Gershwins Musik ist undenkbar ohne die Berührung mit dem amerikanischen Jazz. Schon im Kindesalter begeisterte sich der Komponist für Ragtime-Rhythmen, später wurden Jazz-Anklänge sein Markenzeichen, und in der Zeit der "Rhapsody In Blue" galt Gershwins Musik sogar als "seriöse" Variante des Jazz. Als schließlich Jazzmusiker seine Songs aufgriffen und darüber improvisierten, begann Gershwins eigentliche Jazz-Karriere: Seit drei Generationen gehören mehrere Dutzend Gershwin-Nummern zu den meistgespielten Jazz-Standards.
FASCINATING RHYTHM
George Gershwin und der Jazz
(1999)
Von Hans-Jürgen Schaal
Als George Gershwin geboren wurde (1898), sorgte die neue Musik der Schwarzen aus dem Süden der USA gerade für erstes Aufsehen in New York. Aus den reisenden Minstrel-Shows sprangen die "Negertänze" hinüber in die New Yorker Theater: "Black America", die erste Show, die allein von Schwarzen produziert war, präsentierte 1894 in Brooklyn den sogenannten "Ragtime". Um dieselbe Zeit begann auch Scott Joplin (1868-1917) in St. Louis, Ragtime-Rhythmen für Klavierstücke zu adaptieren. Die schwarze Show "Clorindy", ein Broadway-Erfolg in Gershwins Geburtsjahr, machte den Cakewalk, den getanzten Ragtime, über Nacht zum Modetanz New Yorks. In Amerikas bis dahin eher operettenhafte Unterhaltungsmusik schlich sich mit einem Mal eine völlig andere Note, die Tin Pan Alley (die New Yorker Musikverleger-Branche) bekam neuen Auftrieb, und die Melodien und Rhythmen aus dem Süden zogen als Gassenhauer durch die Stadt.
So kamen sie auch an George Gershwins Ohr: Der kleine George war nämlich ein echtes Gassenkind. Anders als seine Brüder Ira und Arthur war er für stille Beschäftigungen partout nicht zu haben. Vielmehr glänzte er in den wildesten Straßenspielen: Hockey, Faustball, Rollschuhfahren. George tat sich in Raufereien hervor, galt als unbändiger, schwer erziehbarer Junge und bei seinen Lehrern als hoffnungsloser Fall. Und er kam viel herum: Bis 1917 wohnte er mit seiner Familie an mehr als 25 Adressen in New York, nicht immer in den besten Stadtvierteln. Mancher seiner Spielkameraden brachte es zu einer beachtlichen Gangster-Karriere.
Gershwin erinnerte sich später, daß er mit etwa 6 Jahren in irgendeiner Straße New Yorks auf einem automatischen Klavier Rubinsteins "Melodie in F" hörte - immer und immer wieder. Bezeichnenderweise war es "der jähe Rhythmuswechsel" in diesem Stück, der ihn als Kind faszinierte. Etwa zur gleichen Zeit - seine Familie wohnte gerade in Harlem - hörte Gershwin die schwarze Band von Jim Europe. Auch hier fesselten ihn die raffinierten Synkopen und der rhythmische Schwung: Die schwarze Tanzmusik entsprach seinem Naturell. Seit der Begegnung mit Jim Europes Orchester besaß Gershwin eine Schwäche für das Treiben schwarzer Musiker.
Europe, dessen Band zumindest Anklänge an den frühen Jazz besaß, spielte für die Karriere der schwarzen Musik in New York und den Aufstieg Harlems eine wichtige Rolle. Sein Orchester machte Tänze wie One-Step und Fox Trot in der Metropole populär, wurde im I. Weltkrieg sogar einem schwarzen Regiment zugeteilt, sorgte dabei auch in Europa für erste Jazz-Begeisterung und war die erste schwarze Band, die eine Schallplatte aufnahm. Europe soll es auch gewesen sein, der in Frankreich das Saxophon für seine Musik entdeckte, es daraufhin in Amerika als Jazz-Instrument einführte und damit eine enorme Mode auslöste. Sein Orchester in Harlems "Clef Club" wurde in den 20er Jahren zur Keimzelle der Big Bands.
