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Sie wuchs mit der Musik von Jimi Hendrix auf, ein verspätetes Hippie-Mädchen, ein exotisches Bürgerkind. Einen Gitarrenlehrer brauchte sie nicht: Sie brachte sich alles selbst bei, indem sie nachspielte, was sie hörte. Folk-Stücke, Rock-Figuren, Stones-Riffs - alles sog sie auf, sang sie mit, übte es auf der Gitarre ein. Das war ihre Art, sich wegzuträumen aus der Welt, einfach fortzufliegen und "den Planeten zu verlassen". Für dieses Gefühl von Freiheit machte Emily ungeahnte Kräfte frei: "An der Gitarre bin ich unermüdlich. Ich arbeite so lange an etwas, bis ich es kann."

Subtil, aber stark
Über Emily Remler, die jetzt 40 Jahre alt wäre
(1998)

Von Hans-Jürgen Schaal

Mit fünfzehn träumte Emily Remler davon, ein Blues-Player zu werden wie Johnny Winter und B.B. King. Später entdeckte sie Wes Montgomery und den Jazz und hatte den Ehrgeiz, Standard-Songs ganz allein auf der Gitarre zu spielen: Melodie, Harmonien, Improvisation, Rhythmus. Sie studierte die Melodieführung ihrer Vorbilder und suchte nach deren Geheimnis, ihrem stilistischen Trick. Gern sah sie das Griffbrett wie ein Keyboard vor sich, auf dem jeder Gitarrist seine eigenen Lieblingswege geht. Sie hatte ihre Idole so gründlich studiert, daß sie im Blindfold-Test nicht zu überrumpeln war. Manchmal ging sie dann wochenlang in Klausur, saß mit Metronom und Instrument im Bett und übte den Freiflug: das Improvisieren, das sich völlig von der Time lösen kann, weil es sie in Wahrheit nie verliert. Ob es tatsächlich gelang, kontrollierte sie hinterher am Bandgerät.

Emily Remlers Wille war stark, aber er war nicht stark genug für diese Welt. An ihrem 13. Geburtstag starb Jimi Hendrix: kein gutes Omen. Ihre Schwester wurde Anwältin, ihr Bruder Diplomat, aber Emily blieb das verletzliche Wunderkind, machte Musik und malte und wurde nicht recht erwachsen. Die Familie - intellektuell, wohlhabend, jüdisch - konnte sich den exotischen Vogel leisten: Nie hätte Emily auf Tour gehen müssen, nur um essen zu können oder die Miete zu bezahlen. Dennoch lebte sie seit ihrem 18. Lebensjahr allein von der Musik.

Von klein auf wollte sie eines: ein Junge sein. Sie spielte mit Jungs, sie war groß und stark, sie hörte die Musik der Jungs und wollte so Gitarre spielen wie sie: kraftvoll und männlich. "Ich mag ja aussehen wie ein nettes jüdisches Mädchen aus New Jersey", sagte sie, "aber innen drin bin ich ein 50jähriger, schwergewichtiger Schwarzer mit einem kräftigen Daumen - so wie Wes Montgomery." Die Mutter, Sozialpsychologin, ermutigte sie: Frauen können alles, zeig's den Jungs! In der Berklee School, der amerikanischen Vorzeige-Anstalt für werdende Jazzmusiker, war das Verhältnis zwischen Frauen und Männern 1:40. Den 4-Jahres-Kurs absolvierte sie in der halben Zeit, ihre Kommilitonen waren um Jahre älter, aber danach hatte sie das Gefühl, daß sie noch viel zu wenig konnte. Sie zog sich zwei Monate lang mit ihrer Gitarre von der Welt zurück und nahm dabei 30 Pfund ab. Dann war sie bereit.

1976 ging die 18jährige nach New Orleans, der Brutstätte so vieler Spielarten nordamerikanischer Musik - Jazz, Blues, Zydeco, Salsa. In New Orleans gab es genug Gigs aller Art, es gab Erfahrungen zu sammeln, Feeling zu entwickeln, und außerdem wohnte da der Boyfriend, Gitarrist Steve Masakowski. Emily kam stilistisch weit herum, spielte Rhythm'n'Blues mit Little Queenie and the Percolators und Tanzmusik mit Dick Stabiles Fairmont-Roosevelt Hotel Orchestra. Sie war auf Hochzeiten und Bar Mitzvahs zu hören, begleitete Nancy Wilson und Michel Legrand, jammte mit Wynton Marsalis und Bobby McFerrin und hatte ihre eigene Jazzband.

