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Am 20. Juni 1998 wäre er 70 Jahre alt geworden: Eric Dolphy (1928-1964), der Frühvollendete, der Frühverstorbene. Mit 30 Jahren betrat er die Szene und war einfach da - unverkennbar, unüberhörbar, kaum wieder wegzudenken. Mehr als ein Jahrzehnt lang hatte er im Verborgenen an seiner Meisterschaft gefeilt, mit den Vögeln um die Wette musiziert, mit Max Roach und Ornette Coleman geplaudert, bevor er wie ein Wirbelwind über den Jazz hereinbrach. Er machte Aufnahmen mit den wichtigsten Musikern seiner Zeit, mit Mingus, Trane, Ornette, Roach, Booker Little, Freddie Hubbard, Woody Shaw, George Russell, Gunther Schuller. Er prägte und veränderte den Jazz und ging nach sechs Jahren wieder von der Bühne - für immer und unter tragischen Umständen. Ein Leben für die Musik, gemacht für Legenden.

You can never capture it again
Über Eric Dolphys musikalisches Erbe
(1998)

Von Hans-Jürgen Schaal

Für die, die ihn kannten, war Dolphy ein Heiliger, ein Hoffnungsträger, ein Symbol für die Zukunft des Jazz. Ihm gelang es, das Erbe des Bebop mit den Ideen der Avantgarde zu versöhnen und den Respekt beider Lager zu gewinnen. Sein Tod raubte dem neuen Jazz die leuchtendste Perspektive. Wie eine Antwort auf diesen schweren Verlust wirkte die viertägige "October Revolution in Jazz" im Herbst 1964: Von da an drehte sich die Avantgarde mehr um Fragen der Provokation und Irritation, auch der Politik und Religiosität. Konstruktive musikalische Konzepte mit Traditionsbezug - im Sinn von Eric Dolphy - spielten keine große Rolle mehr.

Die Lücke, die Dolphy hinterließ, war in der Tat schwer zu füllen, seine Nachfolge kaum anzutreten. Denn Dolphys Synthese aus Alt und Neu hatte etwas Ultimatives: Seine Spieltechnik war nicht zu überbieten, seine Expressivität ging in extreme Bereiche, die Komplexität seiner Kompositionen war beispiellos. Seit Charlie Parker war Dolphy der erste, der die Grenzen des Altsaxophons neu definierte. Die Baßklarinette hat er als Jazz-Instrument eigentlich erst erfunden. Auch sein Spiel auf der Flöte war "eine Klasse für sich", sagt selbst der Ausnahme-Flötist James Newton. Darüber, daß Dolphy nicht nur eines, sondern gleich drei Blasinstrumente so perfekt beherrschte, mag Newton lieber gar nicht nachdenken: "Das wäre für mich zu deprimierend."

Nicht immer waren Dolphys Chorusse hoch inspiriert und tiefsinnig. Immer aber stürzte er sich mit Haut und Haar in die halsbrecherischsten Tempi, entfachte ein Feuer der Expression und strapazierte die Harmonien und Intervalle bis zum Äußersten: Man mußte sich mitreißen lassen oder davonlaufen. Trotz dieser Adrenalin-Stöße und Geschwindigkeits-Räusche blieb Dolphy Herr über die Struktur, so ungewohnt sie sein mochte. Man denke an das 14taktige "Miss Ann", das 18taktige "Potsa Lotsa", den 7taktigen A-Teil von "Out There", den 9taktigen von "The Baron". Selbst hervorragende Mitspieler kamen da leicht ins Stolpern.

Charlie Parkers Beispiel hat Hunderte von Nachahmern gefunden, Lester Young prägte all die Tenoristen des Cool Jazz, und John Coltrane riß ganze Generationen von Saxophonspielern in seinen Bann. Eric Dolphy wurde eine solche Gefolgschaft nie zuteil. Sein Nonplusultra aus Technik, Tempo, Expressivität und Komplexität hat bislang alle Nachahmer verschreckt. Kein Saxophonist mußte sich je den Vorwurf gefallen lassen, ein Dolphy-Klon oder Dolphy-Imitator zu sein. Auch Dolphys oft wunderbare Kompositionen wurden von der Szene weitgehend verschmäht, keine davon ist ein Standard geworden wie Parkers "Billie's Bounce" oder Coltranes "Giant Steps". Dolphys Erbe liegt brach.

