Ein stiller Exzentriker, genialer Improvisator, humoristischer Schriftsteller, Komponist eines Welt-Hits: Dem Altsaxofonisten Paul Desmond standen alle Möglichkeiten offen. Doch der skurrile Einzelgänger zog es vor, ein Sideman zu bleiben im berühmten Dave-Brubeck-Quartett, siebzehn Jahre lang. Es war der einzige Ort auf der Welt, wo er hingehörte.
Paul Desmond
Sideman im goldenen Käfig
(2002)
Von Hans-Jürgen Schaal
Viele hassten das Dave-Brubeck-Quartett, vor allem Jazzkritiker. Die mochten daher auch Paul Desmond nicht und wählten ihn nur ein einziges Mal zum Saxofonisten des Jahres. Viele andere aber liebten das Dave-Brubeck-Quartett, vor allem das breite Publikum. Die mochten daher auch Paul Desmond und wählten ihn regelmäßig zum weltbesten Saxofonisten. Wieder andere mochten Brubeck, fanden Desmond aber zu lasch und wünschten sich, er möge endlich einmal explodieren und richtig heiß loslegen. Andere mochten Brubeck nicht, fanden Desmond aber großartig und wünschten ihm eine andere Band, in der er sein eigener Herr wäre. Nur wenige verstanden, dass das Brubeck-Quartett das Beste war, was Desmond passieren konnte, und dass er genau hier seine Top-Form erreichte.
Eigentlich hieß er Paul Emil Breitenfeld: Den Künstlernamen Desmond hatte er sich angeblich aus einem Telefonbuch herausgesucht. Von seinem deutschstämmigen Vater erbte Paul die Musikalität, von seiner irischstämmigen Mutter die literarische Ader. Als sich bei der Mutter eine psychische Krankheit manifestierte, kam der fünfjährige Paul in die Obhut von Verwandten an der Ostküste, endlose Meilen entfernt vom heimischen Kalifornien; erst sieben Jahre später durfte das Einzelkind zurück zu seinen Eltern. Dieser dramatische Entzug von Liebe und Nähe wurde zu Paul Desmonds persönlichem Trauma. Wenn er von seiner Jugend sprach, beschrieb er das Kind Paul als heimatloses, bewusstloses "Gemüse auf Beinen". Seine chronische Willensschwäche und Unsicherheit überspielte er später mit bissiger, witziger Selbstironie. Dabei nahm sein übergroßes Bedürfnis nach Liebe bizarre Formen an: Er schwärmte für jede schöne Frau, auch für die Gattinnen seiner Freunde, und umgab sich ständig mit Top-Models, fand aber nie zu einer dauerhaften Beziehung. Immer wieder kam das Gerücht auf, er sei homosexuell. Sein Freund Gene Lees, der Jazzkritiker, nannte ihn "den einsamsten Menschen, den ich kenne".
Mit zwölf Jahren schien Paul eine Heimat zu finden: Er lernte Klarinette und Klavier und konnte bald ganze Chorusse von Artie Shaw perfekt nachspielen. Mit 18 Jahren wechselte er zum Altsaxofon, inspiriert von Swing-Größen wie Benny Carter und Johnny Hodges. Kaum ein Saxofonist seiner Generation konnte sich in den 40er-Jahren dem Einfluss Charlie Parkers entziehen, doch Desmond gelang es irgendwie. Er fürchtete um seine eigenständige musikalische Entwicklung und versuchte ganz bewusst, die "Parker-Falle" weiträumig zu umgehen. Erst später begann er den Bebop-Pionier zu studieren und wurde sein größter Fan. Doch da war Desmonds Persönlichkeit als Altsaxofonist bereits manifest und hatte eine der extremen Stilistiken der Jazzgeschichte hervorgebracht. In Desmonds eigenen Worten: "Ich war schon aus der Mode, bevor man mich überhaupt kannte." Desmonds trockene Kommentare sind bis heute sprichwörtlich in Jazzer-Kreisen.
