Die zweite Hörhilfe 10.1.07
Charlie Parker
Complete Savoy Masters 1944-1949 (Definitive)
Studioaufnahmen als Bandleader machte Charlie Parker für mehrere Labels. Den besten Einblick in jene Phase, als der Bebop noch jung und revolutionär war und Parker die Sprache des Saxofons neu lexikalisierte, geben jedoch die Aufnahmen für die Firma Savoy. Die vorliegende Compilation enthält seine 22 Master Takes als Bandleader, 12 weitere als Sideman (für Tiny Grimes 1944, für Slim Gaillard 1945, für Miles Davis 1947) sowie acht großenteils großartige Live-Tunes aus dem legendären Royal Roost. Weil diese Aufnahmen vor der LP-Ära entstanden, waren die Studio-Takes auf die 78er-Schellacks zugeschnitten und übertraten selten die Drei-Minuten-Grenze. Vier Plattenseiten, also zwei komplette Schellacks, waren damals das übliche Pensum einer Studio-Session.
Bei Parkers erster Leader-Session überhaupt wurde dieses Pensum schon mal übertroffen: Sechs Masters waren es am Ende, allerdings entstanden zwei eher ungeplant und ohne dass die Musiker wussten, dass die Mikros offen waren. Die Sitzung vom 26. November 1945 gehört zu den ungewöhnlichsten der Jazz-Geschichte, eine Mischung aus Katastrophe und Genialität: irgendwie typisch für den tragischen Helden des Bebop. Parker kam schon mal viel zu spät ins New Yorker WOR Studio und hatte dann auch noch Probleme mit seinem Saxofonblättchen. Der vorgesehene Pianist Thelonious Monk fiel ganz aus, Parkers Trompeter-Freund Dizzy Gillespie war vertraglich anderswo gebunden, ein 19-jähriger Juilliard-Student namens Miles Davis musste deshalb den Trompeten-Part übernehmen und Dizzy glänzte (incognito) hauptsächlich am Klavier. Dann kamen Drogen und Mädchen ins Spiel und alles ging noch mehr drunter und drüber. Titel der Veranstaltung: "Die größte Aufnahme-Session in der Geschichte des modernen Jazz" – so die Werbung der Plattenfirma Savoy.
Ganz falsch ist das nicht: Tatsächlich entstanden an diesem verrückten Tag gleich mehrere Klassiker des modernen Jazz. Zum Beispiel "Billie's Bounce", vielleicht der idealtypische Bebop-12-Takter, ein mit Quart- und Quintsprüngen und scheinbaren Walzertakten vollgepacktes Thema, das angeblich der Sängerin Billie Holiday gewidmet ist und in ihrem Lieblingstempo gespielt wird. Oder "Now's The Time", Parkers einfachstes Blues-Thema, ein Jump-Riff auf drei Tönen, das vom Downbeat-Kritiker null Sterne bekam, während die Verantwortlichen bei Savoy Parker für lächerliche 50 Dollar sofort und auf ewig das Copyright an der Nummer abkauften. Vier Jahre später wurde das Stück unter dem Titel "The Hucklebuck" ein großer R&B-Hit durch Paul Williams – natürlich auf Savoy...
Unser Platz reicht nicht aus, um alle Jazz-Klassiker zu würdigen, die aus Parkers paar Savoy-Sessions hervorgingen: das modernistisch-abstrakte "Ko Ko" mit Dizzy Gillespie an der Trompete, die erdig-schlichten Blues-Nummern "Buzzy" und "Bluebird", die raffinierteren Blues "Cheryl", "Barbados" und "Perhaps", die im zweistimmigen Kontrapunkt gespielten "Chasin' The Bird" und "Ah-Leu-Cha", beide über die Harmonien von "I Got Rhythm", sowie einige weitere, zum Teil halsbrecherische Altsax-Improvisationen über diesen Gershwin-Song. Nicht zu vergessen: Parkers Vorstellung als Tenorsaxofonist bei der ersten Leader-Session seines damaligen Trompeters Miles Davis.
Und dann ist da natürlich noch "Parker's Mood" aus der letzten Studio-Sitzung für Savoy. Bei zwei Parker-Sessions im September 1948 entstanden insgesamt sieben typische Bebop-Nummern in schnellen Tempi zwischen M. M. 168 und sagenhaften M. M. 324. Das achte Stück aber fiel völlig aus dem Rahmen: ein langsamer Blues in B, 76 Beats pro Minute, ein monumentaler Showcase für den Altsaxofonisten – ohne einen zweiten Bläser und ohne einen richtigen Themen-Chorus. In nur drei Blues-Strophen vollzieht Parker hier die Quadratur des Kreises, die Versöhnung von traditionellem Slow Blues mit modernem Jazz. Die Übergänge sind fließend: Mal singt und shoutet sein Saxofon wie ein Blues-Sänger, mal rennt es in 32stel-Noten und 16tel-Sextolen durch die Harmonien. Der Sänger Clarence Beeks ("King Pleasure") machte Parkers Improvisation 1954 zum R&B-Hit, indem er sie Ton für Ton betextete und nachsang und darin Parkers baldigen Tod und ein Begräbnis in Kansas City prophezeite. Es heißt, der Saxofonist habe King Pleasures Aufnahme gefürchtet. Leider bewahrheitete sich ihr Text schon im Frühjahr 1955.
Publiziert in Rondo 3/2001
© 2001, 2007 Hans-Jürgen Schaal |