Kein Geringerer als Herb Ellis entdeckte das Talent, das in der jungen Frau steckte. Er empfahl Emily ans Concord Jazz Festival, wo sie 1978 mit ihrem Mentor Ellis, Monty Budwig und Jake Hanna auftrat. Concords Präsident Carl Jefferson stellte ihr sofort einen Vertrag in Aussicht, sofern sie sich der geradlinigen, swingenden Mainstream-Philosophie des Labels anpaßte. "Sie wollten, daß ich 'straight ahead' spiele, aber dafür brauchte ich Anleitung: Vorbilder wie Wes Montgomery oder Joe Pass und solche Leute. Die habe ich dann ziemlich ausgiebig kopiert."

Dann kam der Sprung in den Big Apple, zunächst als Begleiterin von Nancy Wilson in der Carnegie und Avery Fisher Hall. 1979 zog Emily ganz nach New York und tauchte im gleichen Jahr - noch als Sidefrau - zum ersten Mal auf einer Concord-Platte auf, John Claytons "All In The Family". Sie gab Konzerte mit den "Great Guitars" Herb Ellis und Charlie Byrd, kam in die Band von Astrud Gilberto, und plötzlich war der Concord-Vertrag perfekt. 1981 kam der Durchbruch: Emily Remler spielte mit eigener Band beim Concord Jazz Festival, sie trat beim Kool Festival (vormals Newport) auf und war Gast von Dave Friedman beim Berliner JazzFest. Und sie machte im gleichen Jahr ihre erste eigene Platte, "Firefly" - Glühwürmchen.

Das mädchenhaft ernste, mädchenhaft junge Gesicht auf dem Plattencover ist eigensinnig zur Seite gewandt, das lange schwarze Haar weht ein wenig zurück, die schlanken Finger liegen locker und fast fremd auf der roten Gibson-Gitarre. Ein erwachsen gewordenes Hippie-Mädchen, das immer nur seinem Traum folgte und sich plötzlich als "Label Artist" wiederfindet: "Schließlich war ich dann ein Bandleader. Man wollte mich immer vorne dran haben - der Sensation wegen." Eine Jazzgitarristin bedeutete in dieser von Männern dominierten Szene tatsächlich eine kleine Sensation, aber der PR-Gag war nicht alles: Schon auf Emilys erster Platte gab es stichfestes Handwerk zu hören, eine bodenständige Mainstream-Gitarre - vielleicht etwas altmodisch gespielt, etwas zu vorsichtig, aber mit rundem Ton, sauberer Technik und swingenden Läufen. Jazz- und Blues-Erinnerungen an Emilys Zeit in New Orleans klangen mit und Bossa-Einflüsse aus der Gilberto-Band. Natürlich gab es eine der großen, alten Balladen ("In A Sentimental Mood"), ein unbegleitetes Solostück ("A Taste of Honey") und eine Nummer des Idols Wes Montgomery ("Movin' Along").

Aber außerdem war da auch ein Stück von McCoy Tyner, Coltranes modalem Erben, "Inception", eine kleine, entschärfte Portion Ekstase, Freiheit, Hendrix, ungewohnt auf einem braven Mainstream-Jazzlabel, aber - so Emily - "genau die Art Musik, der ich nacheifern möchte". Coltrane und die Psychedelik der 60er Jahre blieben im Innersten immer ihre Heimat. Als ein Kritiker im New Yorker "Blue Note" die "echte" Emily Remler hörte, diese große, starke Frau, die im Spiel den Kopf zurückwarf, die Augen geschlossen, das Plektrum zwischen den Lippen, eine heftige Mischung aus Freiheit und Blues, da sagte sie zu ihm: "Witzig, daß Concord ausgerechnet mir einen Vertrag gegeben hat, stimmt's?"

Die meisten Frauen, die sich im Jazz-Business behaupten, sind Sängerinnen. Und Sängerinnen waren es, die den Kampf der jungen Gitarristin gegen die männliche Dominanz am sensibelsten registrierten. Emily begleitete die großen Shows von Nancy Wilson, spielte vier Jahre in der Band von Astrud Gilberto, machte Platten mit Rosemary Clooney und Susannah McCorkle. Sie bekam jede Menge Angebote von Frauen-Bands, spielte auch manchmal mit, empfand die Situation aber als "unnatürlich": Sie wollte nicht außer Konkurrenz starten, sie wollte es den Jungs zeigen. Ihre Lieblingskritik lautete: "Remler spielte subtil, aber stark." Auch mit ihren ständigen Versuchen, schlanker zu werden, suchte sie nicht zuletzt den anerkennenden Blick der Männer. Aber die machten es ihr nie leicht.