Ein Kind des "Jazz Age"
Dass der 6-jährige Wildfang George ein Talent zur Musik hatte, ahnte damals wohl noch niemand. Auch als mit 10 Jahren plötzlich sein musikalisches Interesse erwachte, geschah dies nur im Verborgenen: Bei einem Spielfreund klimperte George heimlich auf dem Klavier und erfand kleine Melodien. Erst als sein älterer Bruder Ira zwei Jahre später ein Klavier bekam, stürzte sich George mit Feuereifer darauf und verblüffte Eltern und Geschwister. Ira ließ das Klavierspielen sofort und für immer bleiben – und das Instrument gehörte von da an George. Ganz offenbar kanalisierte das Klavier seine überschäumende Aktivität, seine unbändige Lust an Spiel und Bewegung.
Sein Leben lang bewahrte sich Gershwin dieses kindliche, fast naive, nicht schulmäßige Verhältnis zum Instrument und zu seinen Kompositionen. Spontane Improvisation, ein wesentliches Element des Jazz, wurde auch zum Lebenselixier des Pianisten: "Wenn ich nicht spielen kann, habe ich keinen Spaß." Auf Partys unterhielt er oft durch stundenlanges Improvisieren: "George am Klavier war ein glücklicher George", erinnert sich einer seiner vielen Freunde. Vernon Duke schrieb: "Er war ein geborener improvisatore." Nicht nur die Kollegen vom Broadway, auch E-Musiker wie Jascha Heifetz, Fritz Kreisler, Leopold Auer, Maurice Ravel und Alban Berg gehörten zu den Bewunderern von Gershwins spontaner Klavierkunst. Allerdings: Wenn er Sängerinnen begleitete, stieß er mit seiner Liebe für improvisierte Gegenstimmen, spontane Tonartenwechsel oder rhythmische Variationen nicht immer auf Verständnis.
Auch das Komponieren war für Gershwin wie ein Spiel: Er entwickelte am Klavier laufend neue Ideen, schleuderte sie nur so aus sich heraus und füllte damit Notizheft um Notizheft. Obwohl er nie aufhörte, sich musiktheoretisch fortzubilden, behielt die Intuition immer die Oberhand. Gershwins Werk kommt aus der Begeisterung. Aller Musik, auch den Kompositionen seiner Kollegen, begegnete er mit dem ungebremsten Enthusiasmus eines Kindes. Neben der Musik entdeckte und entwickelte er in seiner Unrast noch ständig neue Leidenschaften und Hobbys und widmete sich ihnen mit größtem Eifer, um sie oft ebenso rasch wieder fallen zu lassen: Malen, Golf, Autofahren, Kartenspiele, Tischtennis, Angeln, Reiten, Roulette, Backgammon, Fotografieren, Tennis, Schwimmen. Immer in Bewegung, ein manischer Aktivist und Partylöwe: In jedem Sinn war Gershwin ein Kind jener nervösen, hektischen Epoche, die man das "Jazz Age" nannte.
Im Ragtime-Fieber
Von den Ragtime-Rhythmen inspiriert, wusste schon der Klavierschüler Gershwin ziemlich genau, was er wollte: Er glaubte fest an die Bedeutung der neuen populären Musik als Grundlage einer amerikanischen Tonsprache. Über den Ragtime sagte er: "Das ist amerikanische Musik. So sollten wir Amerikaner uns ausdrücken. So will ich komponieren." Für ihn stand fest, dass alle große Musik aus Elementen der Volksmusik entstanden war, und die amerikanischen Volksmusiken seien eben Jazz, Ragtime, Spirituals, Blues. Ganz in diesem programmatischen Sinn schrieb Gershwin 1918 zusammen mit seinem Bruder Ira den Ragtime-Song "The Real American Folk Song Is A Rag".
