Er gehörte einer Generation an, die Experimente im Jazz noch für selbstverständlich hielt. So wie junge Jazzmusiker heute in den risikolosen Mainstream hineinwachsen, so fand der 1938 geborene Altsaxophonist in den abenteuergierigen Jahren des Free Jazz seine Stimme. Doch Befreiung und Organisation waren in Julius Hemphills Musik nie ein Widerspruch.
Ein Baumeister der Saxophonklänge
Zum Tod von Julius Hemphill
(1995)
Von Hans-Jürgen Schaal
Texas ist bekannt für seine erdigen, expressiven Tenorsaxophonisten zwischen Swing und Rhythm'n'Blues. Buddy Tate, Arnett Cobb, Herschel Evans, Booker Ervin, Illinois Jacquet, Big Jay McNeely, King Curtis, Eddie 'Cleanhead' Vinson und viele andere nannten den Staat im Südwesten der USA ihre Heimat. Kein Wunder, daß der Texaner Julius Hemphill seine ersten Erfahrungen in R'n'B-Bands sammelte, wo Pianist Ike Turner und Gitarrist Cornell Dupree zu seinen Weggefährten zählten. Der Blues und der Soul des Südens sollten bis in die Stücktitel hinein für immer Hemphills Musik prägen: "Bordertown", "Georgia Blue" und "The Hard Blues" heißen drei seiner bekanntesten und am öftesten eingespielten Kompositionen.
Aber Texas ist auch die Heimat Ornette Colemans, des Vaters des Free Jazz: Sein Altsaxophon war das erste, das Julius Hemphill zu Gesicht bekam, damals in ihrer gemeinsamen Heimatstadt Fort Worth. Wie Coleman (und Charlie Parker) erlernte Hemphill das Saxophonspielen intuitiv. Auf der High School wagte er sich bereits mit "My Funny Valentine" auf die Bühne und hatte dabei noch keinen blassen Dunst davon, was "Changes" sind. Später kam er zu demselben Lehrer, der Coleman unterrichtet hatte: Red Connors war eine unumstrittene Autorität im amerikanischen Südwesten. Auch bei John Carter, dem Klarinettisten, der zu Ornette Colemans engsten Partnern zählte, studierte er für kurze Zeit.
Im Spannungsfeld zwischen Blues und Free, zwischen Tradition und Neuland entwickelte Julius Hemphill seine eigenständige musikalische Vision. Weil die scheinbar Progressiven den Blues als primitive, ländliche Volksmusik abtaten, entfernte er sich vorübergehend von seinen Wurzeln, um sie dann - Ende der 60er Jahre - aus der Perspektive der Avantgarde neu zu entdecken. Damals kam der 30jährige mit Chicagos AACM in Kontakt und half mit, in St. Louis den AACM-Ableger BAG (Black Artists Group) aufzubauen. In diesen Organisationen formierte sich eine neue Generation schwarzer Musiker, die nach der Kaputtspiel-Phase des Free Jazz daranging, noch einmal die Möglichkeiten einer erweiterten Formsprache zu erkunden. Anthony Braxton, Roscoe Mitchell, Joseph Jarman, Lester Bowie, Phillip Wilson, Abdul Wadud, Oliver Lake, Hamiet Bluiett und Charles Bobo Shaw waren neben Hemphill die wichtigsten Kräfte dieser Szene und prägten dauerhaft das Jazz-Verständnis vieler junger Musiker im mittleren und südlichen Westen. Für weiße Newcomer auf dem Altsaxophon wie Marty Ehrlich und Tim Berne wurde Julius Hemphill zum entscheidenden Einfluß.
Noch in St. Louis entstanden 1972 die ersten Aufnahmen unter Hemphills eigenem Namen ("Dogon A.D."): Musik, die die Expressivität des Südens bruchlos bis in freie Tonalität vorantreibt. Dann zogen er und seine Kollegen ostwärts, eroberten New York und legten dort den Grundstein der neuen Loft-Szene. "New York, Fall 1974" hieß eine Platte Anthony Braxtons, die für Julius Hemphill besondere Bedeutung bekam: Im fünften Stück der LP umgab sich Braxton mit drei Kollegen, um das erste unbegleitete Saxophonquartett der Jazzgeschichte aufzunehmen. Braxtons Partner waren Julius Hemphill, Oliver Lake und Hamiet Bluiett - drei Viertel des späteren "World Saxophone Quartet". Obwohl Braxtons Stück die Möglichkeiten einer solchen Saxophonbesetzung nicht einmal andeutet, hatte er einen zündenden Funken geschlagen. Schon drei Monate danach simulierte Hemphill auf seiner Platte "'Coon Bid'ness" ein Saxophonquartett: mit drei Saxophonen und gestrichenem Cello.
Seine ersten Aufnahmen machte das World Saxophone Quartet beim Pfingst-Festival in Moers 1977. Da hatten sich die Herren Hemphill, Lake und Bluiett durch den damals erst 22jährigen David Murray zum Quartett vervollständigt. Die Anfänge dieses Ensembles klangen sorglos und unformalistisch: Vier Free-Jazz-Saxophonisten trafen sich zum kollektiven Improvisieren, und die Motivkerne waren nur Orientierungspunkte im freizügigen Ablauf. Die Studioplatten in den Folgejahren ("Steppin' Out", "W.S.Q.") verrieten jedoch höhere Ambitionen: Das World Saxophone Quartet machte sich daran, die strukturellen Möglichkeiten einer reinen Saxophonbesetzung im Jazz zu erforschen. Die Instrumente übernahmen rhythmische und harmonische Funktionen und trafen sich in kontrapunktischen und verschränkten Texturen. Schon 1980 prophezeite Stanley Crouch der neuen Jazz-Gattung Saxophonquartett eine große Zukunft. Er sollte recht behalten.
