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Soll Faust der Repräsentant der deutschen Seele sein, so müsste er musikalisch sein.

- Thomas Mann, Deutschland und die Deutschen, 1945

Als Thomas Mann seinen Altersroman "Doktor Faustus" schrieb, ging Deutschland gerade seiner Niederlage im II. Weltkrieg entgegen. Mann benutzte im Roman die Faust-Figur, den "deutschesten" aller Mythen, er benutzte die Musik, die "deutscheste" aller Künste, er erfand einen musikalischen Faustus und trieb ihn zum Äußersten, in die Katastrophe: So versetzte er auch der deutschen Mythologie den Todesstoß. Für diesen Gewaltakt benötigte Thomas Mann nicht eine ganze Bibliothek - zur Musik, Geschichte, Medizin, Theologie, Politik und mehr. Er schöpfte auch aus einem vielfältigen gesellschaftlichen Leben: Musiker wie Igor Strawinsky, Hanns Eisler, Otto Klemperer, Ernst Krenek und Bruno Walter gehörten zu seinen Gesprächspartnern im amerikanischen Exil. Eine besondere Bedeutung für Manns Arbeit hatten indes Arnold Schönberg und Theodor W. Adorno, der Erfinder der Zwölftonmusik und sein ungeliebter Apologet. Von den Komplikationen dieser kreativen Dreiecks-Beziehung handelt der folgende Beitrag.

Thomas Manns Musikerroman "Doktor Faustus"
Der Einfluss von Schönberg und Adorno
(1998)

Von Hans-Jürgen Schaal

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Leverkühn, Adrian, dt. Komponist, geb. 6.6.1885 nahe Weißenfels (Thüringen) als zweiter Sohn des Landwirts Jonathan L. und seiner Frau Elsbeth. Besuchte ab 1895 das Bonifatius-Gymnasium der ehem. Bistumsstadt Kaisersaschern a.d. Saale (Sachsen). Erste musikalische Anregungen durch das Musikalienlager seines Onkels Nikolaus L. in Kaisersaschern. Klavier- und Kompositions-Unterricht beim Domorganisten Wendell Kretzschmar. Studium der evangelischen Theologie in Halle a.d. Saale und Leipzig. Ab 1905 widmet sich L. unter Anleitung Kretzschmars ganz der Komposition. Nach Jugend- und Übungswerken (u.a. Chorwerke, eine Sinfonie, Konzert für Streichorchester, Holzbläser-Quartett, Fuge mit 3 Themen für Streichquintett und Klavier, Cello-Sonate in a-Moll, Klaviermusik) entsteht in Leipzig die sinfonische Fantasie Meerleuchten (1908), eine Parodie des Impressionismus (2. Aufführung 1910 in Basel unter Ernest Ansermet). 1910 Umzug nach München, 1913 nach Pfeiffering bei Waldshut. 1930 Beginn geistiger Umnachtung. L. stirbt 1940 auf dem elterlichen Hof. Wichtige Werke: Brentano-Gesänge (1909) für Stimmen und Orchester (Uraufführung 1922 in Zürich unter Volkmar Andreae); Love's Labour's Lost (1913), Komische Oper (Uraufführung 1914 in Lübeck unter Wendell Kretzschmar); Gesta Romanorum (1914), Spieloper; Die Wunder des Alls (1914), Orchester-Fantasie; Apocalipsis cum figuris (1918), Oratorium; Violinkonzert (1923); Ensemblemusik, Streichquartett, Streichtrio (alle 1927); Dr. Fausti Weheklag (1930), Kantate.