Gershwin hatte das Glück, unkonventionelle Lehrer zu finden, die seine Intentionen zumindest tolerierten. Charles Hambitzer (1878-1918), der Gershwin unentgeltlich Klavierstunden gab, erkannte bereits in dem 14-Jährigen ein "Genie" und schrieb: "Er will sich unbedingt mit diesem modernen Zeug abgeben, mit Jazz und dergleichen. Aber das lasse ich vorläufig nicht zu." Dieses "vorläufig" ließ für später jedoch alle Optionen offen, und als Hambitzer seinen Schüler für den Theorie-Unterricht an Edward Kilenyi (1884-1968) vermittelte, wusste er sicherlich, was er tat. Denn Kilenyi ermunterte Gershwin sogar, gegen die Regeln, die er ihm beibrachte, zu verstoßen, und bestärkte ihn in seinen populären Ambitionen. Kilenyi über Gershwin: "Er hatte ein besonderes, geradezu geniales Talent dafür, Einflüsse von außen aufzunehmen und für seine eigene Musik auszuwerten".
Der junge Gershwin wählte zu seinen Vorbildern Irving Berlin (1888-1989) und Jerome Kern (1885-1945) - zwei Komponisten, die am Broadway durch Qualität auffielen. Insbesondere Berlin, der in seinen populären Kompositionen geschickt mit Elementen der schwarzen Musik arbeitete, wurde zum Leitbild für die Adaption von Ragtime-Rhythmen. "Irving Berlin ist typischer für Amerika als die amerikanischen E-Komponisten", befand der junge Gershwin. Als Berlin aus Mendelssohns "Frühlingslied" einen Ragtime machte, antwortete der Klavierschüler mit "Ragging the Träumerei", einem Ragtime nach Schumann (Gershwins zweites Opus überhaupt). Besonderen Erfolg hatte Berlin 1911 mit dem Song "Alexander's Ragtime Band", der geradezu eine Ragtime-Euphorie auslöste. Als Gershwin fünf Jahre später ein Ragtime-Stück Berlins orchestrierte, war der Komponist vom Ergebnis so begeistert, dass er Gershwin sofort einen Job als Arrangeur anbot.
Bereits 1914 erhielt Gershwin eine Anstellung an der Tin Pan Alley, wo die Hits der Zeit gemacht wurden. Er arbeitete dort für 15 Dollar pro Woche als "staff pianist" beim Musikverlag Jerome H. Remick, saß in einer kleinen Kabine an einem Pianola und spielte Tag für Tag acht bis zehn Stunden lang die neuesten bei Remick verlegten Kompositionen. Das Publikum war Laufkundschaft aus dem Showbusiness: Sänger, Tänzerinnen, Jazzmusiker, Texter, Theaterleiter, Produzenten, Orchesterchefs, die auf diese Weise für einen Song gewonnen werden sollten. Die Reaktionen seines Publikums bewiesen Gershwin, daß die Zeit für operettenhafte Sentimentalität vorbei war und alle Welt jazzige Rhythmen hören wollte. Also spielte er mit so viel Schwung und Pep, wie er nur konnte, erfand Gegen-Melodien und wechselnde Rhythmisierungen, entwickelte ein pianistisches Trick-Repertoire und modulierte die Songs durch alle Tonarten. "Seine Harmonien waren der Zeit um Jahre voraus", erinnert sich der Songtexter Irving Caesar. "So wie er hatte noch keiner Schlagermusik gespielt."
Nicht nur für Caesar war Gershwin bald die Hauptattraktion der Tin Pan Alley. Während seine Kollegen nur auf die Umsatzzahlen achteten, hatte dieser junge Mann offenbar Spaß daran, populäre Melodien mit Jazz-Rhythmen, Kontrapunkt und Ragtime zu bereichern. "Er steckte jeden von uns mit Leichtigkeit in die Tasche", sagte der Songkomponist Harry Ruby, der damals selbst "song plugger" in der Tin Pan Alley war. "Wenn er allerdings von der künstlerischen Bedeutung der Unterhaltungsmusik sprach, hielten wir ihn manchmal für einen Spinner." Als Gershwin einmal dabei ertappt wurde, wie er in seiner Box Präludien und Fugen aus dem "Wohltemperierten Klavier" übte, antwortete er nur: "Ich trainiere auf das Komponieren von guter Schlagermusik".