Tears for Dolphy (1964-1970)

Ein paar musikalische Nachrufe gab es immerhin. In Paris, wo Dolphy zuletzt gelebt hatte, nahm der Trompeter Ted Curson, einst Kollege in der Mingus-Band von 1960, am 1. August 1964 das Stück "Tears for Dolphy" auf. Jackie McLean, wie Dolphy ein Altsaxophonist von berstender Expressivität, folgte im Januar 1965 mit dem Titel "Poor Eric": Beide Nummern sind Trauermärsche, wie unter Schock gespielt, Dokumente eines Verlusttraumas. Das Trauma ist nachzuvollziehen: Einer von Dolphys besten Freunden und wichtigsten Partnern, John Coltrane, rührte sein Saxophon sogar monatelang nicht mehr an, als er von Dolphys Tod erfuhr. Dann, im Dezember 1964, nahm er sein Meisterwerk auf, "A Love Supreme" - nach Meinung vieler ein großes Gebet für den Verstorbenen.

Nachgetragene Liebe: Bei einem Gedenkkonzert in New Yorks Judson Hall entstand 1965 das Album "Dedicated To Eric Dolphy". Zwei verschiedene Formationen unter der Leitung von Harold Farberman bzw. Gunther Schuller spielten dabei Third-Stream-Werke, darunter auch explizite Widmungsstücke wie "Elegy For Eric". Beteiligt waren Musiker wie Jerome Richardson, Hubert Laws und Richard Davis. Zweieinhalb Jahre nach Dolphys Tod, im Dezember 1966, erinnerte Altsaxophonist Sonny Simmons noch einmal mit Vehemenz an jene besondere Zeit, als der große Kollege auf Erden weilte. Wie sich Simmons selbst und Tenorsaxophonist Bert Wilson in das Stück "Dolphy's Days" stürzten, ist ein seltener Tribut an Dolphys temperamentvolles, großintervalliges Spiel.

Auch zu seinen Lebzeiten schon gab es Widmungen. Hans Kollers Stück "Call Me Eric", eine Kuriosität mit drei Saxophonstimmen (per Overdubbing), erinnert an eine Begegnung in Antibes. Der heftige Charles Mingus, der Dolphy liebte und verehrte, schrieb die Komposition "So Long Eric": Das Stück war die Paradenummer der Europatournee von 1964 (mit Dolphy) und wurde ein Mingus-Klassiker. Ein anderes Widmungsstück, "Praying With Eric", hat Mingus erst nach Dolphys Tod und nur vorübergehend so benannt. Die Komposition, die eigentlich "Meditations" oder "Meditations On Integration" heißt, wurde - so Mingus - von einer mündlichen Äußerung Dolphys inspiriert. Und ein ganz besonderer Tribut: Frank Zappas "The Eric Dolphy Memorial Barbecue". Das bemerkenswerte Stück, irgendwann zwischen 1967 und 1969 erstmals aufgenommen, ist eine Art Suite mit wechselnden Tempi und zerklüftet komponierten Saxophon-Teilen.

The Prophet (1977-1993)

Danach schien die Erinnerung an Dolphy zunächst einmal zu verblassen: Erst um 1980 brachten Musiker seinen Namen wieder ins Spiel. Jack DeJohnette nahm 1979 "One For Eric" auf, eine seiner besten Kompositionen: David Murray und Arthur Blythe spielen dabei Dolphys Hauptinstrumente, Baßklarinette und Altsaxophon. Eine 35-minütige Improvisation, 1982 aufgenommen und 1993 veröffentlicht, widmete der Trompeter Joe McPhee nachträglich Dolphys Andenken. In Erinnerung an einen Satz, den Dolphy 1964 in Hilversum bei einem Interview sagte, nannte McPhee die vierteilige Suite "When You Hear Music".

Der Altsaxophonist Oliver Lake, der zwar nicht Dolphys Technik, aber zuweilen seinen Cry besitzt und sperrige Stücke zu schreiben versteht, widmete seinem Vorbild erstmals 1980 eine ganze Platte. Darauf spielt er drei Eigenkompositionen, zwei Stücke aus dem Meisterwerk "Out To Lunch" sowie - als Titelstück - "The Prophet". Mag sein, daß Dolphy ein Musikprophet war, seine Prophezeiungen waren 1980 jedoch noch fern von ihrer Einlösung. Lakes Beschäftigung mit Dolphy ist entsprechend hartnäckiger Natur: 1988 folgte ein fast 20-minütiges Big-Band-Stück namens "Dedicated To Dolphy", 1991 eine neue Version von "The Prophet". Auch für Geri Allens ingeniöse Komposition "Dolphy's Dance" war Lake ein brauchbarer Interpret, doch eingespielt wurde sie ohne ihn (1989, 1992). 1986 nahm die Pianistin mit "Eric" ein weiteres Widmungsstück auf.