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So könnte der Eintrag im Musiklexikon lauten. Doch der deutsche Komponist Adrian Leverkühn ist Fiktion. Thomas Mann erfand ihn als Helden seines Romans "Doktor Faustus", an dem er zwischen 1943 und 1947 im kalifornischen Exil arbeitete. Leverkühn ist freilich keine gewöhnliche Romanfigur. Die fiktive Lebens-Beschreibung war für Thomas Mann Verarbeitung und Bewältigung der deutschen Gegenwart. Sein Held Leverkühn steht für die Situation der Musik im 20. Jahrhundert, für den Weg Deutschlands in den Nationalsozialismus, für die im Mittelalter wurzelnde künstlerische und gesellschaftliche Problematik Deutschlands, für die Kulturkrise der ganzen Epoche. Als vage Vorbilder für Leverkühns fiktive Werke dienten Kompositionen von Debussy, Holst, Strawinsky, Alban Berg und Schönberg. In Leverkühns individuellem Schicksal montierte Thomas Mann Elemente aus den Biographien von Berlioz, Tschaikowsky und Hugo Wolf. Vor allem aber sind es vier Gestalten der realen Geistesgeschichte, die schemenhaft hinter der Figur Adrian Leverkühns erkennbar werden: Thomas Mann, Friedrich Nietzsche, Arnold Schönberg und Theodor W. Adorno.

Da ist einmal der Autor selbst, Thomas Mann (1875-1955), der viel von seiner innigen Beziehung zu Leverkühn sprach und schrieb, aber es gern bei geheimnisvollen Andeutungen beließ. Einmal nennt er den Roman "ein Lebensbuch von fast sträflicher Schonungslosigkeit, eine sonderbare Art von übertragener Autobiographie, ein Werk, das mich mehr gekostet und tiefer an mir gezehrt hat, als jedes frühere". Denn zweifellos spricht Mann im Roman oft von sich selbst: Leverkühns ironisches Verhältnis zur bürgerlichen Kunsttradition oder seine latente homoerotische Neigung sind verschlüsselte Selbstbekenntnisse des Autors, der zugleich auch dem fiktiven Biographen Serenus Zeitblom einiges von seiner eigenen Person mitgegeben hat. Manches Detail aus Manns Biographie klingt im Roman an, so seine Ankunft im Münchner Künstlermilieu vor dem I. Weltkrieg, sein erster Aufenthalt in Italien, die Selbstmorde seiner beiden Schwestern Carla und Julia, das beglückende Wesen seines Enkels Frido und gewiß vieles, das selbst die Literaturwissenschaft nicht entdecken wird. Manns Familie, die an der Entstehung des Romans regen Anteil nahm, bat den Autor mehrfach, seinen Helden doch zu beschreiben: "Wie leicht wäre das gewesen!", meinte Thomas Mann und dachte wohl an ein Selbstbildnis. Dieses jedoch verbot er sich, da eine solche Beschreibung die "Symbolwürde" und "Repräsentanz" der Figur bedroht hätte; Leverkühn und Zeitblom hätten, so schreibt er, zu viel zu verbergen, "nämlich das Geheimnis ihrer Identität".

Zum zweiten ist der Roman "Doktor Faustus" auch ein Roman über Friedrich Nietzsche (1844-1900), "dessen Name" (so Thomas Mann) "wohlweislich in dem ganzen Buche nicht erscheint, eben weil der euphorische Musiker an seine Stelle gesetzt ist, so daß es ihn nun nicht mehr geben darf". Bereits Leverkühns fiktiver Geburtsort, der Buchelhof bei Weißenfels, verweist auf Nietzsches Herkunft aus dem Ort Röcken (etwa 12 km von Weißenfels entfernt); Leverkühns Krankheitsgeschichte - die Ansteckung mit Syphilis, der Zusammenbruch, ein Jahrzehnt Umnachtung, der Tod mit 55 Jahren - folgt bis in Details hinein der Biographie Nietzsches. Zitate aus Nietzsches Briefen und Werken sind fast unmerklich in den Roman montiert, sein schwieriges Verhältnis zu Frauen kehrt bei der Hauptfigur wieder, sein Bordell-Erlebnis in Leipzig wird zu demjenigen Leverkühns gemacht. Insbesondere nimmt Leverkühn im Roman genau die geistig-politische Stellung ein, die der späte Thomas Mann auch Nietzsche zuwies: als Kritiker und Registrator einer heraufdämmernden totalitären und anti-humanen Epoche und zugleich als einer, der dieser Epoche nicht entkommt. In seiner großen Rede von 1947, "Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung", dem essayistischen "Nachspiel" zum Roman, bezeichnet Thomas Mann den Philosophen als "sensibelstes Ausdrucks- und Registrierinstrument" des heraufziehenden Faschismus, dessen Produkt er eher sei als dessen Prophet. Das könnte auch auf Leverkühn gemünzt sein, der - so Thomas Manns Sohn Michael - gleichzeitig "für und gegen seinen politischen Hintergrund" steht: Repräsentant und Antipode in einem.

