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30 Bücher zur Sexualwissenschaft ließen ihn beinahe selbst vergessen, daß er einmal zu den wichtigsten internationalen Jazzforschern gehörte. Nicht nur das: Ernest Borneman war ebenso erfolgreich als Romanautor, Kameramann, Dokumentarfilmer, Drehbuchschreiber, Filmproduzent. Das Geheimnis, wie man in einem einzigen Leben so oft Karriere macht, nahm er 1995 mit in den Freitod.

Feldforschung im Nachtklub
Über den Jazzkritiker und Musikethnologen Ernest Borneman (1915-1995)
(1997)

Von Hans-Jürgen Schaal

"Was reden wir von Frescobaldi und Paganini und all den anderen großen Extemporespielern! Hier haben Sie den Übergang von primitiver Heterophonie zu reinem Stegreifkontrapunkt... das wirkliche Glied zwischen Improvisation und Komposition, zwischen Volksmusik und Kunstmusik, zwischen dem Polyphoniezeitalter und moderner Überlieferung." So begeisterte sich Professor Erich von Hornbostel, der Begründer der Musikethnologie, im Sommer 1930 über eine Grammophonplatte von Kid Ory. Sein Zuhörer war ein 15jähriger Berliner Oberschüler, dem er mangelnde Begabung zum klassischen Pianisten, aber einen erstaunlichen Sinn für Rhythmen bescheinigt hatte. Drei Tage später schickte er ihn zusammen mit seinen Studenten auf Exkursion: ins "Haus Vaterland", wo Sidney Bechet gastierte. So begann Ernest Bornemans Liebe zum Jazz.

Mit 14 Jahren schrieb der Junge bereits fürs Berliner Tageblatt, mit 17 hatte er seinen ersten Roman fertig, war Mitglied in einer kommunistischen Filmgruppe, betreute Gleichaltrige in einer Arbeitersexualklinik und kannte in Berlin Brecht und die Welt. Als die Nazis im Juli 1933 die Mitgliederlisten der KPD in die Finger kriegten, schleuste ihn ein SPD-Mann unter falschem Namen in eine Schüleraustauschgruppe der Hitler-Jugend ein, die nach London reiste. Dort angekommen, bat der 18jährige um politisches Asyl, stürzte sich in mehrtägige Partys und in den einzigen schwarzen Jazzklub der Stadt, das "Nest". Ob Duke Ellington, Louis Armstrong oder Dizzy Gillespie: Wenn die Show beendet war, kamen sie alle ins "Nest" oder später ins "Shimsham" und jammten - auch mit dem jungen Fan aus Berlin, der sich abwechselnd an Klavier, Baß und Schlagzeug versuchte.

Über seine ersten Feldforschungen in London meinte Borneman kurz vor seinem Tod in einem Pressegespräch: "Du lernst über Jazz, indem du mit den Großen spielst, und du lernst über Sex, indem du mit interessanten Frauen schläfst. Als die Jazzmusiker noch zum Tanzen spielten, das waren die goldenen Jahre. Jeder spielte für eine bestimmte Frau, die da tanzte. Wir imitierten jede Tanzbewegung mit dem Instrument oder forderten sie heraus."

Um sein Studium zu finanzieren, kam Borneman auf die Idee, in den Semesterferien einen Roman zu schreiben - auf englisch. "The Face on the Cutting-Room Floor" wurde in 12 Sprachen übersetzt, erntete Kritiker-Preise und gilt heute als Klassiker des Krimi-Genres. In der Bibliothek des British Museum entwickelte sich der Student dann zum Arbeitstier, zu einem Enzyklopädisten genialen Ausmaßes. 1935 machte er die ersten Exzerpte für sein späteres Hauptwerk "Das Patriarchat"; 1973 war es auf 5.000 Seiten angewachsen. Ähnlich gründlich erforschte er den Jazz und seine Wurzeln, erstellte Musikerregister, Wörterbücher, ganze Datenbanken. Dem Musikarchiv der Akademie der Künste in Berlin vermachte er 1995 etwa 80 Kilogramm beschriebenes und bedrucktes Papier - alles zum Thema Jazz.

