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Ursprünglich sollte dieser Beitrag heißen: "Acid Jazz - Stil oder Schwindel?". Doch diese Frage ist inzwischen entschieden. Unübersehbar prangt auf dem Begriff "Acid Jazz" das Siegel: For promotional use only. Was anfangs frisch, frech und nicht unsympathisch daherkam, ist längst zur Schutzmarke geworden fürs "Anything goes". New Jazz, Pop Jazz, House-Jazz, Hip Hop Jazz - alles ist im Acid Jazz. Der einzige gemeinsame Nenner in der zehnjährigen Geschichte dieses Phantoms ist sein Zweck, die Diskothek. Der neueste Sampler heißt schlicht "Dancefloor Jazz", und die Acid-Jünger ziehen da flugs den Umkehrschluß: Wenn Jazz zum Tanzen da ist, muß alles Tanzbare Jazz sein. Voilà! Das eröffnet der Jazz-Geschichte ganz neue Perspektiven...

Acid Jazz
Die Erfindung der DJs
(1993)

Von Hans-Jürgen Schaal

Begonnen hat's damit, daß swingende Klänge plötzlich wieder angesagt waren. Nach einem Jahrzehnt innovativer Erregungen - Free Jazz, Jazz-Rock, Punk-Jazz - überraschte das Comeback des swingenden Mainstream die Insider, die Medien und die Werbeagenturen gleichermaßen. Was gerade eben noch abgestanden und vorgestrig klang, hatte plötzlich die höheren Weihen des Zeitgeists erhalten. Die Post-Mahavishnu-Generation fand kühle Saxophone und das Outfit der fünfziger Jahre einfach schick.

Ein findiger DJ in Londons "Wag Club", Paul Murphy mit Namen, wurde 1982 zum Vorreiter der Hipsters. Murphy, der in Kleidung und Haartracht die Musiker des Cool Jazz imitierte, hatte als erster die Idee, für die jungen Diskotheken-Besucher alte Platten von Gerry Mulligan und Hank Mobley, Art Blakey und Jimmy Smith aufzulegen. Nach den psychedelischen Ego-Trips der 70er Jahre vollzog sich in London die Wiedergeburt des Jazz als soziales Bindemittel: Nichttanzen war verboten. Kurzweg erklärte man die Musik von vorgestern zum Trend von übermorgen.

Tatsächlich ist der erdige Hard Bop und Soul Jazz der 50er und 60er Jahre bis heute ein Teil des Acid-Jazz-Sammelsuriums geblieben. Blues-Grooves, ein Touch Samba, ein krähendes Saxophon und eine kreischende Hammond-Orgel: Nostalgie als letzter Schrei. Die Plattenfirma Blue Note verdankte dem wiedergeborenen Interesse an ihren Archivschätzen ihre Neugründung im Jahr 1985. Rasch warfen alle Jazz-Labels von Rang ganze Serien von Samplern auf den Markt, um den Appetit der DJs auf angestaubte Grooves und swingende Vergangenheit zu befriedigen.

Die originelle Idee Paul Murphys zog jedoch viel weitere Kreise. Sein Arbeitgeber, der Klubbesitzer Chris Sullivan, wagte die Probe aufs Exempel, nahm die imagetragenden Elemente der neuen Jazz-Wut - Mode, Saxophon, Swing, Congas, 50er Jahre - und schusterte damit eine eigene Band: "Blue Rondo A La Turk", benannt nach der Komposition Dave Brubecks. Bläserriffs wie aus dem Hardbop, ein Saxophonsolo von Ronnie Ross, etwas Latin-Feeling und ein paar Gesangstexte über James Dean und Charlie Parker gaben die Mischung vor, der die halbe Independent-Szene Londons nacheifern sollte. "Über Nacht", berichtete Steve Lake, "wurden aus einer Reihe von Pop-Acts »Jazz«-Acts: Style Council, Alison Moyet, Carmel, Everything But The Girl, Sade, Jerry Dammers".

