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Überwindung der Langeweile
John Adams versöhnt Minimalismus und Schönberg
(2000)

Von Hans-Jürgen Schaal

Die frühe Minimal Music der 60er Jahre war von Kahlschlag-Konzepten der visuellen Kunst angeregt, der "Minimal Art": reduzierte Mittel, elementare Formen, erlebbare Bauprinzipien. "Ich möchte wie neugeboren sein und nichts, absolut nichts über Europa wissen", schrieb Paul Klee schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts, "keine Dichter, keine Moden kennen, beinah primitiv sein. Dann möchte ich etwas Bescheidenes machen" - ein passendes Motto für die "neue Naivität" der Minimalisten. Sie wollten in der Tat nichts mehr von Europa wissen: Die Minimal Music kündigte die Hyperkomplexität der seriellen Musik auf (deren Praktiken als "Klischees" abgetan wurden), setzte das europäische Kunstprinzip der fortschreitenden Differenzierung aller Parameter außer Kraft, berief sich stattdessen auf die hypnotische Kraft von Pedaltönen und Modi, periodischen Wiederholungen, ostinatem Pulsieren, diatonischer Melodik und Dreiklangs-Harmonik.

Doch Menschen verändern sich. In einem Interview von 1985 hat Steve Reich, der Entdecker der Phasenverschiebung, den emphatischen Kahlschlag von einst widerrufen und als Selbsttäuschung entlarvt: "Wir haben eine Musikgeschichte, und ein zentrales Faktum ist, dass die Musiker im Westen in der Lage sind, Noten zu lesen." Reichs Unzufriedenheit mit den Dogmen der Minimal Music schlug sich dabei auch in teils herber Kritik an seinen einstigen Weggenossen nieder. La Monte Young, den Klang-Installateur des Dream House, nennt er einen bizarren Exzentriker, der nie Teil der musikalischen Welt war. Von Terry Riley, den es immer stärker in die Improvisation zog, meint er, er hätte ein großer Komponist werden können, verschwende aber sein Talent. Den Popularisierer Philip Glass nennt er gar einen Lügner, dessen Werke überwiegend "sehr schlecht" seien: "Er repetierte immer wieder die einmal gefundene Formel". Anders Steve Reich selbst: Seit den frühen 70er Jahren hat er seine Musik harmonisch mehr und mehr differenziert und sich der europäischen Moderne Schritt um Schritt wieder stärker erinnert. Den Kollegen John Cage, einst eine Inspiration für den minimalistischen Kahlschlag, versteht Reich heute als seinen Gegenpol.

Die Minimal Music ist erwachsen geworden. Den besten Beweis dafür gibt die Musik von John Adams (*1947), die - nach des Komponisten eigenem Bekunden - aus der Langeweile an der Minimal Music geboren wurde, deren Ideen Adams als zu primitiv empfand. Rund ein Jahrzehnt jünger als die Vaterfiguren Young, Riley, Reich und Glass, zählt Adams - Komponist, Dirigent, Klarinettist, Hochschullehrer, Essayist - zur zweiten Generation der Minimal Music. Mit ihren Begründern teilt er die Kritik am Akademismus des "ernsten" Musikbetriebs und die Freude an der Erfahrung, "dass zeitgenössische Musik nicht immer dissonant und vertrackt sein muss". Ein Purist war er allerdings nie: "Von Anfang an", sagt er, "hat meine minimalistische Sprache den Begriff ausgeweitet." Für Adams ist die Minimal Music ein Stil-Hintergrund, nicht ein formales Dogma. Die "Reinheit der Methode" gibt es für ihn nicht.

Adams' Kompositionen sind wie eine musikalische Demonstration von Steve Reichs Satz: "Wir haben eine Musikgeschichte." Vehement widersprechen sie dem "primitivistischen" Postulat der frühen Minimal Music, der "neuen Naivität", die von Europa nichts wissen will, und bringen stattdessen all die Parameter der Differenzierung wieder ins Spiel, die die Minimal Music mit heiligem Eifer verbannt hatte: Dramatik, Gegensatz, Spannung, Farbe, Reibung, Emotion, Modulation, Wechsel, Plötzlichkeit, Überraschung. Warum, so scheint uns Adams zu fragen, warum müssen minimalistische Melodien eigentlich diatonisch sein und Harmonien immer nur Dreiklänge? Warum bloß soll der rhythmische Puls eines Stücks von Anfang bis Ende gleich bleiben? Warum dürfen minimalistische Prozesse nicht unterbrochen und von anderen Prozessen kontrastiert werden? Warum verwendet die Minimal Music ausgerechnet Prinzipien östlicher und alter Musik und keine anderen? Warum muss Minimal Music immer nur schnell, unsentimental, vorhersehbar und farblos sein?