Der Eigentliche: Arnold Schönberg

Als dritte reale Gestalt wird hinter der Romanfigur Adrian Leverkühn der Komponist Arnold Schönberg (1874-1951) erkennbar. Ihm übersandte Thomas Mann im Januar 1948 eines der ersten Exemplare des Romans mit der handschriftlichen Widmung: "Arnold Schönberg, dem Eigentlichen, mit ergebenem Gruss". Denn die Zwölftontechnik, die Schönberg seit 1921 entwickelt, begründet und angewendet hat, hatte Thomas Mann im Roman als die Erfindung seines fiktiven Komponisten Adrian Leverkühn dargestellt. Bei dieser Klitterung der Musikgeschichte begab sich der Autor mit seiner hemmungslosen Montage-Technik auf spiegelglattes Parkett - aus mehreren Gründen. Erstens war Schönberg damit seines geistigen Eigentums beraubt, seine historische Leistung ist aus dem Musikbild des Romans getilgt, er bleibt wie Nietzsche unerwähnt. Zweitens konnte man "Doktor Faustus" als Schlüssel-Roman über Schönberg mißverstehen, was das Buch nicht ist und was einer Verunglimpfung der Person Schönbergs gleichkäme. Drittens stellt der Roman nicht nur die Hauptfigur, sondern auch die Zwölftontechnik in einen geistig-politischen Zusammenhang, der Schönbergs Ansehen schaden konnte. Schönberg war ja bei Erscheinen des Romans noch keine feste Größe der Musikgeschichte, sondern ein bloß geduldeter Exilant und Zeitgenosse in Kalifornien, praktisch ein Nachbar Thomas Manns, und dieser hatte sogar Schönbergs Freundschaft gesucht und von ihm musikalische Ratschläge für den Roman eingeholt.

Kein Wunder, daß das Buch auf Schönberg wie ein gewaltiger Vertrauensbruch wirkte und ein tiefes Zerwürfnis zwischen ihm und Thomas Mann zur Folge hatte. Der Streit zwischen beiden wurde zum Teil in offenen Briefen ausgetragen, und erst nach Fürsprache von Alma Mahler-Werfel war Thomas Mann bereit, den Roman mit einer klärenden Nachschrift zu ergänzen, die auch den inspirierenden Einfluß von Schönbergs "Harmonielehre" erwähnt. Thomas Mann tat es nicht gern: "Es geschieht ein wenig gegen meine Überzeugung", kommentiert er die Nachschrift. Daraus spricht sein Stolz auf die literarische Leistung, die Zwölftontheorie in die Konzeption seines Romans montiert zu haben, aber auch die Einsicht, daß eine Erwähnung Schönbergs in dem vom Roman fingierten Zusammenhang für den Komponisten kränkender sei, als wenn sein Name verschwiegen würde.

Auch Schönberg war mit der Nachschrift nicht zufrieden, sondern witterte darin böse gemeinte Anspielungen. Er verstand Leverkühn als eine "Verkörperung" seiner selbst, fand er doch zudem im 43. Kapitel des Romans sein eigenes Streichtrio, op. 45 insgeheim als ein Werk Leverkühns beschrieben. Mehr noch: Was er selbst, Schönberg, im Gespräch mit Mann darüber geäußert hatte, wurde hier Leverkühn in den Mund gelegt: "Unmöglich, aber dankbar". Als es 1950 endlich zu einer Versöhnung mit Thomas Mann kam, hatte Schönberg die Gräben zwischen den feindlichen Lagern schon so tief gezogen, daß er den Friedensschluß verheimlichte, um seine Freunde nicht vor den Kopf zu stoßen. Begegnet sind sich Mann und Schönberg nicht mehr.