Das Wort »Jazz« stand da zurecht in Anführungszeichen. Denn es waren nichts als Oberflächenreize, kleine Versatzstückchen, die dem Jazz entborgt wurden. Man nehme ein frisch poliertes Saxophon oder eine dreiköpfige horn section, dazu einen straight auf dem Beat gespielten Rhythmus und einen Walking-Baß vom Synthesizer. Der Rest ist Pop-Konfektion, eine hübsche Frontfrau schadet nicht. Nach diesem Rezept blühte eine Szene auf: London swingte mal wieder und nannte das Ganze ohne falsche Hemmungen schlicht "New Jazz".

Zu den populärsten Formationen dieser Richtung gehörten Matt Bianco und Working Week. Der Kopf von Matt Bianco war Mark Reilly, ein von Chris Sullivan persönlich Initiierter. Die erste Platte "Whose Side Are You On" erschien 1984, zwei Jahre später folgte noch eine Coverversion des einstigen Georgie-Fame-Hits "Yeh Yeh" - ursprünglich eine Erfolgsnummer von Mongo Santamaria (1962!). 1985 erschien "Working Nights", die erste Platte von Working Week, einer Band genau an den Schnittstellen der swingenden Trends. Ihr Initiator war Simon Booth, ein Gitarrist, der den Punk überlebt hatte und auf der Suche nach dem kommerziellen Durchbruch war. Als Partner wählte er einen Saxophonisten, den Free-Jazz-Veteranen Larry Stabbins. Und an der Bühnenfront stand die schwarze Sängerin Julie Roberts mit ihrem souligen Pop-Organ. Musikalisch ging die Sache zwar nicht auf, aber dennoch wurde Working Week zum Symbol der Pop-Jazz-Synthese.

Für diese Art stilistischer Brückenschläge bot London das denkbar beste Reservoir an Musikern, denn fließende Übergänge und Mischungen aller Spielarten hatten hier Tradition. Gitarristen wie Eric Clapton und Peter Green erschlossen schon in den 60er Jahren den Blues für die Popmusik. Britische Rockmusiker entdeckten den Jazz früher als umgekehrt, etwa John McLaughlin, Jack Bruce und Jon Hiseman. Londons Jazzmusiker waren es gewohnt, auf jedermanns Party zu spielen, und mußten es tun, um zu überleben.

Der Pop-Jazz der 80er Jahre baute weiter an den Brücken zwischen den musikalischen Lagern und gab zahlreichen Jazzsolisten Arbeit und Publikum. Der legendäre Ronnie Ross (er starb 1991) blies sich noch seinen Weg durch die Platten von Blue Rondo A La Turk und Matt Bianco. Die Trompeter Harry Beckett und Guy Barker, die Posaunisten Annie Whitehead und Ashley Slater, die Saxophonisten Chris Biscoe und Chris Dean gaben swingende Gastspiele. Im Höhepunkt dieser Begegnung von Pop und Jazz entstand der Kultfilm "Absolute Beginners" mit David Bowie in der Hauptrolle. Die recht einfältige Story des Streifens vertraute ganz der Kraft der Musik, einem wilden Nebeneinander von Mingus-Kompositionen, swingendem Pop und italienischer Folklore. Neben Sade, Working Week, Style Council, Eighth Wonder, den Jazz Defektors und anderen Mode-Formationen war sogar Platz für Slim Gaillard, den Poeten des Scat und Lehrmeister der Hipsters. Auch der Jive bekam also seine Chance in Londons Jazz-Renaissance, und Joe Jackson, die Chevalier Brothers und Kit Packham nützten sie.

Im Schutz der swingenden Pop-Klänge gedieh die Londoner Jazzszene - ähnlich wie in den 60ern der schwarze Blues dank John Mayall und Alexis Korner. Dem Saxophonisten Courtney Pine, Aushängeschild der jungen schwarzen Jazzer Englands, wurde eine Aufmerksamkeit zuteil, die ohne das Modeprädikat "Acid Jazz" undenkbar gewesen wäre. Mit Steve Williamson, Andy Grappy, Cleveland Watkiss, Orphy Robinson und anderen Kollegen gründete er sogar eine Big Band, die Jazz Warriors. Auch ihr weißes Gegenstück, die Loose Tubes um den Pianisten Django Bates, verdankten dem Londoner Crossover ihre Existenz.

