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Er begann seine Karriere als genialer Autodidakt, dem das Nazi-Deutschland der Kriegsjahre kaum Möglichkeiten bot, fortgeschrittene zeitgenössische Kompositionstechnik zu studieren. Erst nach dem Krieg wurde der Komponist Hans Werner Henze offiziell: Eine Violinsonate und ein Kammerkonzert aus dem Jahr 1946 gelten als seine ersten ernsthaften Kompositionen. Bei den Darmstädter Ferienkursen, wo sich die deutsche Musik jene Vergangenheit zurückeroberte, die zwölf Jahre lang verleumdet, verboten oder totgeschwiegen war, entdeckte Henze die serielle Komposition. Er war der Erste seiner Generation, der sie aufgriff (mehr aus ästhetischen als aus technischen Erwägungen), und er ließ sie wieder fallen, als sie für viele Altersgenossen gerade zur Selbstverständlichkeit wurde. Seine musikalische Neuorientierung (1953 in Italien) führte ihn zur Oper - und dies in einem sehr umfassenden Sinn. Denn Henze wurde nicht nur der bekannteste und erfolgreichste Opernkomponist seiner Zeit, sondern folgte dem Prinzip Theater auch in seiner Instrumentalmusik.

Musik aus dem Geiste des Theaters
Über die Instrumentalmusik des Opernkomponisten Hans Werner Henze
(1996)

Von Hans-Jürgen Schaal

1986 vollendete Hans Werner Henze sein vierteiliges Werk An eine Äolsharfe: ein Gitarrenkonzert, von 15 Solo-Instrumenten begleitet. Es entstand nach Gedichten Eduard Mörikes, deren Titel den vier Werkteilen die Namen gaben. Die Anregung zum dritten Satz lieferte Mörikes dreistrophige Ode "An Philomele", die schon in der ersten Zeile die Brücke schlägt zur musikalischen Komposition: "Tonleiterähnlich", heißt es da, "steiget dein Klaggesang / Vollschwellend auf". Doch dann kippt das Gedicht in eine Humoreske um: Das Bild vom "aufschäumenden" Nachtigallen-Gesang weckt im Odendichter heftigen Bierdurst, und er fühlt sich mit Macht zum Wirtshaus gezogen. Diese Spaß-Ode hat Henze als instrumentales Scherzo vertont, in dem die Instrumente die Rollen der Kegelbrüder und Zecher übernehmen, die den Dichter im Wirtshaus erwarten: der Oberamtsgerichtsverweser, der Notar, der Oberförster. Das Ergebnis: ein kleines, kaum vier Minuten dauerndes, von milder Ironie durchzogenes Musikdrama ohne Worte.

Musikdramen - allerdings solche mit Worten - sind es, auf die sich Hans Werner Henzes internationaler Ruf gründet. Seit den fünfziger Jahren sorgen seine Opern zuverlässig für Aufsehen und Publikum, darunter Werke wie König Hirsch, Der Prinz von Homburg, Elegy for young lovers, Der junge Lord, Das Ende einer Welt, Ein Landarzt, Die Bassariden, Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer, La Cubana, Wir erreichen den Fluß, Die englische Katze, Das verratene Meer. Die dichterischen Vorlagen dazu stammen von so namhaften Autoren wie Heinrich von Kleist, W.H. Auden, Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger, Franz Kafka, Wolfgang Hildesheimer und Edward Bond. Daneben schrieb Henze zahlreiche Ballette - auch dies eine Spielart dramatischer Bühnenmusik - und zählt heute zu den erfahrensten Bühnenkomponisten weltweit. Nicht umsonst wurde er zum Leiter der Münchner Biennale für neues Musiktheater berufen, die erstmals 1988 in der bayerischen Metropole stattfand.