Schönbergs Wiesengrund-Komplex

Noch einen weiteren Grund gab es für Schönbergs Verstimmung, und der hieß Theodor W. Adorno (1903-1969). Der ebenfalls nach Kalifornien emigrierte Soziologe und Komponist war Thomas Manns wichtigster musikalischer Helfer bei der Arbeit am Roman, was Schönberg nicht verborgen blieb. Adorno verstand sich stets als Schüler des Schönberg-Kreises, er verehrte Schönberg als Komponisten einschränkungslos und sah ihn - durch seine souveräne musikalische Freiheit - über alle Einwände erhaben, die man gegen die Theorie der Reihentechnik anbringen mochte. Adorno war es, der Thomas Mann mit der Zwölftontechnik Schönbergs vertraut machte, und Thomas Mann vermerkte verwundert, daß der Meister und sein eloquenter Propagandist "persönlich nicht Umgang" miteinander hatten. Tatsächlich haben Schönberg und Adorno einander bewußt gemieden, und zwar aus persönlichen Gründen wie aus sachlichen Differenzen.

1924 hatte Adorno, noch keine 21 Jahre alt, in Frankfurt am Main die Uraufführung von Alban Bergs drei Bruchstücken aus Wozzeck gehört. Er empfand die Musik als eine Mischung aus Schönberg und Mahler, war voll tiefer Bewunderung und ließ sich durch Hermann Scherchen dem liebenswürdigen, bescheidenen Alban Berg vorstellen. Berg war einverstanden, Adorno in Wien zum Schüler zu nehmen, und sofort nach seiner Promotion Anfang 1925 zog Adorno nach Wien. Die Hoffnung, Teil des Schönberg-Kreises zu werden, schlug jedoch fehl: Ein solcher avantgardistischer Kampf-Zirkel existierte 1925 gar nicht mehr, die großen Schönberg-Skandale lagen bereits mehr als zehn Jahre zurück. Insbesondere aber die Annäherung an das Idol Schönberg gestaltete sich schwierig: Wochenlang beobachtete Adorno den Meister nur aus skeptischer Ferne. Als er Schönberg im April 1925 endlich kennenlernt, ist der Eindruck problematisch: Der 50-Jährige erscheint dem 22-Jährigen als besessen und unheimlich, als gehetzt und unberechenbar; Schönberg, so schien es Adorno, werde von Verfolgungswahn geplagt, er dulde keinen Widerspruch und sei Diskussionen nicht zugänglich. Schönberg seinerseits fand an dem jungen Verehrer auch wenig Gefallen: Er empfand Adorno als aufdringlich, überheblich und besserwisserisch. Noch 1950 schrieb er über Adorno: "Ich habe ihn ja nie leiden können." Kurz: Man war sich auf Anhieb unsympathisch.

Trotz dieser persönlichen Problematik wurde Adorno der wichtigste Streiter für die Schönberg-Richtung, vor allem in der Wiener Musikzeitung "Anbruch". Dort war Adorno bereits 1925 als Chefredakteur im Gespräch und leitete die Redaktion tatsächlich einige Monate lang im Jahr 1929. Unter seiner Regie wurde der "Anbruch" kurzzeitig zum Kampforgan für die radikale Moderne: Adornos materialistisch geschulte Sprache ließ Schönberg als Bastion gegen die Reaktion erscheinen, eine Art Karl Marx der Musik. Schönberg, der von der bürgerlichen Musikkultur heftig angefeindet war, verzweifelt gegen den Ruf des Revolutionärs ankämpfte und sich lieber als Vollender der Tradition sah, reagierte gegen einen solchen Anspruch von links höchst empfindlich. Überhaupt waren Schönberg die theoretischen und soziologischen Überlegungen, die Adorno über Musik und speziell über Schönbergsche Musik anstellte, fremd, unverständlich und widerwärtig. Als Adorno auch noch begann, Schönbergs erfolgreichen Schüler Alban Berg als einen eigenständigen, vom Lehrer emanzipierten Komponisten zu preisen, hatte Schönberg seinen Intimfeind gefunden. Zu der Angst vor der bürgerlichen Hetzpresse kam nun noch ein "Wiesengrund-Komplex" hinzu, wie Adorno es nannte: Wiesengrund war Adornos Vatername, den er später zu "W." abkürzte.