Es dauerte nur zwei, drei Jahre, dann hatte der Virus aus Londons Wag Club die ganze Popszene angesteckt. Kaum ein Popmusiker, ob erfolgreich oder nicht, traute sich mehr ohne einen Saxophonisten auf die Bühne oder ins Studio. Doch als Kenny Kirkland und Branford Marsalis mit Sting auf Tournee gingen und Coltranes "A Love Supreme" in einer Disco-Version zu hören war, da hatte der Jazz in Londons Trend-Klubs schon wieder ausgespielt. Einen Sommer lang tanzte die Pop-Avantgarde in Europas Musikmetropole im Fieber der Acid-House-Welle, einer Übergangsform zwischen Punk und Rave. Mit einem Schlag waren da die braven Pop-Jazz-Mixturen der letzten Saison vergessen, und aus den »Jazz«-Acts wurden über Nacht wieder die Pop-Acts, die sie einmal waren.

Genau da jedoch schlugen die Jazz-DJs erneut und nachhaltig zu. Unverfroren verknüpften sie den letzten Schrei - Acid - mit dem vorletzten - Jazz - und erfanden das Wort "Acid Jazz". Es war die große Stunde des Gilles Peterson. Zusammen mit Simon Booth, Eddie Piller und ein paar anderen gelang es ihm, mit dem Begriff "Acid Jazz" ein kommerziell erfolgreiches Markenzeichen zu setzen, das die widersprüchlichsten Richtungen innerhalb der Londoner Klubszene einschloß. Dank Acid Jazz wurde aus dem jazzbegeisterten DJ Peterson ein Erfolgsproduzent, der bald für Blue Note, Polydor und Phonogram die ultimativen Stücke für den Hipster zusammenstellte.

Unter dem Banner des Acid Jazz segelten fortan die unterschiedlichsten Sounds: das Hardbop-Revival so gut wie schmachtender Soul, Hip-Hop-Prediger und Ragamuffin-Jünger. Die Soul-Jazz- und Bossa-Klassiker aus den Jazz-Archiven wurden weiterhin geplündert und die originalen "Illicit Grooves" von James Brown bis Jimmy Smith als Dancefloor-Reißer entdeckt. Acid Jazz war alles, nur eines nicht: ein musikalisches Konzept. Und je älter er wurde, desto weniger benötigte er eines - Publicity allein genügte völlig. Nachdem Herrenparfums und Kleinautos dem alten Wort »Jazz« sein neues Lifestyle-Image verliehen hatten, kamen die trendigen Sounds aus London dem Zeitgeist gerade recht. Endlich war Jazz vom muffigen Geruch der Altherrenmusik befreit. Die naßforschen Jünglinge aus den Medien und Plattenfirmen stürzten sich auf Petersons Erfindung wie auf eine Offenbarung. Nichts daran war neu, die Mischung selbst wechselte von Saison zu Saison, und der Blätterwald konnte monatlich einen neuen Trend vermelden. »Jazz« ist »in« - um den Preis, daß das, was Jazz wirklich ist, keine Rolle mehr spielt.