"Alles bewegt sich auf das Theater hin und kommt von dorther zurück", so hat Henze schon in den 1960er Jahren sein Musikverständnis formuliert. Dieser Satz stimmt nicht nur für jene szenischen Anweisungen, die im Liederzyklus Voices (1973) oder im 2. Violinkonzert (1971) gegeben werden, sondern ist auf Henzes gesamtes Werk gemünzt, in dem das Theater stets "in sichtbarer Nähe" bleibt (so der Komponist). Denn vielfach sind Henzes (dem Opernpublikum kaum bekannte) Instrumentalwerke dramatisch gedacht und konzipiert, gleichsam Opernszenen ohne Vokalstimmen, und nicht selten ist dieses "imaginäre Theater" aus Opernplänen erwachsen oder von tatsächlich realisierter Bühnenmusik inspiriert. So entstanden das 3. und 4. Streichquartett (1975/76) im Zusammenhang mit der Oper We Come To The River (Wir erreichen den Fluss), das Klavierstückchen Une petite phrase (1984) ging aus den Ariosi (für Singstimme, Solovioline und Orchester) hervor. Henzes 4. Sinfonie (1955) war ursprünglich sogar Teil einer Oper - als Finale des 2. Aktes in der Urfassung von König Hirsch, dort auch mit Gesangsstimmen und Text versehen. Das Bühnengeschehen an dieser Stelle - König Stag verbringt vier Jahreszeiten im Wald und spricht zu den Stimmen des Waldes - lebt in der rein instrumentalen Sinfonie als heimliches Programm fort.

Es gibt zahlreiche weitere Beispiele, die zeigen, wie Henzes "Prinzip Theater" universal geworden ist und die Gestaltung von Werken bestimmt, hinter denen man nicht unbedingt einen dramatischen oder programmatischen Inhalt vermuten würde. Die Fantasia für Streicher (1966) zum Beispiel entstand aus einer Filmmusik, die (für historische Instrumente) zu Volker Schlöndorffs "Der junge Törleß" (nach Robert Musil) geschrieben wurde. Deutlich lassen sich in der Fantasia noch Elemente der Filmhandlung erkennen: Ankunft im Internat (Adagio), Folterszene (Allegro moderato), Gang durch die leeren Korridore (Air), Flucht aus der Schule (Vivace). Auch die Sonate für Streicher (1957/58) hatte eine dramatische Idee zum Ursprung, diesmal den Plan zu einem Ballett nach Watteaus Gemälde "Die Einschiffung nach Cythera". Unversehens sind aus solchen Ausflüssen des Musiktheaters hochinteressante Werke der zeitgenössischen Instrumentalmusik geworden.

Inspiration Shakespeare

Für einen Musikdramatiker kann es kaum etwas Spannenderes geben als die Stoffe und Figuren von William Shakespeare, denen auch Verdi-Opern wie Macbeth, Othello und Falstaff ihren Ursprung verdanken. Henze war von Shakespeare-Dramen angeregt, als er seine Royal Winter Music (1975-1979) schrieb - keine Oper, sondern ein Zyklus von neun Stücken für Solo-Gitarre. Nachdem der Gitarrist Julian Bream bei Henze ein umfangreicheres Werk bestellt hatte, nahm ein vom Komponisten jahrelang gehegter Shakespeare-Plan diese unerwartete Gestalt an: Figuren aus "Hamlet", "Romeo und Julia", "Der Sturm", "Was ihr wollt" und anderen Stücken "treten durch den Klang der Gitarre hindurch wie durch einen Theatervorhang", schreibt Henze.

Das letzte der neun Stücke ist ein Portrait der wahnsinnigen Lady Macbeth. Der Theaterblick des Musikdramatikers sieht die Dame hier "mit langem Gewand und aufgelöstem Haar, irren Blickes dem rauchig flackernden Kerzenlicht auf einem George-III.-Kandelaber folgend, den sie selbst mit dem einen Arm stemmt, als sei er eine Fackel, während der andere ein Schwert gegen ihre Brust gerichtet hat. Sie durchzieht die leeren Hallen ihres kalten schwarzen Palastes, es tobt ein Gewitter draußen, der Wind heult, sie redet irre Dinge, singt Zotiges, flucht und schreit. Sie ist ungeheuer königlich dabei, majestätisch ist ihr Wahnsinn, sie ist aus anderem Holz geschnitzt als die kleine, zarte Ophelia, die einem leid tut. Diese Dame tut uns nicht leid, wir haben Angst vor ihr, das Stück ist auch besonders schwer zu spielen, so mancher Gitarrist wird sich ihm nur schaudernd nähern wollen, ganz wie wir Lady Macbeth nicht begegnen möchten, vor allem nicht jetzt, in diesem Zustand!" Eine bühnenreife Szene, allein von der Gitarre imaginiert.

