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Immer stand es im Schatten seines größeren Bruders - des dampfenden, raunenden, schnurrenden Tenorsaxophons. Alles, was dessen Publikumserfolg ausmacht, fehlt dem kleineren Alt: Sonorität, Schmiegsamkeit und Erotik. Sein weiblicher Tonfall ist strenger und klarer, fordernder und abstrakter: Rattenfänger und Verführer tun sich schwer damit. Eher ist das Altsaxophon das Instrument der Visionäre und Innovatoren. Benny Carter, der Magier des Saxophonsatzes; Charlie Parker, der Bebop-Pionier; Ornette Coleman, der Vater des Free Jazz; Anthony Braxton, der unentwegte Avantgardist; Steve Coleman, der M-Base-Prophet; John Zorn, der No-Wave-Dramaturg: Sie alle veränderten den Jazz mit einem Altsaxophon.

Die Instrumente des Jazz
Das Altsaxophon
(1993)

Von Hans-Jürgen Schaal

Erfunden in der Mitte des 19. Jahrhunderts, hatten die Saxophone von Anfang an einen schweren Stand gegen die Phalanx der etablierten Blasinstrumente. Dabei hat sich der Benjamin deren Bestes zusammengeklaut: von den Blechbläsern das Material, von der Oboe die konische Röhre, von der Klarinette das Mundstück und von der Böhm-Flöte die Applikatur. Lange Zeit war Adolphe Sax' Wunderkind nur in der Militärmusik gefragt; erst zur Jahrhundertwende besserten sich die Karrierechancen. Da lief Sax' Patent ab, und die Instrumentenhersteller in aller Welt durften sich am Nachbauen des Mischlings versuchen. Als die U.S.Army nach dem I. Weltkrieg ihre Musikbestände ausmusterte, geriet das Saxophon schließlich in die Zauberhände der Jazzmusiker, die seinen Klang völlig neu definierten - dank einer breiteren Bohrung des Mundstücks. Zurecht wurde Coleman Hawkins der Mann genannt, für den dieses Instrument eigentlich erfunden ist.

Mit seinem Gewirr von Klappen und Tasten bezeugt das Saxophon unübersehbar den Individualitätskult und Fortschrittswahn des 19. Jahrhunderts. Jeder Ton hat seine eigene Mechanik, und selbst im Namen des Instruments ist das Individuelle verewigt - der Erfinder selbst. Trotz des glänzend polierten Messings gehört sein Werk zu den Holzbläsern - dank eines winzigen Stückchens Holz, genannt Rohrblatt (englisch: reed), das durch Anblasen in Schwingung versetzt werden will. Dann zittert die Luftsäule, deren Länge (und damit die Tonhöhe) vom Schließen und Öffnen der Klappen abhängt. Der Tonumfang von normalerweise zweieinhalb Oktaven war den Jazzmusikern natürlich nie genug. Überblastechniken, falsche Griffe, gestopfte Trichter: die Tricks zur Erweiterung der Tonskala hatten sie schnell raus.

Adolphe Sax entwickelte eine ganze Familie von Saxophonen, deren Mitglieder sich in der Klangfarbe erstaunlich vielfältig unterscheiden und ergänzen. Vom Sopranino bis zum Baß ließ er keine Tonlage aus, selbst das Kontrabaß- und Subkontrabaß-Saxophon wurden schon gesichtet und gehört; dazu kamen später noch Zwischenlagen wie das Saxello und das C-Melody-Sax. Das Altsaxophon behauptet seinen nüchternen Stammplatz zwischen dem näselnden Sopran und dem heiseren Tenor, die eine Quinte bzw. Quarte von ihm entfernt erklingen. In Es (Eb) gestimmt, transponiert es eine kleine Terz hinauf und ist damit eine ideale Oberstimme zum B (Bb)-Instrument (Tenorsaxophon oder Trompete).

