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Noch heute nennen viele junge Jazz-Pianisten ihn als ihr Vorbild. Erreichen wird ihn keiner: Wynton Kelly (1931-1971) war am Klavier eine Allround-Begabung, perfekt in jeder Situation. In den späten 50er und frühen 60er Jahren gehörte er zu den begehrtesten Klavierbegleitern überhaupt. Eine mythische Lichtgestalt des Jazz, hinter der sich eine seltene Tragik verbarg:

Wynton Kelly
Der um die Ecke hört
(2001)

Von Hans-Jürgen Schaal

Miles Davis konnte ihm nie lange gram sein. Im einen Augenblick rief er wohl noch: "Wie zur Hölle soll ich nach so einem Solo spielen?", im nächsten schickte er zwischen zwei Trompetenphrasen schon ein zufriedenes Grinsen zum Klavier hinüber. Auch wenn er zuweilen das Gefühl hatte, dass Wynton Kelly ihm die Show stahl: Der große Miles verzieh. Denn für ihn war es das Größte, wie Kelly "hinter einem Solisten" spielte - zurückgenommen, aber Akzente setzend, Raum schaffend und doch immer mit energischem Impetus. Dieser Pianist war für ihn wie "das Feuer für die Zigarette": Ohne seinen Swing und seinen Geschmack war die Musik nicht "smokin'". "Wenn Miles von der Bühne ging, sah er bewundernd Wynton zu, weil der die Band wirklich zusammenhielt", erinnert sich der Tastenkollege McCoy Tyner.

Bewundert haben Wynton Kelly alle und stets in den höchsten Tönen. Für die einen war er der "Groove Master", der auf unnachahmliche Weise swingenden Drive entfachte und bluesige Kanten setzte. Das hatte Kelly früh gelernt: Schon mit 13 spielte er harten Rhythm'n'Blues, später tourte er mit rauen Saxofon-Röhren wie Hal Singer, Eddie "Lockjaw" Davis, Eddie "Cleanhead" Vinson und King Curtis. Andere seiner Bewunderer sahen in Kelly den idealen Begleiter, der mit hoher Anschlagskultur dem Bläser dezent den Weg ebnet. "Er spielt und du hörst ihn, aber er kommt dem Solisten nie in die Quere", sagte Schlagzeuger Philly Joe Jones. "Er legt Blumen hinter den Solisten." Für wieder andere war Kelly einfach ein Wunder an Flexibilität: Er fand sich in Combos ebenso zurecht wie in Big Bands, begleitete die großen Sängerinnen ebenso wie die heißesten Sax Players. In Minutenschnelle setzte er die Vorschläge seiner Mitmusiker in ein musikalisches Konzept um, beim Spielen reagierte er traumwandlerisch sicher. "Er konnte um die Ecke hören", schwärmte Benny Golson, "und wusste immer schon, was kam."

Absolutes Gehör, perfektes Gedächtnis, ein phänomenaler Notenleser. Das Lob der Mitmusiker scheint kein Ende zu nehmen. Natürlich war er überdies auch noch ein guter Kerl, dieser Wynton Kelly, und stand backstage oft im Mittelpunkt ausgelassenen Gelächters. Mit seinen umklappbaren falschen Vorderzähnen brachte der aus Jamaika stammende Pianist manchmal mitten im Spiel die Mitmusiker zum Lachen. Und er nahm nichts übel. Als er frisch in Miles' Band war und zu den Aufnahmen für "Kind Of Blue" ins Studio kam, fand er dort überraschend seinen Vorgänger Bill Evans sitzen - und machte gute Miene. Miles wollte Evans für vier Stücke, aber den typischen Kelly-Sound für "Freddie Freeloader". Erst später sah der Trompeter ein, dass Kelly für jeden Job der Richtige war, ob funky Groove oder lyrische Tiefe, ob komplexe Changes oder modale Exkursionen. "Er ist eine Mischung aus Red Garland und Bill Evans", gab Miles zu Protokoll. "Da Wynton Kelly jeden Stil beherrschte, konnten wir in jede Richtung gehen."

Wynton Kellys heiteres Temperament schien sich in seinem sprichwörtlich hellen, strahlenden Klavierspiel zu spiegeln. Immer wenn die Kollegen und Kritiker über diesen Pianisten reden, sind Licht-Metaphern unvermeidlich: Der Journalist Mark Gardner empfand Kellys Tastenläufe gar wie einen "Sonnentag mitten im Winter". Diese positive, wärmende Leuchtkraft gibt noch heute den meisten seiner Aufnahmen einen rätselhaften Glanz. Kelly suchte diesen unverkennbaren Klavierklang sehr bewusst: Auf Tournee stimmte er sich das Club-Klavier gewöhnlich selbst. Dass er auf einem Ohr schlecht hörte, machte das andere offenbar umso sicherer. Sein strahlender Sound übte eine magische Macht aus - selbst auf Kollegen. Duke Pearson, der bei der Third Army Road Show zwei Jahre lang Kellys Kamerad war, konnte danach gar nicht mehr anders als endgültig aufs Piano umsteigen. Und Bill Evans, der Kelly im Konzert "Speak Low" hatte spielen hören, musste dieses Stück bei seinem Plattendebüt einfach aufnehmen. Kelly war unwiderstehlich.