Entscheidend geprägt wurde die Musik des WSQ von Anfang an durch Julius Hemphills saxophonistische Phantasie. Auf den neun Platten, die das Quartett zwischen 1977 und 1988 aufnahm, präsentierte er 21 eigene Kompositionen - etwa so viele wie die drei anderen Bandmitglieder zusammen. Hemphills Quartettstücke gaben durch ihre raffinierte Mischung aus Elementarem und Innovativem dem Ensemble die Richtung vor: Black Music als historische Einheit. Mal klang Hemphills Saxophonwelt wie ein instrumentaler Gospelchor, mal wie ein afrikanisches Stammespalaver. Das WSQ mutierte zur Südstaaten-Jumpband, zum kammermusikalischen Klangkörper, zum Free-Jazz-Kollektiv; doch Hemphills Musik blieb stets Rhythm'n'Blues, so avantgardistisch sie manchmal auch wurde. Nicht umsonst hieß eines seiner Stücke auf der ersten Studioplatte "R'n'B", und "Rhythm And Blues" war auch der Titel der letzten Scheibe, die er mit dem WSQ aufnahm.
Für den Komponisten und Konzeptionisten Hemphill blieb das WSQ keineswegs die einzige Baustelle. Mehr als zwanzig Jahre lang experimentierte er mit Bühnen- und Filmprojekten, machte Musikproduktionen für Tänzer, Rezitatoren und bildende Künstler, schrieb Big-Band-Partituren, Orchesterwerke und reine Theaterstücke, arrangierte seine Kompositionen für die unterschiedlichsten Besetzungen. Seine multimedialen Werke umfassen Produktionen wie "Viawaida" und "Obituary", das Audio-Drama "Roi Boyé And The Gotham Minstrels", reine Sprechstücke wie "Roomers" und "Hoodoo Dunit" und Saxophon-Opern wie "Ralph Ellison's Long Tongues" und "The Last Supper". Seine auf Schallplatte dokumentierten Bands reichen vom Duo- und Trioformat bis zur Big Band. Hemphills heftigster Flirt mit den Trends der achtziger Jahre nannte sich JAH Band (JAH = Julius A. Hemphill): Angeregt vom Free Funk der Tacumas und Ulmers, umgab sich der Saxophonist hier mit E-Gitarre und E-Baß und fand dabei zu einer weiteren Neu-Definition seiner texanischen Wurzeln. Nie klang sein Altsaxophon charmanter als im relaxten Groove dieses Quintetts, pendelnd zwischen erdigem Blues und nostalgischer Ballade, Südstaaten-Growl und urbanem Funk. Noch einmal reichten sich Earl Bostic und Ornette Coleman die Hände.
Danach wurde es um den Saxophonisten Julius Hemphill stiller. 1988 verließ er aus gesundheitlichen Gründen das World Saxophone Quartet. Bald sagte er auch reihenweise Engagements als Sideman ab. 1993 unterzog er sich einer Herzoperation und war zuletzt nur noch im Rollstuhl unterwegs. Als Komponist blieb Hemphill jedoch bis zuletzt aktiv und fand zu seinem eigentlichen "Instrument" zurück: dem Saxophonensemble. Das Julius Hemphill Sextet, eine reine Saxophon-Besetzung, die aus Bühnenproduktionen hervorging, brachte Hemphills visionäre Saxophon-Klangarchitektur zur Vollendung.
Bei der letzten Produktion des Sextetts, "Five Chord Stud", spielte Hemphill keinen einzigen Ton mehr, sondern dirigierte ein Ensemble von sechs Saxophonisten, allesamt Virtuosen der Meisterklasse und erfahren in Saxophon-Kombinationen. Baritonist Fred Ho(un) leitet das saxophonlastige Afro-Asian Music Ensemble, Sam Furnace ist ein vielbeschäftigter Satzführer, Andrew White wurde als Coltrane-Forscher bekannt. James Carter, der werdende Superstar, spielt alle Saxophongrößen und verdiente sich erste Sporen als einer der "Young Tough Tenors". Auch Marty Ehrlich ist Multi-Instrumentalist und leitet seit Jahren eine "two-saxophone band". Tim Berne nahm 1992 mit Dave Sanborn eine Hemphill-Hommage auf und war inzwischen auch mit dem Saxophonquartett ROVA im Studio. Umgeben von diesem erlesenen Kreis musikalischer Erben, schuf Hemphill mit "Five Chord Stud" sein Meisterwerk. Nun ist es sein Vermächtnis geworden und schon heute ein Klassiker der Saxophonliteratur.
© 1995, 2004 Hans-Jürgen Schaal
Diskographischer Hinweis:
The Julius Hemphill Sextet
"Five Chord Stud" (Black Saint 120140-2)
Tim Berne, Marty Ehrlich, Sam Furnace, James Carter, Andrew White, Fred Ho - Saxophone
Julius Hemphill - Komponist und Dirigent
Aufgenommen im November 1993
© 1995 Hans-Jürgen Schaal |