Ausgerechnet dieser von Schönberg gefürchtete Adorno war es also, der Thomas Mann in Sachen Zwölftontechnik musikalisch beraten sollte. Kein Wunder, daß "Doktor Faustus" auf Schönberg wie eine neue, besonders raffinierte und hinterlistige Attacke des "Spitzels" Adorno wirkte, dem doch in Wirklichkeit nichts ferner stand als eine Schmälerung von Schönbergs Bedeutung und Größe. Unter Schönbergs vehementem "Wiesengrund-Komplex" hatte nun also Thomas Mann zu leiden: Schönberg unterstellt ihm 1948 die schlimmsten Absichten und umschreibt sie für die "Saturday Review" dunkel mit "Piraterie" und "Verbrechen". Natürlich vergißt er auch nicht, das im Roman gezeichnete, von Adorno geprägte Bild der Zwölftontechnik zu verhöhnen, spricht von "12-Ton Gulasch" und nennt Leverkühn einen Amateur, der die Zwölftontechnik nur oberflächlich und technisch begreift und "das Wesentliche" nicht weiß. "Alles, was er weiß, ist ihm von Adorno erzählt worden, der nur das Wenige weiß, was ich meinen Schülern zu erzählen vermochte", so der schwerkranke Schönberg kurz vor seinem Tod.

Der Wirkliche Geheime Rat: Theodor W. Adorno

Adorno, ein hervorragender Kenner und Kritiker nicht nur der Musik, sondern auch der Literatur, verehrte den fast 30 Jahre älteren Thomas Mann seit langem und wußte von dessen inniger Beziehung zur Musik. Bereits in seinem Buch "Versuch über Wagner", das 1937/38 in London und New York entstand, hatte Adorno ein längeres Zitat aus Thomas Manns Rede "Leiden und Größe Richard Wagners" zustimmend verwendet. Es war jene Rede, die Mann am 10. Februar 1933, kurz nach Hitlers Machtergreifung, in München hielt und kurz danach auch in der "Neuen Rundschau" publizierte. Sie rief damals einen öffentlichen "Protest der Richard-Wagner-Stadt München" hervor, der von Richard Strauss, Hans Pfitzner, Hans Knappertsbusch und vielen anderen Musikern unterzeichnet war. Unter Berufung auf "die nationale Erhebung Deutschlands" richtete sich der Protest gegen die "Verunglimpfung" Wagners durch Thomas Mann: "Wir empfinden Wagner als musikalisch-dramatischen Ausdruck tiefsten deutschen Gefühls, das wir nicht durch ästhetisierenden Snobismus beleidigen lassen wollen." Der "Protest" wurde zum Anlaß für Thomas Manns Emigration.