Das Phantom Jazz
Das New York der "roaring twenties" war von etwas gepackt, das man "Jazz" nannte. Nicht nur die Musik klang anders und aufregend, der Alltag war hektisch geworden, sogar die Sprache der Menschen änderte sich. Gershwin formulierte es so: "Das amerikanische Leben ist nervös, gehetzt, synkopiert, immer accelerando und ein wenig vulgär. Der Charleston ist auch vulgär, aber er besitzt Stärke und Erdverbundenheit." Die Kultur der Schwarzen kam in Mode, man tanzte ihre Tänze, hörte ihre Musik und besuchte Shows in Harlem, dem schwarzen Viertel. Gershwin komponierte sogar eine kleine Negeroper (1922). Die afroamerikanischen Intellektuellen sprachen von der "Harlem Renaissance", und schwarze Sänger eroberten mit Händel und Spirituals die klassischen Konzertsäle.
Alle Welt führte das Wort im Mund - doch was war "Jazz" eigentlich? Die wenigsten New Yorker hatten eine klare Vorstellung von der Musik, die so viel Wirbel verursachte. Auf der ersten Jazz-Schallplatte (1917) hörte man ein weißes Quintett, das sich The Original Dixieland Jass Band nannte und Ragtime blies und zupfte. Die ersten Aufnahmen schwarzer Blues-Sängerinnen erschienen auf sogenannten "race records", Schallplatten für den Markt der Schwarzen. Bevor Louis Armstrong 1925 nach New York kam, war die führende schwarze Jazzband der Stadt, das Orchester von Fletcher Henderson, noch eine zickige Tanzkapelle. Der überragende New-Orleans-Klarinettist Sidney Bechet wurde in New York sogar gefeuert, weil er nicht "sweet" genug spielte. Kurz: New Yorks Variante von "Jazz" gehorchte dem Geschmack des Broadways.
Die wahre "Jazz City" der 20er Jahre war Chicago: Dorthin waren die besten Musiker aus New Orleans gezogen, und dort hatten sie ihr Publikum. Dass Jazz eine improvisierte, weitgehend instrumentale Musik ist und nicht identisch mit den Saisonschlagern des Broadway, ahnte man in New York nur. Aber weil kaum jemand echten Jazz gehört hatte, konnte Gershwins auskomponierte Musik allen Ernstes als eine Art von entwickeltem Jazz rezipiert werden. "Gershwin bringt wie kein anderer Delikatesse, ja traumhafte Schönheit in die Jazzmusik", schrieb ein Kritiker 1923. "Mit ihm beginnt der anspruchsvolle Jazz", tönte ein Kollege. Selbst Carl Van Vechten, der weiße Mentor und Publizist der Harlem Renaissance, nannte Gershwins Song "Stairway To Paradise" (1922) eine "perfekte Jazznummer". Und als der Kammersängerin Eva Gauthier vorgeschlagen wurde, etwas Jazz in ihr Programm zu nehmen, entpuppte sich dieser Jazz (1923!) als eine Hand voll Gershwin-Songs.
Abgesehen davon, daß er gern den Stride-Pianisten in den Bars von Harlem lauschte, kannte auch Gershwin den Jazz kaum aus erster Hand. Immerhin durchschaute er die herrschende Begriffs-Verwirrung: "Jazz ist ein Wort, das für mindestens fünf oder sechs Arten von Musik benützt wird", schrieb er um 1930. "Im Wesentlichen ist er eine Frage des Rhythmus. Das Zweitwichtigste sind die Intervalle." Mit sicherem Gespür für das Neue adaptierte Gershwin genau diese beiden Elemente und verlieh damit seiner Musik den (für viele Ohren) entscheidenden "touch of jazz". Der Rhythmus: ein Spiel mit wechselnden Akzenten, gegensätzlichen und Kreuzrhythmen, Synkopen, Kontrapunkt. Die Intervalle: kleine Terzen und Septimen ("blue notes"), Chromatik, überraschende Tonartensprünge.