In dieser Funktion betrat es auch das Schlachtfeld des Swing: als Satzführer in der reed section der Big Bands. Die ersten großen Solisten hingegen waren Tenöre: Coleman Hawkins, Chu Berry, Lester Young, Hershell Evans, Ben Webster, Bud Freeman. Ihnen ist es zu verdanken, daß der Parvenü Saxophon die Trias von Trompete, Posaune und Klarinette sprengte und rasch zum neuen Sinnbild des Jazz aufstieg. Neben der Urkraft der Tenorsaxophone richtete das Spiel der ersten Alt-Solisten freilich wenig aus. Johnny Hodges, Benny Carter und Willie Smith - sie schienen bloße Verkörperungen unterschiedlicher Spielarten von Big-Band-Musik zu sein. Hodges: der Naive, jumping und sweet. Carter: Prädikat "sophisticated", und Smith: der wilde Mann des Hot-Spiels. Selbst die besten Satzführer - von Russell Procope bis Jerry Dodgion - hatten es immer schwer, als Solisten Anerkennung zu finden.

Doch ausgerechnet ein Altsaxophonist sollte den Jazz radikal verändern, indem er den "modernen" Bebop schuf. Charlie Parker aus Kansas City, der Komet am Saxophon-Himmel, revolutionierte bei seinem viel zu kurzen Rendezvous mit der Erde alle liebgewonnenen Vorstellungen von Jazz-Improvisation. Mit einem zugleich weichen wie kraftvollen Ton raste er in Achtelnotenketten über Harmonien, denen er durch Hinzunahme der 7., 9., 11. Stufe alle Dreiklangs-Naivität nahm. Er erklomm neue Gipfel der Abstraktion ("Koko"), schöpfte in den Tiefen des Blues ("Parker's Mood") und verstand es sogar, beides zu verbinden ("Au Privave", "Billie's Bounce", "Blues For Alice"). "Yardbird" Parker schickte Adolphe Sax' Instrument auf neue Umlaufbahnen.

Nach Parker gehen die Tenor- und Altstilistik endgültig getrennte Wege. Obwohl "Bird" bei seinen seltenen Tenor-Aufnahmen nicht anders phrasierte als auf dem Alt, folgen die Tenoristen kaum seinem Vorbild. Für die Altspieler dagegen führt kein Weg mehr an Parker vorbei. Hervorragende Improvisatoren wie Sonny Stitt, Sonny Criss, Lou Donaldson, Frank Morgan oder Charles McPherson kämpfen ihr Leben lang gegen das Vorurteil, nur Parker-Imitatoren zu sein. Stitt, der seinen Stil unabhängig von Parker entwickelt hatte, wich deshalb immer öfter aufs Tenor aus.

Die Altsaxophonisten des Cool Jazz hatten es leichter, die eigene Identität zu behaupten. Sie lernten von Parker die Technik, die Abstraktion, die Kontur - und verpflanzten sie in eine andere Ausdruckswelt, einen anderen Aggregatzustand. Lee Konitz, Paul Desmond und Art Pepper stehen für drei unterschiedliche Richtungen kühlen Saxophonspiels. Konitz übersetzte die intellektuelle Strenge Tristanos in herbe Linearität. Desmond erfüllte die rhythmischen Experimente Brubecks mit sanftem Leben. Pepper gab dem kühlen Rückzug eine expressive, tragische Geste.

Mit dem Siegeszug des Hardbop geriet das Altsaxophon erneut in Bedrängnis. Wiederum war der kräftige, männliche Klang der Tenoristen gefragt, ihre raunzenden, schmutzigen Zwischentöne. Stanley Turrentine, Joe Henderson, Hank Mobley, Sonny Rollins, John Coltrane, Johnny Griffin und Clifford Jordan gaben den Ton an - "funky" und "preachy". Nur einer hielt da mit dem Alt dagegen: Cannonball Adderley, der drei Monate nach Parkers Tod in New York auftauchte, um alle Saxophonisten in Grund und Boden zu spielen. Ohne Parkers Sprache zu verlieren, schaffte er den Sprung in den populären Soul-Bop und ging auf diesem Weg weiter bis in den elektrischen Funk der 70er Jahre. Seine Nebenleute schrieben dem gewichtigen Altsaxophonisten die Hits: "Mercy Mercy Mercy", "Jive Samba", "Work Song".

Auf ganz andere Weise verwaltete Ornette Coleman das Erbe Parkers, als dessen Vollender er sich verstand. Schon fünf Jahre nach "Birds" Tod war Ornettes Schlagwort "Free Jazz" in aller Munde. Der von der Third-Stream-Avantgarde Gehätschelte stieß mit hartem, oft metallenem Klang seine scheinbar naiven Themen aus sich heraus, Mischungen aus Bebop und Kinderlied. Dabei rüttelte er an den Grundfesten des Jazz-Glaubens, Chorusform und Harmoniegerüst, und ersetzte sie durch Gruppendynamik und tonale Zentren. Dieses Rezept erwies sich als stilistisch enorm wandlungsfähig: Auch im "harmolodischen" Free Funk ist Colemans Altsaxophon nicht arbeitslos geworden.