Thomas Mann zog 1940, Adorno 1941 von der amerikanischen Ostküste nach Kalifornien um. Offenbar hatte Adorno von Manns Plan eines Musikerromans gehört und führte sich bei ihm Anfang Juli 1943 ein, indem er ein Buch von Julius Bahle zur Lektüre überbrachte. Schon zwei Wochen später liegt auch eine eigene Schrift Adornos auf Thomas Manns Pult: eine Studie über Arnold Schönberg, die 1940/41 entstand, aber erst 1949 (als erster Teil der "Philosophie der neuen Musik") veröffentlicht werden sollte. Thomas Mann las sie mit Erregung, denn sie schien ihm nur zu gut ins noch vage Konzept seines Romans zu passen. Er entdeckte in Adornos Text "die eigentümlichste Affinität zur Idee meines Werkes" und vermutete gar (vielleicht zu Recht), daß hier Gedanken zu ihm zurückkehrten, die er selbst einmal "in den Wind gesät" hatte. Mehr noch: Entschlossen dazu, einen Musiker-Roman zu schreiben, der das Musikalische so exakt und stichfest wie möglich benennen und ein Lebenswerk so imaginieren sollte, "dass man es hörte, dass man daran glaubte", bedurfte Mann eines musikalischen Ratgebers, eines "wissend mitimaginierenden Instruktors", und den glaubte er in Adorno gefunden zu haben.

Es ist anzunehmen, dass Adorno geschmeichelt war. Und er machte gute Miene, als Thomas Mann begann, hemmungslos aus Adornos Manuskript abzuschreiben. Die Zwölftontheorie, die Leverkühn im 22. Kapitel des Romans entwickelt, folgt bis in den Wortlaut hinein Adornos Schrift. Das Prinzip, "dass kein Ton wiederkehre, ehe die Musik alle andern ergriffen hat; dass keine Note erscheine, die nicht in der Konstruktion des Ganzen ihre motivische Funktion erfüllt", heißt im Roman: "Keiner dürfte wiederkehren, ehe alle anderen erschienen sind. Keiner dürfte auftreten, der nicht in der Gesamtkonstruktion seine motivische Funktion erfüllte." Im Roman ist die von Adorno beschriebene Dialektik der Zwölftontechnik, wonach die Beherrschung des Materials in Mythologie und Zwang umschlägt, in die Form eines Streitgesprächs gebracht, was dem Dialektiker Adorno besonders gut gefiel. In seiner Schrift heißt es: "Es entspricht einer Sehnsucht aus der bürgerlichen Urzeit: was immer klingt, ordnend zu 'erfassen', und das magische Wesen der Musik in menschliche Vernunft aufzulösen." Aus Leverkühns Mund wird daraus "die Erfüllung des uralten Verlangens, was immer klingt, ordnend zu erfassen und das magische Wesen der Musik in menschliche Vernunft aufzulösen."

Auch die Gedanken Adornos über die Krise der Musik am Ende des bürgerlichen Zeitalters griff Thomas Mann dankbar auf und legte sie - im berüchtigten 25. Kapitel des Romans - Leverkühns Teufelsvision in den Mund: "Die prohibitiven Schwierigkeiten des Werks liegen tief in ihm selbst. Die historische Bewegung des Materials hat sich gegen das geschlossene Werk gekehrt." In Sätzen wie diesen ist die Diktion Adornos fast ungetrübt erkennbar. Auch das Beispiel des verminderten Septimakkords aus Beethovens Opus 111 ist mit geringen Änderungen direkt Adornos Schrift entnommen. Übrigens ändert Leverkühns Teufel bei diesen Ausführungen zur Musik sein Aussehen: Er hat "einen weißen Kragen um und einen Schleifenschlips, auf der gebogenen Nase eine Brille mit Hornrahmen, hinter dem feucht-dunkle, etwas gerötete Augen schimmern, - eine Mischung von Schärfe und Weichheit das Gesicht". Ganz klar: Der Teufel zeigt sich als "ein Intelligenzler, der über Kunst, über Musik, für die gemeinen Zeitungen schreibt, ein Theoretiker und Kritiker, der selbst komponiert, soweit eben das Denken es ihm erlaubt. Weiche, magere Hände dazu, die mit Gesten von feinem Ungeschick seine Rede begleiten". Adorno wird sich ohne Mühe in dieser Beschreibung erkannt haben.