Vor allem einstige Weggefährten erinnerten sich in den 80er Jahren an Dolphys Vermächtnis. Woody Shaw ließ bereits 1977 mit der Platte "The Iron Men" die Dolphy-Sessions aus dem Jahr 1963 wieder aufleben, an denen der Trompeter selbst beteiligt war. Freddie Hubbard, Dolphys Partner auf "Outward Bound", gewann 1981 der Komposition "Les" ganz neue Facetten ab: Er spielte das Thema nicht mehr lichtschnell, sondern mit einem nostalgischen Swing-Feeling. Nathan Davis, Dolphys Weggefährte in Paris, stellte 1992 mit der Band "Roots" seine Ballade "I Remember Eric Dolphy" vor. Mal Waldron erinnerte 1986 an Dolphys legendäres Five-Spot-Konzert von 1961, bei dem Waldron am Klavier saß, und interpretierte die Stücke von damals neu. In den Hauptrollen: Terence Blanchard als Booker Little, Donald Harrison (an Altsaxophon und Baßklarinette) als Eric Dolphy, Mal Waldron als Mal Waldron.

Drei Jahre später hörten wir Waldron mit den Dolphy-Stücken "Mandrake" (auch: The Madrig Speaks, The Panther Walks) und "245", diesmal als Pianist im Quartett des Franzosen Thierry Bruneau. Bruneau ist der Welt größter Dolphy-Freak. Er spielt selbst Altsaxophon und Baßklarinette, studiert und transkribiert Dolphys Soli, sammelt Dokumente und Devotionalien, richtete Dolphys Haus in Los Angeles als Gedenkstätte ein, benannte seine Plattenfirma nach Dolphys Blues "Serene" und arbeitet (seit Jahrzehnten!) an der ultimativen Dolphy-Biographie. Nach der Kooperation mit Waldron erschien 1991 als zweite Veröffentlichung seines Labels ein Konzert mit Ken McIntyre und Richard Davis - ebenfalls zwei ehemaligen Dolphy-Partnern. Neben Stücken von McIntyre, Bruneau und Grachan Moncur spielte man "G.W." (auch: Gee Wee), Dolphys Widmung an Gerald Wilson.

Daneben fanden Kompositionen Eric Dolphys nur vereinzelt ihren Weg auf neue Tonträger, nun aber zunehmend in innovativer, eigenständiger Gestaltung. Der Flötist James Newton spielte 1985 zur Blue-Note-Feierstunde "Hat And Beard", Dolphys Widmung an Thelonious Monk, das Bläser-Trio "New Winds" nahm dasselbe Stück 1991 auf. Joachim Kühn spielte 1990 gleich zweimal die Ballade "Something Sweet, Something Tender" ein - einmal als frei-rhapsodisches Klaviersolo, einmal mit Gitarrist Miroslav Tadic im Avant-Rock-Quartett, das außerdem "The Prophet" aufnahm. Das belgische Trio Bravo arrangierte 1985 ein Medley aus "Straight Up And Down" und "Out There". Das String Trio of New York spielte 1992 eine wild-gespenstische Version des schnellen Blues "17 West". Avantgarde-Sänger Phil Minton präsentierte 1987 einen eigenen Text zu Dolphys "245", Jerry Hahn spielte 1993 dasselbe Stück als Gitarren-Blues. 1988 nahmen Lee Konitz und der Pianist Frank Wunsch ein Duo-Stück mit dem Titel "Dolphy And Konitz" auf.

Dolphy to the future (1994-...)

Seit seinem 30. Todestag (1994) sind die Widmungen an Dolphy und die Bemühungen um seine Musik häufiger geworden. Im November 1994 gedachte Dolphy-Spezialist Oliver Lake ein weiteres Mal umfangreich des großen Vorgängers: Seine CD "Dedicated To Dolphy" enthält sieben Kompositionen aus Dolphys Repertoire sowie zwei eigene Stücke. Zwei Monate später entstand unter Jerome Harris' Leitung ein höchst inspirierter Tribut, dessen Titel "Hidden In Plain View" Dolphys Platz in der Jazzgeschichte passend markiert - etwa: gut sichtbar und doch versteckt. Die CD mit acht Dolphy-Themen und zwei Kompositionen des Leaders präsentiert in Dolphys "Rolle" den Multi-Instrumentalisten Marty Ehrlich, für dessen Entwicklung Dolphy ein prägendes Vorbild war. Neben Sonny Simmons, Thomas Chapin, Akira Sakata oder Michael Marcus gehört Ehrlich zu den wenigen Bläsern, in deren Spiel man zuweilen Dolphys Einfluß erkennen kann.