Ebenfalls von Shakespeare inspiriert ist Henzes 8. Sinfonie (1993), die "Sommernachtstraum-Sinfonie". Wie Henze-Forscher Peter Petersen gezeigt hat, ist das dreisätzige Werk mehr als nur eine Orchesterdichtung über Shakespeares Komödie: Die Musik gewinnt konkret aus zentralen Textstellen des Dramas ihre Gestalt. So gibt zu Beginn des 1. Satzes die Erzählung Oberons von der Entstehung der Liebesblume die melodische und rhythmische Kontur der Hauptstimme vor, als werde der Hörer aufgefordert, den dazugehörigen Text selbst zu ergänzen. Auch inhaltliche Elemente des Theatermonologs sind musikalisch umgesetzt: Cupidos Pfeilschuß zum Mond (schmetternde Trompeten), der Sturm am Gestade (Pauke), schließlich Pucks Umrundung der Erde (ein Flug durch den gesamten Tonraum).

Der 2. Satz der Sinfonie erscheint vollends wie eine imaginäre Theaterszene: Ihm liegt der Dialog zwischen der Elfenkönigin Titania und dem eselsköpfigen Weber namens Zettel (Bottom) zugrunde. Während Titania von Streichern symbolisiert wird, findet sich Zettel in einer kleinen Tanzmelodie imaginiert, der wiederum - streckenweise und unhörbar - Shakespeares Text unterlegt ist. Vogelstimmen, Eselsgeschrei und Kuckucksruf werden im Orchester umgesetzt. Grundlage des 3. Satzes schließlich ist Pucks Epilog, auf dessen Anfangsworten "If we shadows have offended..." eine Zwölftonreihe aufbaut. Auf solche Weise sind Textgestalt und Textinhalt des Dramas im rein instrumentalen Geschehen ständig präsent: die orchestrale Essenz einer fiktiven Oper nach Shakespeare.

Ein musiksemantisches Modell

Henzes Technik, Instrumentalmusik aus einem sprachlichen Text zu entwickeln, geht noch in die Zeit vor seinen Opern-Erfolgen zurück. Wie der Komponist in einem Interview mit Oliver Knussen angab, war seine Ode an den Westwind (1953) das erste Werk, in dem er eine Instrumentalstimme mit unhörbaren Worten "unterlegte", um ihre Verflechtung mit der poetischen Form, die die Musik inspirierte, zu verdeutlichen. Der Text von P.B. Shelley, eine Ode, die sich aus fünf (auf ungewohnte Weise gegliederten) Sonetten zusammensetzt, gab nicht nur die fünfsätzige Form dieses Cellokonzerts vor, sondern prägt die Musik bis in die Melodieführung hinein.

Auch später hat der Komponist für dieses Verfahren - man könnte es (nach einer Formulierung Henzes) "poetry for instruments" nennen - häufig lyrische Texte herangezogen: ein Liebesgedicht von Miguel Barnet (6. Sinfonie); Hölderlins "Hälfte des Lebens" (7. Sinfonie); ein Shakespeare-Sonett (2. Klavierkonzert); englische Liebesgedichte (Liebeslieder für Violoncello und Orchester; Introduktion, Thema und Variationen für Violoncello, Harfe und Streichorchester); vier Mörike-Gedichte (An eine Äolsharfe). Doch selbst in diesen Fällen, in denen der Text keinen dramatischen Bezug besitzt, gewinnt er durch die Umsetzung in Instrumentalstimmen und ihre Kommentierung durch andere Stimmen den Gestus eines Rollenspiels, einer Theaterszene. So scheinen in Henzes instrumentalem Requiem (1990/92) die Instrumente in Wahrheit Mitwirkende einer Totenmesse zu sein. Die Barcarola per Grande Orchestra (1979) - ohne poetische Vorlage - erzählt mit instrumentalen Mitteln von der Fahrt der Toten über den Styx: Signale des Fährmanns (Charon) und Trauergesänge der Seelen wechseln sich ab. Le Miracle de la Rose (1981) - nach Jean Genets Autobiographie - verwandelt die epische Vorlage gar in ein Singspiel für Instrumentalstimmen: Diese verkörpern Figuren wie den Richter, den Henker, den Anwalt. Nicht umsonst trägt das Werk den Untertitel "Imaginäres Theater II: Musik für einen Klarinettisten und 13 Spieler".