Diskussionen bei Fruchtlikör

Im Herbst 1943 las Mann seinem Berater das gerade im Entstehen befindliche 8. Kapitel des Romans vor. Doch einige Wochen später, nach einem Abend, an dem Adorno Beethovens Klaviersonate op. 111 gespielt und erläutert hatte, arbeitete Mann das Kapitel drei Tage lang gründlich um - und legte dabei Adornos kleinen Vortrag zu Opus 111 der Romanfigur Kretzschmar in den Mund. Von dieser heißt es: "Und dann setzte er sich an das Pianino und spielte uns aus dem Kopf die ganze Komposition, den ersten und den ungeheueren zweiten Satz in der Weise vor, daß er seine Kommentare beständig in das eigene Spiel hineinrief und, um uns auf die Führung recht aufmerksam zu machen, zwischendruch begeisterungsvoll-demonstrativ mitsang, was alles zusammen einen teilweise hinreißenden, teilweise komischen und von dem kleinen Auditorium wiederholt auch mit heiterkeit aufgenommenen Spektakel ergab." Wie Adorno auf dieses (wohl überzeichnete) Porträt reagierte, ist nicht bekannt. Als Dank (oder Entschuldigung) umschrieb Thomas Mann das Arietta-Thema des 2. Satzes im Roman mit den Silben "Wie-sen-grund".

Adorno lieferte Thomas Mann fortan auch schriftlich die Stichwörter, brachte Bücher zu Alban Berg, Kierkegaard oder Shakespeare und war natürlich für jede Diskussion und Probelesung zu haben. Im Dezember 1945 legte Mann seinem "Wirklichen Geheimen Rat" (wie er Adorno nannte) alles bisher am Roman Geschriebene in Abschrift vor und bat damit um Erlaubnis für die "bedenklich-unbedenklichen Griffe in seine Musik-Philosophie". Hier spätestens erkannte Adorno, wie weit er schon in das Projekt involviert war, und ließ sich für die imaginierende Detailarbeit an Leverkühns erstem Hauptwerk gewinnen, der "Apocalipsis cum figuris". Der Ideenaustausch zog sich - mit Notizbuch und Fruchtlikör - über Wochen hin. Im Sommer 1946 schaltete sich Adorno - nun schon mit Nachdruck - in die Arbeit am Roman ein, als es um die "Komposition" des Violinkonzerts ging: Möglicherweise hatte er den Eindruck, daß er, um seinen musikphilosophischen Input zu retten, Leverkühns Werk dem Autor nicht allein überlassen konnte.

Als es im Dezember 1946 an Leverkühns letztes Werk ging, die Kantate "Dr. Fausti Weheklag", war Adorno noch einmal gefordert. Dieses Mal imaginierte er nicht nur die Musik, sondern setzte sich auch, wie Thomas Mann zugibt, "auf dem Gebiet der Sprache und ihrer Nuancen" durch. Adorno hatte sich, wie er selbst schreibt, "Leverkühns Kompositionen viel zu genau ausgedacht, als daß ich in der Diskussion viel Rücksicht genommen hätte." Der Gedanke, Leverkühns letztes Werk "widerrufe" Beethovens Neunte, besaß für den Philosophen Adorno besondere Bedeutung. Seine "Philosophie der neuen Musik", deren Gedanken sich durch den ganzen Roman ziehen, verstand er als Exkurs zur "Dialektik der Aufklärung", jenem pessimistischen Hauptwerk der Kritischen Theorie, das er (zusammen mit Max Horkheimer) in denselben Jahren schrieb, in denen Thomas Mann am "Doktor Faustus" arbeitete. Exkurs deshalb, weil Adorno auch in der Zwölftontheorie eben jene "Dialektik der Aufklärung" erkannte, die die Naturbeherrschung in Systemzwang umschlagen läßt. Adornos philosophische Konsequenz hieß: Utopie in der Negation, und nicht anders wollte er Leverkühns Werk verstanden wissen, an dem er so tatkräftig "mitkomponiert" hatte: als Flaschenpost einer nicht sagbaren Humanität jenseits der Inhumanität. So begann Leverkühn in Geist und Werk zunehmend Adorno zu ähneln.