Auch Chico Hamilton, Dolphys Arbeitgeber von 1958 bis 1960, legte 1994 eine Dolphy gewidmete CD vor, auf der Eric Person die Bläser-Parts übernahm. "My Panamanian Friend" (Dolphys Vorfahren kamen aus Panama) bietet sieben Dolphy-Titel in zum Teil abwegigen, zum Teil interessanten Neudeutungen. Anfang 1995 nahm Joe Rosenberg mit seiner Band Affinity im Konzert "A Tribute To Eric Dolphy" auf: sechs verschiedene Stücke, die Dolphy spielte, aber keine von Dolphys Kompositionen. ("Booker's Waltz", auf der CD fälschlich Dolphy zugeschrieben, wurde von Booker Little komponiert.) Neben den beiden Saxophonspielern der Band ist Buddy Collette als dritter Bläser mit von der Partie. Keine schlechte Wahl: Collette stammt aus L.A., ist Multi-Instrumentalist und wurde einst bei Chico Hamilton bekannt - genau wie Dolphy.

Die aufwendigste Dolphy-Hommage spielte im Herbst 1995 das Vienna Art Orchestra ein. "Nine Immortal Non-Evergreens For Eric Dolphy" heißt die CD, und auch dieser Titel beschreibt Dolphys Rang in der Jazzgeschichte: unsterblich, aber unbekannt. Dolphys Stücke sind Standards, nur nicht auf diesem Planeten. Sieben Dolphy-Kompositionen hat Mathias Rüegg für sein Orchester phantasievoll um- und ausgedeutet und dabei auch transkribierte Dolphy-Soli verwendet. Den Abschluß bildet die von Dolphy 1963 aufgenommene Fats-Waller-Komposition "Jitterbug Waltz" (auf der CD fälschlich Dolphy zugeschrieben).

Eine weitere orchestrale Hommage kam 1996 vom Berlin Contemporary Jazz Orchestra: ein 17-minütiges Medley über die Themen "The Prophet", "Serene" und "Hat And Beard", vielgestaltig und mit langen Free-Soli durchsetzt. Arrangiert wurde das Stück von der japanischen Pianistin Aki Takase. Ihrer Verehrung verlieh sie 1997 gleich noch einmal Ausdruck, diesmal in einer kleinen Besetzung, nur mit Klavier und Baßklarinette, Dolphys markantester Klangfarbe. Die CD "Duet For Eric Dolphy" verwendet Themen und Teile aus 10 Dolphy-Stücken und entwickelt daraus Miniaturen von seltener Konsequenz und Klarheit.

Dolphy, der Unerreichbare, der Nichtkopierbare, als Inspirator und Schutzheiliger für Geniestreiche? Vielleicht die einzig mögliche Art, Dolphy zu ehren und weiterzudenken. Man höre Daniel Schnyders Sechs-Bläser-Musik "Dolphy's Dance", Louis Sclavis' "Green Dolphy Suite" für drei Klarinetten und drei Streicher, Gianluigi Trovesis "Dance For A King", eine Mischung aus "Miss Ann" und Renaissance, Jon Lloyds Version von "Straight Up And Down" im Balladen-Tempo, Robert Dicks Dolphy-Adaptionen für Flöte und erweitertes Streichquartett: Das alles ist Jazz auf höchstem Niveau - spieltechnisch, ausdruckstechnisch, kompositorisch, strukturell. Brückenschläge zwischen Freiheit und Third Stream, zwischen Spontaneität und Vision. Fast wie Dolphy - weil ganz anders.

*****

Diskographisches
1992-1998 (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

1. Affinity: A Tribute To Eric Dolphy (Music & Arts)
2. Geri Allen: Maroons (Blue Note)
3. Berlin Contemporary Jazz Orchestra: Live In Japan '96 (DIW)
4. Robert Dick: Jazz Standards On Mars (enja)
5. Double Trio: Green Dolphy Suite (enja)
6. Jerry Hahn: Time Changes (enja)
7. Chico Hamilton and Euphoria: My Panamanian Friend (Soul Note)
8. Jerome Harris: Hidden In Plain View (New World)
9. Oliver Lake: Dedicated To Dolphy (Black Saint)
10. Jon Lloyd: By Confusion (hat ART)
11. Roots: Stablemates (In + Out)
12. Daniel Schnyder: Tarantula (enja)
13. String Trio of New York: Intermobility (Arabesque)
14. Aki Takase/Rudi Mahall: Duet For Eric Dolphy (enja)
15. Gianluigi Trovesi: Les Hommes Armés (Soul Note)
16. Vienna Art Orchestra: Nine Immortal Non-Evergreens... (Amadeo)

Die darauf meistgespielten Dolphy-Kompositionen:
Gazzelloni (4, 14, 16)
Hat And Beard (3, 9, 14, 16)
Miss Ann (7, 8, 9, 14, 16)
Serene (3, 7, 14)
Something Sweet, Something Tender (4, 7, 9, 14, 16)
Straight Up And Down (10, 14, 16)
245 (6, 8, 9, 14, 16)

© 1998, 2003 Hans-Jürgen Schaal


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