Rhapsody in Blue
Typisch für den "New York Jazz" der 20er Jahre war das weiße Orchester von Paul Whiteman, der in der Metropole sogar als "King of Jazz" galt. Whiteman und sein Pianist und Arrangeur Ferde Grofé schufen eine gefällige und höchst erfolgreiche Tanzmusik, deren ausgeschriebene Partituren allenfalls bestimmte Jazz-Anklänge aufwiesen. Um seine Idee eines "Symphonic Jazz" zu propagieren, veranstaltete Whiteman 1924 ein ambitioniertes Konzert in New Yorks Aeolian Hall. Auf dem Programm standen Werke von Grofé, Kern, Berlin, Victor Herbert, Edward Elgar und anderen. Höhepunkt des Konzerts war jedoch ein "Jazz-Concerto" von George Gershwin: die "Rhapsody in Blue". Unter höchstem Zeitdruck komponierte Gershwin das Werk innerhalb von drei Wochen (in der Fassung für 2 Klaviere), Grofé orchestrierte es für Jazzband und Klavier. Die Uraufführung (mit Gershwin am Klavier) brachte dem 25-jährigen Komponisten den Durchbruch - sowohl im Konzert- wie im Showbereich.
Die berühmte Klarinetten-Melodie der ersten vier Takte enthält Gershwins Jazz-Philosophie in konzentriertester und elementarer Form: im Rhythmus Triolen und Synkopen, in den Intervallen "blue notes" und Chromatik. Dieser Anfang allein hätte wahrscheinlich schon ausgereicht, um das durchkomponierte Orchesterwerk in den Ohren der Zeitgenossen als "Jazz" auszuweisen. Noch verwunderlicher ist, dass selbst seriöse Rezensenten so taten, als wären sie die großen Jazz-Experten. Einer verglich den "schrillen Jazz, der vor kaum 10 Jahren scheinbar aus dem Nichts entstand", mit seinem "heutigen Melodienreichtum", ein anderer feierte die "Rhapsody" gar als "Befreiung des Jazz aus der Sklaverei". Der eine hörte in dem Werk "echten Jazz - nicht nur in der Partitur, sondern im ganzen Charakter", der andere befand, es sei "weder guter Liszt noch guter Jazz", und kritisierte, dass nur "die nicht-barbarischen Elemente der Tanzmusik" (!) verwendet würden.
Dem Jazz im Geist verwandt ist die "Rhapsody in Blue" durch ihre Form - ein rhapsodisches, quasi spontanes Zusammenfügen von starken Melodien und guten Einfällen ohne eine innere, kompositorische Schlüssigkeit. In den Worten Arnold Schönbergs, der später zu Gershwins Freundeskreis zählte, entsteht dadurch der Eindruck "einer Improvisation mit allen Verdiensten und Nachteilen, die zu dieser Art des Schaffens gehören". Auch als Komponist hat Gershwin den Klavier-Improvisator letztlich nie abgelegt, der sich von Geistesblitz zu Geistesblitz hangelt und damit seine Zuhörer so wunderbar unterhält. Verblüffende Ideen statt thematischer Durchführung: Das gehört - wie zum Jazz - auch zu Gershwins Ästhetik und ist nicht zuletzt Ausdruck jenes neuen Lebenstempos, das mit dem "Jazz Age" aufkam. Ein Kritiker schrieb: "Von allen zeitgenössischen Komponisten verkörpert keiner wie er unsere Gegenwart - unsere Unruhe, Ungeduld, unseren Sturm und Drang, unsere fieberhafte Freude an allem Neuen und unsere Rückfälle in die Melancholie."