Nicht mehr und nicht weniger als eine umfassende Darstellung des Jazz wollte er schreiben - natürlich soziologisch, musikwissenschaftlich und ethnologisch fundiert. Unterm Eindruck nächtelanger Diskussionen mit schwarzen Studenten, die später in ihren Ländern führende Politiker und Historiker werden sollten, vollendete Borneman 1940 ein erstes, 800 Seiten dickes Manuskript mit dem Titel "Swing Music". Es war eine Streitschrift mit marxistischen Untertönen: die Synkope als Rebellion, die Jazzband als verwirklichte Demokratie, die Improvisation als Ausdruck der Notwendigkeit, die Welt zu verändern. 219 Seiten lang bespricht der Autor darin detailliert die Grammophon-Aufnahmen des New Orleans- und Chicago-Jazz, 32 Seiten widmet er dem Jazz in Europa, davon 24 dem in England und den englischen Klubs. Als einer der ersten formuliert er Erkenntnisse, die heute Allgemeingut sind: über das umfassende synkopische Prinzip des afrikanischen und afro-amerikanischen Rhythmus, über die sexuelle Etymologie des Wortes "Jazz", über die Wirkung von Marihuana auf die musikalische Wahrnehmung des improvisierenden Musikers. Und natürlich lesen wir von der Einsicht des Musikethnologen, daß der Jazz im Ursprung kontrapunktisch sei und die Tin Pan Alley daher sein Ruin.

Inzwischen war er im englischen Filmgeschäft, volontierte bei der BBC, wurde Kameramann, hatte im April 1940 seine erste eigene Sendung, wurde vier Wochen später als Angehöriger einer verfeindeten Nation interniert und in ein Lager nach Kanada gebracht. Der Dokumentarfilmer John Grierson holte ihn wieder heraus, schickte ihn auf Filmreportage zu den Eskimos und ermöglichte ihm einen Aufstieg im kanadischen Fernsehen. Borneman machte Jazzfilme, gab Konzerte mit Oscar Peterson und Mezz Mezzrow, lernte in New York den Bebop kennen und wurde Mitherausgeber des amerikanisschen Jazz-Magazins "The Record Changer". Dort erschien 1944/45 in Fortsetzungen "An Anthropologist Looks at Jazz", eine Neufassung des großen Manuskripts. In einer begleitenden Kolumne ging der Autor auf die Fragen seiner Leser ein und machte konstruktive Vorschläge zur Zukunft des Jazz; ein humorvoller Leserbrief sprach von einem "program for the re-introduction of the jazz spirit into the commercial band" (1). Die Kolumne "Question and Answer" wurde immer umfangreicher und füllte 1947 bis zu vier Seiten im Heft.

Davon profitierten die nächsten Fassungen des großen Jazz-Projekts: "American Negro Music", 1946 beim Afro-Amerikanisten Melville J. Herskovits zur Promotion eingereicht, und die auf 54 Seiten komprimierte Buchausgabe "A Critic Looks at Jazz". Es ist das einzige Buch, das Borneman über Jazz veröffentlicht hat, und seine Einsichten sind auch heute noch gültig. Neu war damals der Akzent, den Borneman auf die afrikanischen Wurzeln der Jazz-Ästhetik legte: die Intonation, die in afrikanischer Sprache und Musik Bedeutungsträger ist, und das Ritual, das aus afrikanischem Kult direkt in die schwarze Kirche fließt: "Thus the Dahomey River God ceremony was incorporated into Baptism. Spirit possession became possession by the Holy Ghost." (2)

1947 kam Borneman zur UNESCO nach Paris und widmete sich verstärkt seinen Jazz-Neigungen. Er trieb sich mit Louis Armstrong und Duke Ellington in Pariser Nachtklubs herum und schrieb darüber in "Variety", "Down Beat", "Metronome", "Melody Maker" und "Présence Africaine". 1948 veröffentlichte er seinen dritten Roman "Tremolo", der (natürlich) im Jazz-Milieu spielt und den Yul Brynner 1950 für die CBS verfilmte. Da Borneman den UNESCO-Job schnell satt hatte, kehrte er (nach einer Zwischenstation als Szenarist bei Orson Welles) mit seiner Frau nach London zurück. Im "Melody Maker" hatte er von 1950 bis 1953 eine wöchentliche (!) Jazz-Kolumne unter dem Titel "One Night Stand": Das gezeichnete Porträt mit gepunkteter Fliege wurde zum Sinnbild für journalistische Qualität, britischen Humor, politischen Mut und gedankliche Präzision. 1954 führte die BBC seine Jazzoper "Four O'Clock in the Morning" auf (mit Cleo Laine und Johnny Dankworth).