Zu den erfreulicheren Erscheinungen der ersten Acid-Jazz-Jahre gehörten die reinen Epigonen wie die Jazz Renegades, Slow Fuse und das James Taylor Quartet. Sie ließen sich von den Jazz-Grooves der 50er und 60er Jahre inspirieren und spielten souligen Bop ohne jeden Schnickschnack. Saxophonist Alan Barnes von den Jazz Renegades verschrieb sich ganz der erdigen Message Art Blakeys und blies wie ein Erleuchteter gegen die übermächtigen Vorbilder eines Sonny Rollins, Lou Donaldson und Hank Mobley an. Co-Leader Steve White holte sich als Schlagzeuger hier die jazzigen Kicks, die ihm im sanften Pop-Swing von Style Council abgingen. Auch Saxophonist Tim Sanders, der bei Slow Fuse und den Kick Horns den Ton angab, spielte sich in die höheren Weihen echter Jazz-Improvisation. Bekannt wurde freilich ein anderer, der Orgelspieler James Taylor, dessen eher beschränkte Technik dem Sound der alten Hammond zum Comeback verhalf.

Im Sog dieser Musiker wurde eine ganze Reihe junger Jazz-Talente in die kommerziellen Klangvorstellungen der Acid-Jazz-Produzenten verwickelt. Courtney Pine macht heute Crossover-Alben am laufenden Band und hat längst seine boppenden Ursprünge vergessen. Saxophonkollege Steve Williamson tritt ungeniert in die Fußstapfen Steve Colemans. Pianisten wie Jason Rebello und Julian Joseph lassen nur bei seltenen Gelegenheiten noch erkennen, welche Jazz-Kräfte in ihnen stecken. Mark Mondesir, Tommy Smith, Alec Dankworth, Roger Beaujolais, Philip Bent, Andy Sheppard, Iain Bellamy, Tim Whitehead, Dave Bitelli, Nigel Hitchcock - eine Fülle unsicherer und oft orientierungsloser Talente entsprang dem Nährboden des Acid Jazz.

Die Richtung, die der Acid Jazz in den letzten Jahren nahm, führte immer weiter weg von seinen jazzigen Inspirationen. Gilles Peterson, als Programmdirektor von Radiostationen und Plattenlabels weiterhin an der Definition seiner Erfindung arbeitend, machte einen Herrn namens Rob Galliano zum neuen Helden. Endgültig vergessen sind die Wurzeln dieser tanzbaren Melange namens Acid Jazz, die Pioniere wie Rip Rig & Panic, die Einzelgänger wie A Man Called Adam oder Jazztöner wie die Renegades. Der neue Trend hieß vorübergehend Hip Hop Jazz, enthielt immer mehr Zutaten und immer weniger Swing. Galliano, der quäksende Schnellsprecher, der sich für einen weißen Rap-Poeten hält, verrät mit Stolz sein Erfolgsrezept: "Nimm Roots-Reggae, Funk und Soul. Geh am Gospel nicht vorbei, guck dir Dylan an. Greif dann noch Samba, Latin und Brasil-Sounds ab. Und Jazz natürlich. Dann hast du, was uns beeinflußt".

Auf Plattenlabels wie Jazid, Urban, Acid Jazz und Talkin' Loud vollzogen Peterson und seine DJ-Kollegen die Wende in schwarz getönte, gesungene Popmusik. Was vom Jazz übrigbleibt, sind ein paar eingesamplete Sounds; Londons Jazzsolisten sind längst wieder arbeitslos. Im Acid Jazz der letzten und der nächsten Saison dominieren die Hip-Hop-Rhythmen und die Soul-Stimmen. Omar, Britanniens schwarze Seele, die Young Disciples, die Brand New Heavies, Incognito und Snowboy sind die Absahner eines Stils, der schon immer mehr ein Werbeslogan war als ein musikalisches Konzept. Wie sagte doch Saint Gilles, der Schutzheilige des Acid Jazz: "Die Intention hinter dem Namen Acid Jazz war, junge Leute anzusprechen, die sich vorher nie für Jazz interessiert haben und hätten und die über diesen Begriff dann den Zugang zum Jazz finden. Einige ältere Leute haben sich kaputt gelacht, als sie das erste Mal von »Acid Jazz« hörten". Dem Vernehmen nach haben sich die Älteren (über 30) noch keineswegs kaputt gelacht, sondern erfreuen sich ungetrübter Erheiterung über soviel Dummenfang.

© 1993, 2002 Hans-Jürgen Schaal


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