"That man can really play"
Als Gershwin in den Jahren der Charleston-Mode weitere Klangelemente des Jazz in seine Konzertmusik integrierte - vor allem Teile des Kombinations-Schlagzeugs: die Snare-Drum und den Jazzbesen -, hielt sich der Eindruck, er "veredle" und "romantisiere" die Jazzmusik. Unter Kritikern und Freunden entbrannte sogar eine heftige Diskussion, ob weitere Musikstudien Gershwins Konzertwerken nützen oder seiner "jazzigen" Intuition eher schaden würden. Erst nach Gershwins Tod und nach dem Abklingen des Jazz-Age-Fiebers formulierten Jazz-Historiker wie Rudy Blesh das grundlegende Missverständnis jener Jahre: "Während Paul Whiteman und George Gershwin und eine Menge anderer außerhalb des Jazz anfingen, ihn zu 'verbessern', und aus ihm Sinfonien, Konzerte und Opern machen wollten (alles das, was Jazz gerade nicht war - und wenn er es je werden müsste, dann durch sich selbst), arbeiteten Männer wie Louis Armstrong an der eigentlichen Substanz des Jazz."
Ob Gershwin die innere Dynamik und das ureigene Entwicklungs-Potential des Jazz wirklich erkannt hat, ist unsicher. Auf jeden Fall bewies er spontanes Gespür für die schwarze Musik und ihre Lebenskraft. Schon als "staff pianist" in der Tin Pan Alley gelang es ihm, regelmäßig schwarze Musiker als Zuhörer um sich zu scharen. Mit den raffinierten Synkopierungen und Bassläufen, die er Harlem-Größen wie James P. Johnson und Willie "The Lion" Smith ablauschte, konnte Gershwin als Pianist auch wirkliche Jazz-Kenner begeistern. Als er 1928 in Paris dem Kollegen Maurice Ravel vorspielte, der immerhin in Chicago den "echten Jazz" gehört hatte, befand die Sängerin Eva Gauthier: "Was er dem Klavier an vertrackten Rhythmen und Klängen entlockte, ließ Ravel vor Neid erblassen." Und als Gershwin 1934 im amerikanischen Süden nach musikalischen Inspirationen für seine Schwarzen-Oper "Porgy And Bess" suchte, riss er umgekehrt mit seinem Klavierspiel seine schwarzen Zuhörer mit. "Don't know who that man is playing the piano", tönte es aus dem Publikum, "but that man can really play."
Überhaupt entdeckte Gershwin durch diesen Ausflug nach South Carolina erstmals die Wurzeln dessen, wofür er sich seit je begeisterte. Bei den Schwarzen im Süden erkannte er, so schreibt der Gershwin-Biograph David Ewen, "die Wesensverwandtschaft ihrer Gesänge und stampfenden Rhythmen mit seiner Musik". Das Tänzerische der schwarzen Rhythmen, das schon den hypermotorischen Stadtjungen gepackt hatte, war dem Musiker Gershwin längst zur zweiten Natur geworden. Unter Freunden gab er gerne Steptanz-Einlagen, und selbst dem Tanzgott des Broadway, Fred Astaire, machte er vor, mit welchen Schrittfolgen das verflixte "Fascinating Rhythm" zu bewältigen sei. "Er komponierte für die Füße", meinte Astaire einmal. Als Gershwin in South Carolina dem "Shouting" begegnete, einem in Afrika wurzelnden Gesang, der mit komplizierten Rhythmen der Hände und Füße begleitet wird, ließ er es sich nicht nehmen, selbst mitzumachen. DuBose Heyward, der Librettist von "Porgy And Bess", berichtet, es habe den Leuten ungeheueren Spaß bereitet, als Gershwin dabei sogar dem Lokalmatador die Show stahl. "Ich glaube, dieses Kunststück wäre keinem anderen weißen Amerikaner gelungen."