Emily mußte bald das Gefühl bekommen, Frauen wären im Jazz nur bunte Kanarienvögel: als schmückende Abwechslung geduldet, als Künstler diskriminiert. "Es gab jede Menge Bandleader, die mir ins Gesicht sagten, sie könnten mich nicht brauchen, nur weil ich eine Frau bin." Denselben Vorurteilen begegnete sie im Publikum: Männern, die nur in der Hoffnung kamen, daß sie sich blamierte. Die breitbeinig dastanden, sich mit verschränkten Armen zurücklehnten und riefen: Na, dann zeig mal! Das will ich doch sehen! Emily lernte ihre Lektion: "Du mußt immer doppelt so gut sein wie ein Mann". Auch bei Concord fügte sie sich männlichen Vorgaben und spielte bewußt konservativ, doch immerhin durfte sie bald ihre Platten selbst abmischen und empfand das als wohltuenden Vertrauensbeweis. Sechs Platten machte sie für Concord unter ihrem eigenen Namen, dazu ein Duo-Album mit Larry Coryell und etliche andere als Sidefrau.

Aus ihrem Spiel, ihrem Gesicht, ihren Worten sprach Wärme und Verletzlichkeit: enttäuschte Wärme und zu große Verletzlichkeit. Emily Remlers Ehrgeiz auf dem Instrument, ihre Kampfansage an die männlichen Kollegen, ihr schwieriges Selbstverständnis als Frau, ihre Eßlust und ihr Drogenkonsum kamen aus einem komplizierten Gefühl der Verunsicherung und nährten es zugleich. "Man hat mir musikalisch kein Vertrauen entgegengebracht", sagte sie: Besonders die Schlagzeuger hätten sie immer behandelt, als könnte man sich auf ihre Time nicht verlassen. Es braucht Sicherheit, um loslassen zu können und um frei durch die Takte zu fliegen, aber diese Sicherheit vermittelte man ihr nie. Oft verlangten die Schlagzeuger, sie solle lauter spielen, und erst nach Jahren gab sie zurück: Spiel du doch leiser und lern zuzuhören!

Da schien sie auf dem richtigen Weg zu sein: Sie trat mit den größten Gitarristen des Jazz auf - Pat Martino, Herb Ellis, Barney Kessel, Larry Coryell -, sie war gut genug, um für sie alle einzuspringen, wenn sie verhindert waren. Sie entledigte sich des Mainstream-Klischees, nahm eine Fusion-Platte nach ihren eigenen Vorstellungen auf und nannte sie trotzig "This is Me". Sie begann sich zu akzeptieren, ihre strenge, herbe, kräftige Schönheit, sie lernte weibliche Solidarität zu schätzen. Aber sie verlor auch ihre Träume: Immer hatte sie Filmmusik schreiben wollen, stattdessen war sie nur noch auf Tour, jeder Gig ein Kick: "Alles was ich brauche ist ein Flughafen". Ihre Ehe mit dem Pianisten Monty Alexander zerbrach, weil man sich nur hin und wieder auf Tournee traf.

Emily ging meistens allein auf Tour und spielte mit Klubmusikern vor Ort. Den Streß, die Angst, die Provokation besiegte sie mit Essen und Spritzen. "Heroin läßt dich vergessen, daß der Kerl in der ersten Reihe dich nicht mag", sagte sie einmal. Die Droge wurde selbstverständlich und war am Ende ein Teil des psychischen Haushalts. "Die größte Angst eines Künstlers ist es, daß er seine Kreativität verliert, sobald er aufhört, sich selbst zu zerstören." Sie fürchtete, die wilden "Brainstorms" könnten sie verlassen, die Momente der inneren Stärke, die Feuerzungen der Freiheit, die sie die Schwerkraft vergessen ließen, und übrig bliebe nur Depression und Unordnung.

Emily Remler gab ihr letztes Konzert am 2. Mai 1990 auf einer Tournee durch Australien. Sechs Stunden dauerte der Flug nach Brisbane in der überfüllten Maschine, sie mußte während des ganzen Fluges stehen und kam müde und genervt im Klub an. Da war kaum noch Zeit, um mit der Rhythmusgruppe zu üben, der Veranstalter kümmerte sich um nichts, technische Probleme mit der Anlage kamen hinzu. Im Vorjahr war ihr Konzert in Brisbane gut besucht gewesen und hatte hymnische Kritiken erhalten. Nun kamen gerade mal 40 Besucher, Zufallsgäste, darunter lautstark provozierende Rowdies. Eine Episode mehr im täglichen Irrsinn des Jazz Life.

Für Emily Remler war diese Episode eine zuviel: Zu lange hatte sie schon gegen Diskriminierungen gekämpft, zu oft Frustrationen wegstecken müssen. Sobald wie möglich, nämlich zwei Tage später in Sydney, träumte sie sich wieder aus dieser Welt hinweg und verließ diesmal für immer den Planeten. Sie tat es nicht bewußt: Der Stoff, den sie spritzte, war reiner als alles, was sie kannte. Das verspätete Hippie-Mädchen setzte sich unwissend den letzten, den goldenen Schuß. Ein Komet, der der Erde zu nahe kam und strahlend verglühte. Mit 32 Jahren starb Emily Remler an Herzversagen.

© 1998, 2002 Hans-Jürgen Schaal


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