John Adams ist Eklektizist, manche sagen auch: Nihilist. Er bedient sich bei jeder Spielart von Musik und akzeptiert keinen "Kanon des Verbotenen", wie es bei Adorno hieß. Er komponiert langsame Sätze, schnelle und abrupte Wechsel, atonale Melodien, überraschende Modulationen, dissonante Strukturen, emotionale Dramen, bombastische Klänge, wuchtige Steigerungen, orchestrale Farbigkeit. Er ist als Postmodernist insofern konsequent, dass auch die Moderne in seinem Spektrum stilistischer Spielarten ihren Platz hat. Er macht uns ein Sandwich aus spätromantischem Bombast und minimalistischer Struktur und legt ein Salatblatt Ironie dazwischen. Kein Avantgardist, sondern Amerikas meistgespielter lebender Konzertkomponist.

Adams' erste Reifewerke entstanden Ende der 70er Jahre. Das etwa 20-minütige "Phrygian Gates" war nicht nur das erste für Konzertpianisten praktikable Klavierstück des Minimalismus, es lieferte zugleich den Beweis, dass solistische Virtuosität und minimalistische Prinzipien keine Gegensätze sein müssen. Aus derselben Zeit stammen Adams' "Shaker Loops", ein viersätziges Werk, das vor allem in der Fassung für sieben Streicher eine beachtliche Konzert-Karriere machte. Es basiert auf der Idee verschieden langer Endlosschleifen, durch deren Kombination minimalistische, pulsierende Texturen entstehen. Die regelgerechte Minimal-Music-Konstruktion gibt allerdings nicht das prozessuale Prinzip des Werkes vor, sondern ist lediglich eine Stiltechnik innerhalb einer fast expressionistischen Konstruktion. Brüche und Modulationen und ständige Wechsel in Tempo und Dynamik verleihen den "Shaker Loops" eine neoromantische Wucht und Ausdruckskraft, die mit den Prinzipien der Minimal Music nichts mehr gemein hat. Von Anfang an besaß Adams' Musik, so formuliert er es selbst, "eine Art emotionaler Dramatik, die überhaupt nicht zur traditionell kühlen minimalistischen Ästhetik gehört".

Adams' internationale Karriere begann mit "Harmonium" (1981), einem mehr als 30 Minuten langen Werk für Orchester und 200 Sänger. Nicht zuletzt durch seine Bezüge zu Beethoven wurde es als Re-Definition der Minimal Music gefeiert. Deutliche Anklänge an verschiedene Epochen, Stile und Komponisten der Musikgeschichte sind seitdem bei Adams die Regel. Seine "Grand Pianola Music" (1982) - angeregt von Autos auf dem Highway - nannte er selbst eine "Bouillabaisse musikalischer Anspielungen", zu denen Gospel-Musik wie Wagner-Opern gehören. Minimalistische Stilelemente (die Maschine Auto) sind mit reicher Dramatik und Klangfarbe kontrastiert (das Prestigeobjekt Auto), die Mischung wirkt parodistisch. Eine Parallele zu Ligeti macht sich bemerkbar: Wie dieser scheint Adams den minimalistischen Mechanismus zur Explosion bringen zu wollen - allerdings nicht von innen heraus, sondern mit eklektizistischen, spielerisch von außen herangetragenen Mitteln. Die Maschinen-Thematik zieht sich gleich durch mehrere seiner Werke (in Amerika am populärsten: "Short Ride in a Fast Machine") und erreicht in "Fearful Symmetries" (1988) eine Art Höhepunkt, der gleichermaßen an Stravinskys Rhythmusbehandlung, Honeggers Lokomotiven-Musik und sogar treibenden Big-Band-Swing denken lässt.