Die raffinierte Art, wie Gershwin solches Jazz-Gespür in seine Broadway-Songs einbrachte, machte seine Musik zwar nicht zu Jazz, aber zu einer geeigneten Improvisations-Grundlage für Jazz-Interpreten. So wurden Gershwins Kompositionen schließlich doch Jazz-Geschichte - weil Jazz-Musiker sich ihrer annahmen. Ira Gershwin schrieb den Erfolg des Songs "I Can't Get Started" unumwunden einer Aufnahme des Jazztrompeters Bunny Berigan zu. Die "jazzige" Schlagermusik der Gershwins wurde mitverantwortlich dafür, daß der Jazz in den 30er Jahren in New York seine neue Hauptstadt fand und auf dem Broadway sein Material. Nicht die Rags und Blues aus New Orleans, sondern die Saison-Hits der Broadway-Shows wurden die eigentlichen "Standards" des Jazz-Repertoires, und im kommerziellen Sog der Theater stieg der Swing-Jazz zur führenden Popmusik seiner Zeit auf. Bereits 1930 saßen im Orchester der Gershwin-Show "Girl Crazy" zahlreiche weiße Jazzmusiker wie Benny Goodman, Red Nichols, Jimmy Dorsey, Jack Teagarden, Glenn Miller oder Gene Krupa.
Der Jazz entdeckt Gershwin
Dass Gershwins Songs außerhalb der Theater Karriere machen konnten, verdankten sie ihrer nur losen inhaltlichen Einbindung in die Broadway-Shows. Weil Komponisten und Texter ihre Beiträge häufig liefern mussten, noch bevor das Libretto fertiggestellt war, konnten sie sich oft nur an vorgegebenen Typen von "Love Songs" orientieren, die dann in jeden beliebigen Kontext passten. So ließen sich die Songs auch leicht wieder aus dem Zusammenhang lösen, wurden etwa kurzerhand bei den Proben gestrichen oder gleich in mehreren Shows hintereinander eingesetzt. Für die Produktion "Oh, Kay" (1926) zum Beispiel lieferten die Gershwin-Brüder 19 Songs, von denen nur 11 verwendet wurden. Als sich die Gershwins in den 30er Jahren von der lockeren Revue-Form und den belanglosen Libretti lösten und sich der politischen Satire zuwandten, verloren viele ihrer Songtexte diesen allgemeingültigen, frei übertragbaren Charakter. Sie waren nun an konkrete Bühnenfiguren und Situationen gebunden und damit für Jazz-Sänger und andere Bühnenshows zunehmend unbrauchbar. Dasselbe Schicksal traf die Songs aus "Porgy And Bess": Nur das Wiegenlied "Summertime" wurde wirklich zum Jazz-Standard.
Bezeichnend für die Praktiken jener Zeit ist das Schicksal des Gershwin-Songs "The Man I Love", einer vom Blues inspirierten Ballade, die zu einem der meistgespielten Jazz-Standards wurde. Die Melodie gehörte ursprünglich in die Einleitung ("verse") eines anderen Songs, erwies sich aber als zu stark dafür und wurde im April 1924 als eigenständiger Song ausgearbeitet und von George Gershwin stolz auf Partys präsentiert. "The Man I Love" sollte im 1. Akt der Show "Lady, Be Good" Platz finden, wirkte dort aber zu ernst, landete im 2. Akt und wurde schließlich ganz gestrichen, weil die Show zu umfangreich war. Drei Jahre später kam der Song zwar in zwei weiteren Shows unter, doch die eine ("Strike Up The Band") wurde wegen Misserfolgs gleich wieder abgesetzt, die andere ("Rosalie") so oft umgeschrieben, dass am Ende für "The Man I Love" - nach Kenner-Urteil "der perfekte Popsong" - kein Platz mehr blieb.