Sein zeitweiliger Weggefährte in heißen Free-Jazz-Tagen, Eric Dolphy, fand zu einer eigenen Version von Selbstbefreiung. Als einer der wenigen schwarzen Musiker, die aus dem Westcoast-Jazz hervorgingen, blieb Dolphy bis zu seinem Tod (1964) dem Harmoniedenken des Bebop verpflichtet - und der Phrasierung Charlie Parkers. Mit Baßklarinette und Flöte (auf denen er Pionierarbeit leistete) und seinem Hauptinstrument Altsaxophon dachte er "Birds" Akkordauffassung bis ins Chromatische weiter. Noch der "falscheste" Ton seiner virtuosen Läufe ist letztlich harmonisch gemeint.

Außer Coleman und Dolphy hat kein Altsaxophonist die Musik der 60er Jahre prägen können. Mit Coltrane, Shorter, Shepp und Ayler blieb das Tenorsaxophon wieder einmal Sieger. Alt-Solisten wie Phil Woods, Jackie McLean und Charlie Mariano - alle drei von Parker durchdrungen - haben vorübergehend Elemente des freien Jazz aufgesogen; am elektrischen Jazz jedoch scheiterte ihr Wille zur Integration. Mit der neuen Spiritualität der 70er Jahre meldet sich zudem ein neuer Konkurrent zu Wort, von Coltrane der Mottenkiste entrissen: das Sopransaxophon. Es wird zum obligatorischen Zweitinstrument der Tenoristen und zeigt im Modefach Esoterik deutlich mehr Talent als das kühle Alt, das erst in der Soap-Fusion wieder Jobs bekommt. Mit einem besonderen Typ von Tonbildung - hart, leblos, konfektioniert - findet das Altsaxophon sogar Zugang zur Popmusik. David Sanborn und Kenny G. können schon gar nicht mehr anders blasen, und selbst Kenny Garrett und Greg Osby halten diesen Plexiglas-Sound mittlerweile für "schick".

Eine Wiederentdeckung des Altsaxophons ließ sich früh bei Art Blakeys "Jazz Messengers" feststellen, den Traditionshütern des Bop. Dort tauchten sie erstmals auf, die neuartigen Mainstream-Virtuosen der 80er Jahre: Bobby Watson und Donald Harrison. Ein anderer erschloß sich bald sein eigenes Terrain: Steve Coleman, der Erfinder der raffiniertesten Tanzmusik aller Zeiten. Nach allem, was er uns in den Bands von Doug Hammond und Dave Holland versprochen hat, bleibt nur zu hoffen, daß er für die akustische Musik nicht ganz verloren ist.

Die Rolle des Neuerers scheint bei den Altsaxophonisten Tradition zu haben. Anthony Braxton, der nebenbei noch jede Menge anderer Saxophone, Klarinetten und Flöten bläst, hat sich vom enfant terrible des späten Free Jazz zu einem der großen Klangauguren an der Grenze zur E-Musik entwickelt. Wer weiß, ob er nicht bald als Klassiker des 20. Jahrhunderts gilt. Auch eine Reihe weiterer Avantgardisten haben im Altsaxophon ihre Inspiration und Basis: Henry Threadgill, Julius Hemphill, Oliver Lake, Arthur Blythe.

Selbst unter den Neutönern weißer Hautfarbe ist der Typus "experimenteller Altsaxophonist" auf dem Vormarsch. Szene-Guru John Zorn setzt sein Instrument in den unterschiedlichsten Gesten ein - als blökendes und kreischendes Thrash-Horn, aber auch boppend in der Manier Jackie McLeans. In Zorns Umkreis arbeiten Musiker wie Tim Berne und Marty Ehrlich an eigenwilligen Spielkonzepten, die nicht nur dem Altsaxophon Neuland erschließen. Mögen die Murrays und Lovanos noch so erfolgreich in der großen Tenor-Tradition stöbern -: "Alto", der kleinere Bruder, ist noch immer mit seinem Experimentierkasten beschäftigt.

© 1993, 2004 Hans-Jürgen Schaal


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