Besonders im Ton unterscheidet sich sein Spiel von allem Gewohnten. Er wirkt sphärisch und körperlos, bewegt sich fast nur in der oberen Oktave, ist kaum eine Stimme zu nennen, bleibt schüchtern und zärtlich, von flötenleichter Eleganz. Selbst ein Stan Getz oder Lee Konitz sind dagegen robuste Kraftmeier. Im Vergleich mit der Heftigkeit des schwarzen Hardbop und Freejazz sah sich Desmond gerne als den "wahren Underground". Durch die dezidierte Coolness seiner Phrasierung wirkt sein Spiel zudem stets langsamer, als es ist: Die Noten scheinen sich nur zögernd zu bilden, ordnen sich in melancholischer Ruhe zu fast endlosen Ketten. Er mochte keine schnellen Tempi und keine übereifrigen Schlagzeuger, sondern entwickelte seine Soli gemächlich wie philosophische Gedankengebäude. Dazu passte sein Äußeres: Groß und dünn, mit hoher Stirn und dickrandiger Brille, erinnerte Desmond eher an einen Mathematiklehrer oder Finanzdirektor als an einen Jazzmusiker. Mit verschmitztestem Grinsen nannte er sich selbst "der Welt langsamsten Altspieler" und wusste sich dabei konkurrenzlos: "Alle anderen zielen mit Höchstgeschwindigkeit in die entgegengesetzte Richtung, daher wird meine kleine Ecke im Garten so bald nicht niedergetrampelt." Auf seine eigenwillige Ästhetik angesprochen, hatte Desmond manche witzige Replik parat. Am häufigsten zitiert: Es sei sein Ehrgeiz, zu klingen "wie ein trockener Martini". Eddie Condon, das alte Lästermaul, wollte daraufhin aus Desmonds Saxofon eine Alkoholikerin lallen hören.
Desmonds Zurückhaltung in Ton und Tempo konnte leicht darüber hinwegtäuschen, wie substanziell und ökonomisch seine Soli waren. Oft schienen diese spontanen Linien besser konstruiert als die Kompositionen, über die improvisiert wurde. Seine nicht enden wollenden Tongirlanden sind delikate, abstrakte Gedankenmusik voll singender Melodie. Der Altsaxofonist war ein Meister darin, Motive immer weiter zu sequenzieren und dabei in den Fluss seiner Improvisation ganze Scharen musikalischer Zitate organisch einzufügen. Mit einem Jazz-Zitat konnte er einen Freund im Publikum grüßen, einen Vorfall im Club kommentieren oder Zwiesprache mit seinen Mitspielern halten. Er baute "Quotes" auch auf Hörerwunsch ins Solo ein oder tauschte improvisierend mit Mitspielern Telefonnummern aus, indem er Ziffern in Tonhöhen übersetzte. Vorzugsweise waren das natürlich die Telefonnummern schöner Frauen, die gerade den Club betraten. Wie er spielte, so sprach er auch: gemächlich, sanft und bedeutsam, aber mit einer enormen Geistesgegenwart. Seine Witze und Pointen kamen so schnell wie die Zitate in den Soli. Seine Wortspiele – möglichst ausufernd und zwecklos – konstruierte er so hingebungsvoll wie seine Saxofonlinien.
Den Pianisten Dave Brubeck lernte Desmond 1943 kennen. Der Saxofonist Dave Van Kriedt brachte die beiden zusammen: Alle drei waren damals bei der U.S. Army und trafen sich 1949 wieder in Dave Brubecks Oktett. Dieses Ensemble war eine der Pionier-Formationen des Cool Jazz, bestand zur Hälfte aus Schülern von Darius Milhaud, experimentierte mit kontrapunktischen, harmonischen und rhythmischen Ideen, die im Jazz neuartig waren, konnte damit aber ökonomisch nicht überleben. Daher forschten Desmond und Brubeck in einer kleineren Gruppe weiter, und hier zeigte sich rasch, dass der Saxofonist nicht zum Bandleader taugte. Das Organisatorische und Finanzielle überforderte ihn: "Was Geld angeht, dürfte man mich nicht frei herumlaufen lassen." Desmond war kein Freund von Disziplin und Geradlinigkeit, er liebte Bücher, den Scotch und seine Zigaretten, übte nie auf seinem Instrument, kam immer zu spät, hauste in einem Chaos und schlief gewöhnlich bis nachmittags um drei. "Er könnte ein Komponist sein", sagte Brubeck einmal über ihn, "ein Textdichter, ein Schriftsteller, aber er scheint nicht den Ehrgeiz dafür zu haben." Desmond wurde zum exemplarischen Sideman. Der geschäftstüchtigere Brubeck übernahm das Kommando.
Für Brubeck war Desmond "der beste Saxofonist der Welt". Umgekehrt hielt Desmond den harmonisch raffinierten Brubeck für den denkbar besten Begleiter: "Du kannst die schlechtestmögliche Note zu einem Akkord spielen und er lässt es klingen, als wäre es die einzig richtige." Der spontane Kontrapunkt zwischen beiden wurde das Erkennungszeichen des frühen Brubeck-Quartetts, der extreme Gegensatz zwischen ihnen zum eigentlichen Spannungsmoment: hier Brubecks Klavier, schwer, eckig, als müsste es Schneisen durch den Dschungel schlagen, dort Desmonds Saxofon, schwerelos, licht, als flatterten ihm die Melodien wie Schmetterlinge zu. Ähnlich wie Milt Jackson im Modern Jazz Quartet war Desmond im Brubeck-Quartett derjenige, der frei ausschweifen und die Musik beseelen durfte.