Doch inzwischen hatte eine Verehrerin Gershwins eine Abschrift des Songs an ihr Lieblings-Orchester in London vermittelt: Dort spielten ihn andere nach Gehör nach, sogar schwarze Bands in Paris griffen ihn auf. Der englische Komponist John Ireland (1879-1962) kommentierte schon 1924 eine der ersten Platten-Aufnahmen des Songs so: "Wozu braucht er eine Sinfonie, wenn er einen solchen Song schreiben kann? Das ist perfekt (...), das ist die Musik Amerikas. Sie wird so lange bestehen wie ein Lied von Schubert oder ein Walzer von Brahms." Obwohl "The Man I Love" kein Broadway-Erfolg war, veröffentlichte Gershwins Verleger daraufhin die Noten und verkaufte den Druck innerhalb von 6 Monaten etwa 100.000 mal. Die Show "Strike Up The Band" lief 1929 in revidierter Fassung wieder an, doch da war "The Man I Love" längst ein so erfolgreicher Club- und Tanz-Hit, dass er dem Publikum in einer neuen Broadway-Show nicht mehr präsentiert werden konnte. Als Benny Goodman 1937 dem Combo-Jazz eine neue Ästhetik schuf, gehörte das sanft-traurige "The Man I Love" zu seinen Erkennungs-Melodien. Auch die zerbrechliche Art, wie Billie Holidays laszive Stimme den Song 1939 sang, hat sich allen Jazzmusikern und Jazzfans ins Ohr gegraben. Und als Miles Davis 1954 die Melodie in kühl-abstrakte Trompetenlinien übersetzte und Thelonious Monk dazu seinen perkussiv-sperrigen Bebop ins Klavier hieb, war "The Man I Love" auch ein Klassiker des modernen Jazz geworden. Hunderte von Plattenaufnahmen beweisen heute seine Jazz-Tauglichkeit.
Eine noch erstaunlichere Karriere im Jazz machte Gershwins "I Got Rhythm", ein Stück, über das schon der Komponist stundenlang improvisieren konnte. (1933 gab Gershwin dem Drängen von Freunden nach und komponierte im Stil seiner Improvisationen die "Variations on I Got Rhythm" für Klavier und Orchester.) Bereits 1930, nur wenige Tage nach der Uraufführung des Songs (in der Show "Girl Crazy"), entstanden die ersten Jazz-Aufnahmen von "I Got Rhythm" durch Luis Russell und Red Nichols, wenig später folgten Versionen von Fats Waller, Django Reinhardt, Benny Goodman: Das Stück wurde schnell zur inoffiziellen "Hymne" aller Jazz-Verrückten.
Als Gershwin Mitte der 30er Jahre einen Club-Auftritt des Jazz-Geigers Stuff Smith besuchte, war er von dessen Spiel so verwirrt, dass er nicht einmal das Stück erkannte, über das Smith improvisierte: Natürlich war es "I Got Rhythm". Die Anekdote scheint zu belegen, dass die Jazzmusiker mit Gershwins Musik wesentlich besser vertraut waren, als er es mit der Praxis des Jazz war. Denn längst hatten Jazzer damit begonnen, über die Harmonien des allen bekannten Themas neue Melodien zu schreiben, in denen das Bekenntnis "I Got Rhythm" sozusagen ständig unterschwellig mitklang. Vor allem die Pioniere des modernen Jazz - Lester Young, Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Thelonious Monk, John Lewis - erfanden später über die Akkordfolgen von "I Got Rhythm" ("Rhythm Changes" genannt) Dutzende von neuen Jazz-Standards: "Lester Leaps In", "Anthropology", "Dizzy Atmosphere", "52nd Street Theme", "Delaunay's Dilemma"...
Gershwins Musik ist aus dem Repertoire und der Geschichte des Jazz nicht wegzudenken. Unzählige Jazzmusiker haben den Songs von Gershwin ganze Platten gewidmet, und vor allem für die Vokalisten ist das "Gershwin Songbook" eine ständige Herausforderung, "jazzigen Broadway" in echten Jazz zu übersetzen. "Ich wusste nicht, wie gut unsere Songs sind, bevor ich Ella Fitzgerald hörte", gestand Ira Gershwin viele Jahre nach dem Tod seines Bruders. Über alle stilistischen Umbrüche im Jazz hinweg blieb Gershwins Musik bis heute ein festes Fundament der Jazz-Tradition. Als Miles Davis und Gil Evans 1958 neue Big-Band-Farben erkundeten, dienten ihnen Songs aus "Porgy And Bess" als Vorlage. Und selbst als Ornette Coleman 1960 den "Free Jazz" ausrief, hielt er Gershwins "Embraceable You" noch die Treue.
© 1999, 2004 Hans-Jürgen Schaal
© 1999 Hans-Jürgen Schaal |