Vollends berühmt wurde der Komponist John Adams durch seine Oper "Nixon in China" (1987), eine Montage aus historischen und fiktionalen Textfragmenten rund um den Chinabesuch des einstigen US-Präsidenten. Die Montagetechnik des Librettos setzt sich in der Musik fort, die in ähnlich raffinierter (und raffiniert ironischer) Weise Banalitäten, Klischees und verbrauchte Gesten der Musikgeschichte verquirlt - darunter natürlich minimalistische Verfahren und pentatonische Melodik. Das Ergebnis: Oper als Kaleidoskop des Trivialen mit mythischer Attitüde. Auch mit den folgenden Bühnenwerken - "The Death of Klinghoffer" (1991) und "I Was Looking at the Ceiling and then I Saw the Sky" (1995) - blieb Adams bei zeitgenössischen Stoffen. Ein viertes Werk für die Bühne soll in diesem Jahr Premiere haben.

Auch wenn die amerikanische Minimal Music als Trotzreaktion auf den europäischen Serialismus der 50er Jahre entstand, scheinen die Gegensätze zwischen den tranceartigen Pulsationen von Dur-Dreiklängen und der expressiven Zerrissenheit der Schönberg-Tradition nicht länger unüberwindbar. Prototypisch zeigte das John Adams' "Chamber Symphony" aus dem Jahr 1993, die dezidiert auf Schönbergs Kammersinfonie Nr. 1, op. 9 aus dem Jahr 1906 verweist. Von der Entstehung seiner Komposition berichtet Adams freimütig: "Bevor ich mich diesem Projekt widmete, saß ich in meinem Atelier und las die Partitur von Schönbergs Kammersinfonie. Allmählich wurde mir bewusst, dass mein 7-jähriger Sohn Sam im nächsten Zimmer im Fernsehen Zeichentrickfilme anschaute - gute, alte aus den fünfziger Jahren. In meinem Kopf haben sich die enorm lebendigen, durchgehend aggressiven und akrobatischen Zeichentrickfilm-Partituren mit der Musik Schönbergs, die ebenfalls sehr lebendig, akrobatisch und recht aggressiv ist, vermischt. Plötzlich wurde mir klar, wieviel diese beiden Traditionen gemein haben."

Gemein haben sie, was die Pioniere der Minimal Music mit kühlem Kopf ausblendeten: Expressivität, Plötzlichkeit, Dramatik, Tempowechsel, Virtuosität, Polyfonie. In seiner "Chamber Symphony" (für Kammerorchester, Schlagzeug und Synthesizer) gelingt Adams eine wild-nervöse Mixtur aus atonalem Expressionismus, angejazzter Cartoon-Musik und minimalistischer Textur. Dabei wird die Strukturschicht minimalistischer Verfahren so weitgehend in die chromatische Ereignisdichte eingebunden, dass die Minimal-Music-Ratio in ihr Gegenteil umzukippen scheint. Kann man das überhaupt noch Minimalismus nennen? Alternative Begriffe sind bereits im Umlauf: Post-Minimalismus, Maximalismus, popularisierte Atonalität.

Ob Minimalist oder nicht: John Adams kommt aus der minimalistischen Schule und ihren Vorgaben und hat mit ihnen ein dramatisches Potenzial entwickelt, das der Minimal Music ursprünglich nicht innewohnte. Indem er die rhythmische Energie der Minimal Music - sehr bewusst und mit selbstironischer Note - mit der Harmonik und Farbe der Spätromantik kombiniert, kehrt er die Dogmen des Minimalismus ketzerisch um: Statt kühler Reduziertheit sucht er bombastischen Ausdruck, Kahlschlag ersetzt er durch einen Eklektizismus, der Anregungen von Mahler bis Rock'n'Roll, von Duke Ellington bis Gamelan-Musik zu verwerten weiß. Minimal Music nicht als reine Lehre, sondern als Sprungbrett in die Komplexität. John Adams hat im "Dream House" der installierten Klänge ein Fenster aufgerissen, durch das eine Menge realer Frischluft hereinströmt.

© 2000, 2003 Hans-Jürgen Schaal


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