1954 nahm der Branchen-Riese Columbia die Brubeck-Combo unter Vertrag und half mit, sie zur erfolgreichsten Jazzband aller Zeiten zu machen. Zwei Jahre später formierte sich mit dem Zugang von Eugene Wright (Bass) und Joe Morello (Drums) das "klassische" Brubeck-Quartett. Desmond hatte anfangs Probleme mit dem neuen Drummer, der ihm immer ein wenig zu laut, zu aktiv und zu effekthascherisch war, eine "Maria Callas der Drums" (Desmond). Brubeck dagegen hoffte, dass Morello den Saxofonisten aus der Reserve locken und zu besonderen Höhenflügen anstacheln würde. Doch Desmond änderte sich nicht: Er blieb der kauzige "George Bernard Shaw des Jazz", ein absonderliches Puzzlestück, das nur an einem Ort der Welt seinen Platz hatte: im Dave-Brubeck-Quartett. Diese Band war die Familie, die Desmond nie besaß, und er blieb ihr treu – siebzehn Jahre lang.
Die Unstimmigkeiten mit Morello endeten 1959 in Wohlgefallen. Damals galten die Brubeck-Leute längst als Spezialisten für den im Jazz ungewohnten 3/4-Takt und begannen, zum Spaß auch in anderen ungeraden Metren zu jammen. Eines Tages kam Paul Desmond mit einer kleinen Melodie im 5/4-Takt an, die angeblich von den Klängen eines Spielautomaten inspiriert war. Die Band bastelte ein wenig daran herum, Desmond erfand ein zweites Motiv, machte die kleine Automaten-Melodie mit den sechs Vorzeichen-Bs zur Bridge, und fertig war ein Stück namens "Take Five". Keiner erwartete damals, dass ein 5/4-Takt swingen könnte, und ein früher Kritiker empfand den Rhythmus als "chinesische Wasserfolter". Das Publikum dachte anders: Ausgerechnet dieses Stück wurde zum sprichwörtlichen Jazz-Hit, war die erste Jazz-Instrumental-Single, die sich mehr als eine Million Mal verkaufte, und machte das Album "Time Out" zu einer der populärsten Jazzplatten. Desmonds Hit-Melodie und Joe Morellos populistische Solo-Einlage versöhnten sich auf immer mit einem wissenden Lächeln. Der Saxofonist meinte später, er habe es dem Spielautomaten nur ordentlich heimzahlen wollen, denn der hätte ihm auch viel Geld abgeknöpft.
1967 löste sich das Brubeck-Quartett auf – nicht zuletzt deshalb, weil Paul Desmond endlich seine humoristische Autobiografie schreiben wollte. Das Gerücht, er sei ein durch die Musik verhinderter Schriftsteller, hielt sich hartnäckig. "Ich habe diese große Reputation als Autor", kommentierte Desmond, "vor allem deshalb, weil ich nie irgendwas geschrieben habe." Also trat der berühmteste Sideman der Welt, dieser seltsame, komplizierte, intellektuelle Mensch Paul Desmond, mit 42 Jahren in den Halb-Ruhestand, den er vorwiegend mit einem Scotch in der Hand in kleinen, stillen New Yorker Jazz- und Literatenclubs verbrachte. Ein Nachtmensch, der sich im natürlichen Sonnenlicht unwohl fühlte. Aus seinem Buch ist wie aus seiner Bandleader-Karriere natürlich nie etwas geworden; nach acht Jahren gab der Verleger, der einen kräftigen Vorschuss gezahlt hatte, die Hoffnung auf. Dabei war Desmond zweifellos ein genialer Schreiber, wie einige seiner hoch komischen Texte und Liner Notes beweisen. Er stand im Ruf, ständig in der Encyclopaedia Britannica zu blättern, war ein rasanter Leser, liebte Theater, Ballett und ausländische Filme und spielte leidenschaftlich Scrabble und Schach. Übrigens hatte er ein Faible für miserable Bücher, die er stapelweise kaufte und an Freunde verschenkte. Seinen bizarren Humor verlor er nie.
Auch Unmengen Scotch konnten "einer der großen Lebern unserer Zeit" (Desmond) nichts anhaben. Es waren am Ende die drei Päckchen Zigaretten am Tag, die die 52-jährige Saxofonistenlunge besiegten. Sein Horn vermachte der Einzelgänger Desmond Brubecks Sohn Michael, sein Klavier dem intimen Jazzclub Bradley’s nahe der New York University, und die Komponisten-Tantiemen für "Take Five" gehen nach seinem Willen seit seinem Tod 1977 ans Rote Kreuz. Sie sollen sich inzwischen auf eine siebenstellige Dollarsumme belaufen.
© 2002, 2005 Hans-Jürgen Schaal
© 2002 Hans-Jürgen Schaal |