Henzes "instrumentales Musiktheater" wirft die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Musik und Wort auf. Der Komponist selbst hat Musik stets als eine Sprache begriffen, in der Kommunikation und Dialog stattfinden - wenn auch vielleicht auf eine Weise, die (noch nicht oder nicht mehr) hinreichend beherrscht und verstanden wird. Durch das Unterlegen unhörbarer Texte verdeutlicht Henze, was alle Musik leistet: Mitteilung, Austausch, Interaktion. In diesem Zusammenhang beschrieb Peter Petersen ein musiksemantisches Modell, das Instrumentalmusik schlechthin als dramatische Form begreift: "Instrumente antworten einander, imitieren und kontrapunktieren, überlagern und vereinigen sich, sie reagieren auf das Spiel eines anderen, wiederholen dessen Darbietungen, variieren das Exponierte, thematisieren das Implizierte, lassen andere Stimmen in den Vordergrund, treten selbst hervor usw. usw. Was ist dies anderes als eine Form der Interaktion, ein Spiel, ein Austausch untereinander, dem wir als Zuhörer fasziniert folgen wie einer Handlung?" Die Technik von Jazz-Sängern, die berühmte Instrumentalsoli vokalisieren und betexten, scheint ein solches Modell zu bestätigen ("Bopera" = Bop-Oper).

Petersen erläutert sein dramatisches Modell anhand von Henzes Tristan. Préludes für Klavier, Tonbänder und Orchester (1973), einem Werk, das er als Annäherung der Konzertmusik ans "epische Theater" Brechts begreift. Henze selbst möchte seinen Tristan "inabstrakt" und "audio-visuell" erlebt wissen: ein Drama auf der Konzertbühne. So spricht er vom "Todesschrei" des Orchesters, erwähnt "Monolog" und "Zwiegesang" im Klavier, nennt einen tonal-harmonischen Effekt einen "coup de théâtre". Ausgehend von Wagner und der Tristan-Legende, entwickelt sich Henzes Tristan bewußt zum dialektischen "Rollenspiel über das 19. Jahrhundert" (Petersen), in dem die Instrumente nicht nur miteinander agieren, sondern auch, die Diskussions-Ebene wechselnd, das Geschehen kommentieren: ein historischer Diskurs.

Schluss

Henze ist Literat - und dies gerade dann, wenn er unhörbare Texte auskomponiert. Mit untrüglichem Instinkt fand er in den fünfziger Jahren zur Oper als Form der Auseinandersetzung mit dem Wort und der Entfaltung des Sprach-Charakters von Musik. Dass er den dramatischen Grundzug aller Klangkunst auch in seinen Instrumentalwerken unterstreicht, könnte eine Art Selbst-Reflexion des Opernkomponisten sein: Wie drängt das Wort zur Musik, die Musik zum Wort? Wie kommt es, dass die Musik von sich aus reden will, dass sie wie mit Stimmen zu uns spricht? Auf welche Weise bewegt uns Musik, wenn nicht durch diesen quasi-sprachlichen, sprach-melodischen Zuspruch? Auf welche Weise fesselt uns Musik, wenn nicht durch Zwiegespräch und Streit ihrer Teile, durch Handlung und Dramatik?

Solche Überlegungen rühren nicht nur an Probleme der Musiksemantik, sondern umgekehrt auch an den Ursprung der Sprache im Klang. "Die Melodie gebiert die Dichtung aus sich", hat Nietzsche behauptet, der schreibend sogar ein besserer Musiker war als in seinen Kompositionen. Wenn Henze Dichtung "instrumental vertont", so scheint er damit das Medium unseres bewussten Menschseins, die Sprache, in ihre musikalische Essenz zu transformieren: in Rhythmus, Melodie und Emotion. Dieses scheinbar höchst moderne Verfahren (vergleichbar konkreter Poesie, digitalen Signalen, internationaler Bildsymbolik) ist zugleich ein Rücktasten nach den archaischen Wurzeln der Kunst. Wer Henze hört, wird sich dieser spezifischen Faszination kaum entziehen können: Hier entsteht Musik gleichsam auf den Spuren ihres eigenen Geheimnisses.

© 1996, 2003 Hans-Jürgen Schaal


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