Als erster entdeckte Borneman zu dieser Zeit die Tragweite der kreolischen Tradition im Jazz, die Bedeutung der Daten 1817 (Legalisierung des Voodoo in den USA) und 1917 (Jones Act: Angliederung von Puerto Rico). Seine neuen Erkenntnisse inspirierten ihn zu drei weiteren Kolumnen in "Melody Maker" und "Gramophone Record Review" (bis 1960), zur Gründung einer "Latin American Music Society" (1955) und zu Liner Notes, Aufsätzen, Radiosendungen und Vorträgen rund um den Globus. Nat Hentoff nannte ihn damals einen der führenden Jazzkritiker und -forscher der Welt. Joachim-Ernst Berendt überprüfte später Bornemans Thesen vor Ort und schrieb darüber den Aufsatz "Der kreolische Raum".

In den fünfziger Jahren machte Borneman in England zahllose Funk- und Fernsehsendungen, schrieb sein zweites Bühnenstück, mehrere Drehbücher für Spielfilme, war Regisseur, Chefdramaturg, Filmproduzent, Festivalleiter. 1960 folgte er einem Ruf nach Deutschland, wo er als Produktions- und Programmchef ein "Freies Fernsehen" aufbauen sollte (das spätere ZDF). Als der Job erledigt war, blieb er und beschäftigte sich als freier Schriftsteller mit der Sexualwissenschaft. Einige Jahre später war eine Jazz-Professur in Graz im Gespräch, und Borneman nahm ein letztes Mal sein großes Jazz-Projekt in Angriff. Es hieß nun "Black Light and White Shadow" und sollte eine Soziologie des Jazz von den afrikanischen und kreolischen Wurzeln bis zum Free Jazz werden. Mit ungebremster Lern- und Streitlust arbeitete sich der 50jährige in den modernen Jazz hinein, sammelte Berge von Exzerpten und Materialien über Bebop, Cool Jazz, Beat Music, Black Movement, zu Dutzenden von Musikern und Hunderten von psychologischen, historischen und formalen Aspekten der schwarzen Musik.

Obwohl er mit dem Free Jazz politisch sympathisierte, lehnte Borneman die Musik als negativ und formalistisch ab. Ornette Coleman nennt er "a sad, forlorn, desperate white man with a colored skin" (3). Archie Shepp, so notierte er, "is a better playwright than he is a musician and a better musician than he is a politician" (4). Er schätzte Eric Dolphy als positiv eingestellten Musiker, analysierte gewissenhaft seine Musik und kam zum Schluß, er habe sich in der Suche nach neuen Formen verbraucht. Bornemans Auseinandersetzung mit Leroi Jones, dem Theoretiker der Free Jazz-Bewegung, mit dem er auch Podiumsdiskussionen führte, würde allein ein kleines Buch füllen. Bornemans pointiertes Urteil über die Jazz-Avantgarde der 60er Jahre: "Diese Männer hissen nicht die Fahne der Rebellion, sie lassen sie nur auf Halbmast flattern" (5). Die Professur zerschlug sich; die Darstellung des modernen Jazz blieb ein wohlgeordneter, lehrreicher Torso.

+++

Aus Bornemans "Glossary of Jazz Slang" (1940) 6

1. Agony Pipe (Licorice Stick, Silver Sucker usw.): Klarinette
2. Battle Axe (Muggle Horn): Trompete
3. Belly Fiddle (Pork Chop): Gitarre
4. Box of Teeth (Groan Box): Akkordeon
5. Bull Fiddle (Dog House): Kontrabaß
6. Eighty-Eight (Ivories, Moth Box): Klavier
7. Gas Pipe (Gobble Horn, Slush Pump usw.): Posaune
8. Grunt Iron (Bull Horn): Tuba
9. Hide (Kitchen Furniture, Voodoo Boilers usw.): Schlagzeug
10. Ol' Plantation (Plunk Bucket): Banjo

Der Autor dankt Dr. Werner Grünzweig und der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Borneman-Archiv. Nachweis der Archivalien: (1) Nr.31, (2) Nr.7, S.41, (3) Nr.80, (4) Nr.101, (5) Nr.72, (6) Nr.5.

(c) 1997, 2003 Hans-Jürgen Schaal


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