Thomas Manns erste Fassung des 46. Kapitels empfand Adorno als "zu positiv, zu ungebrochen theologisch", wie er es später nannte. Thomas Mann bestätigt das: "Ich war zu optimistisch, zu gutmütig und direkt gewesen, hatte zu viel Licht angezündet, den Trost zu dick aufgetragen." Thomas Mann änderte also und schrieb verwinkelt: "Aber wie, wenn der künstlerischen Paradoxie, daß aus der totalen Konstruktion sich der Ausdruck - der Ausdruck der Klage - gebiert, das religiöse Paradoxon entspräche, daß aus tiefster Heillosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung keimte? Es wäre die Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit, die Transzendenz der Verzweiflung". Adorno war ergriffen, und die Zwölftonmusik war - als Ausdruck der Klage - salviert.

Nichts als Mißverständnisse

Die Kritiker sahen das übrigens anders. Denn Mann und Adorno hatten ihre Absicht, Leverkühns Musik "dem Vorwurf des blutigen Barbarismus sowohl wie dem des blutlosen Intellektualismus bloßzustellen", nur zu gut in die Tat umgesetzt und stifteten damit unter den ersten Lesern heillose Verwirrung. Insbesondere das Bild, das von der Zwölftontechnik entworfen wird, wurde in seiner Differenziertheit anfangs kaum begriffen. Stattdessen hat man den Roman gleichermaßen dafür gerügt, daß er die Zwölftontheorie verteidige, wie dafür gelobt, daß er sie ablehne. Unverkennbar wurde der Roman zum Opfer von Vorurteilen gegenüber der Zwölftontechnik, deren bloße Motiv-Funktion im Gefüge eines Stücks fiktionaler Literatur schlicht übersehen wurde (wie das schon Schönberg tat). Als in den 50er Jahren die "Philosophie der neuen Musik" die Runde machte, Adornos Einfluß wuchs und die zeitgenössische Avantgarde der seriellen Musik huldigte, hatte der "Doktor Faustus" wiederum zu leiden. Denn nun projizierten die Kritiker ihre Meinung über Adorno in die Lektüre, und der Roman wurde gleichermaßen dafür gerügt, daß er nur Adornos Gedanken nachbete, wie dafür, daß er sie verfälsche.

Die Kritiker seien entschuldigt, denn die ebenso geniale wie unerschöpfliche "Beziehungsorgie" des Romans (so ein Interpret) ist wahrlich angetan, den Leser zu verwirren. Was hat Thomas Mann nicht alles miteinander verknüpft, um ein umfassendes Bild des gleichzeitig guten wie schlechten Deutschland zu zeichnen: Heine und Hitler, Romantik und Reformation, Nietzsche und Dürer, Musik und Theologie - und immer wieder Wirklichkeit und Fiktion! Kein Wunder, daß fast allen Kritikern und Lesern der grundlegende Widerspruch des Romans entging: der zwischen Thomas Manns romantisch-deutschem und Adornos historisch-dialektischem Musikbild. Manns "Misstrauen" gegen die Musik galt einer spekulativen, verantwortungslosen, todesverliebten Kunst, einer unartikulierten Mentalität, die er als "deutsch" empfand. Adornos Musikphilosophie dagegen sieht den Künstler, der sich dem historischen Stand der musikalischen Entwicklung stellt, als durchaus artikuliertes Sensorium gesellschaftlicher Wahrheit. Nicht zufällig warnte Adorno vor einem zu deutschen Musikbild im Roman und setzte es durch, daß für die Beschreibung der "Apocalipsis cum figuris" internationale Quellen verwendet wurden. Thomas Mann schloss Kompromisse und sah zugleich über Differenzen hinweg: Er verwendete aus Adornos Schrift, was ihm passend schien, den Rest ignorierte er. Dem Roman hat es am Ende nicht geschadet.

© 1998, 2002 Hans-Jürgen Schaal


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