas geben, um den Lärm zu übertönen. Sie leben in einer großen Stadt, die Konkurrenz ist groß, das prägt die Musik. Ich aber lebe auf dem Land und habe fast keine Nachbarn. Ich kann jeden Morgen zum Horizont schauen, es gibt Wald und Berge, Ruhe ist immer vor meinen Augen. Ich muss nicht laut und wild schreien, damit man mich wahrnimmt.“

Die Mischung macht’s bei Florian Favre. Die Musik seines Trios kennt Raum und Ruhe. Aber sie kennt eben auch körperliche Wucht, bizarre Plötzlichkeit und dramatische Interaktion. „Interplay und Aufeinander-Hören – das sind für mich die wichtigsten Dinge beim Jazz“, sagt Favre. „Und das sind Sozialfähigkeiten. Ich sehe Jazz wie ein soziales Ereignis.“ Sicherlich ist es kein Zufall, dass Favre beinahe Fußballspieler geworden wäre. Auch im Fußball wird im Team improvisiert, auch dort überschreitet man gemeinsam seine Grenzen. Es ist diese Interplay-Idee, die Favre am Fußball schätzt. „Das Spiel des FC Barcelona vor drei, vier Jahren“, sagt er, „war sehr fließend, einfach, überraschend, weit weg vom Ego. Da hat man geradezu eine Band gehört! Als Fußballer war ich Verteidiger. Und gewisse Fähigkeiten im Fußball kann man auch in der Musik gut gebrauchen – zum Beispiel die Fähigkeit zur Antizipation!“ Was Favre am Fußball weniger gefiel, war das Umfeld. Er entschied sich glücklicherweise für den Jazz.

© 2016, 2018 Hans-Jürgen Schaal


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