Daher wollte ihn jeder, aber auch jeder Bandleader als Pianisten mit dabei haben. Man muss da einfach Namen aufzählen, sonst glaubt das keiner. Dieser Wynton Kelly, der keine 40 Jahre alt wurde, war Sideman auf Studioplatten der größten Sängerinnen: Dinah Washington, Billie Holiday, Betty Carter, Abbey Lincoln, Helen Humes; der größten Trompeter: Dizzy Gillespie, Miles Davis, Lee Morgan, Donald Byrd, Clark Terry, Nat Adderley, Blue Mitchell, Chuck Mangione; der größten Posaunisten: J.J. Johnson, Jimmy Knepper, Curtis Fuller, Bob Brookmeyer; der größten Saxophonisten: Sonny Rollins, John Coltrane, Cannonball Adderley, Dexter Gordon, Wayne Shorter, Art Pepper, Roland Kirk, Johnny Griffin, Hank Mobley, Clifford Jordan, Benny Golson, Paul Gonsalves, Sonny Criss, Jimmy Heath. Er nahm mit dem Bebop-Scatter Babs Gonzales auf, war Gast in der Hardbop-Schmiede von Art Blakey, begleitete den Avantgarde-Sopransaxophonisten Steve Lacy. Erst an den Grenzen von Swing, Bop und Blues machte Wynton Kelly Halt. Einmal auf Tournee in Japan wurde ihm erzählt, dass der New-Jazz-Pianist Cecil Taylor in einer Rauferei seine linke Hand gebrochen hätte. Welch ein Horror für einen Klavierspieler! Kelly war geschockt. Doch als man dann eine Taylor-Platte auflegte und er erstmals die Musik des Free-Jazz-Pioniers hörte, sagte er nur: "Sie hätten ihm beide Hände brechen sollen!" Der Lacher war ihm sicher.

Seinen Durchbruch hatte er mit 19, 20 Jahren: Damals schon begleitete er Dinah Washington, Lester Young oder Dizzy Gillespie und nahm (für Blue Note) seine erste eigene Platte auf. Als Chefkoch in der Rhythmusküche von Gillespies Big Band spielte sich Kelly 1957 in die allererste Reihe. Dann kamen ein paar Jahre lang lauter kleine Heldentaten. Wie er mit dem eigenen Quartett den Gulaschgeigen-Schmachtfetzen "Dark Eyes" in ein swingendes Feuerwerk verwandelt... Wie er in Coltranes "Naima" mit 20 Takten Zurückhaltung die Emotionen zum Blühen bringt... Wie er in Miles' "Some Day My Prince Will Come" seine Achtelnoten im Walzertakt galoppieren lässt und die Soli der anderen gliedernd verschönert...

Wynton Kelly, Paul Chambers, Jimmy Cobb: Bei Miles fand dieses unglaubliche, viel bewunderte Rhythmustrio zusammen. Ein Glücksfall der Jazz-Geschichte: höchste Innovation bei höchster Unaufdringlichkeit. Die Live-Aufnahmen mit Miles in der Carnegie Hall und im Black Hawk zählen zu den Geheimtipps der Jazz-Sammler. Doch 1963 verließen die drei geschlossen ihren Arbeitgeber und erklärten sich zum Wynton Kelly Trio. Die Versuche von Herbie Hancock, Ron Carter und Tony Williams, bei Miles in die Fußstapfen der Vorgänger zu treten, mussten scheitern. Miles' neuer Rhythmus-Dreier konnte nur aufgeben oder eben in eine ganz andere Richtung gehen. Was er glücklicherweise tat.

Bereits 1962 hatten sich Kelly, Chambers und Cobb einen neuen Dienstherrn ausgekundschaftet: den Gitarristen Wes Montgomery. Nach Miles' strenger Ästhetik wirkte die bluesig-funkige Groove-Musik Montgomerys wie eine Befreiung: Die drei konnten ihr Können locker ausspielen, anstatt es immer auf den Punkt bringen zu müssen. Kelly, der mit Rhythm'n'Blues seine ersten Profi-Schritte getan hatte, entspannte sich merklich und empfand die Zeit mit Montgomery als seine musikalisch stärkste. Nichts deutete darauf hin, dass es Probleme in seinem Leben gab. Kelly war weder Junkie noch Alkoholiker. Allerdings trank er - nach dem Job! - ganz gerne etwas mehr, und das tat ihm sicherlich nicht gut: Denn Kelly war Epileptiker. Wann und wie er diese Krankheit erwarb, ob er sie einigermaßen unter Kontrolle hatte, ob er regelmäßig Medikamente nahm, ist nicht berichtet: Die Szene übte Diskretion. Daher kommt es wohl, dass man über den Menschen Wynton Kelly eigentlich recht wenig weiß. Doch seinem Kult-Status als sagenhafte Lichtfigur und perfektem Klavier-Helden hat das nicht geschadet. Er starb mit 39 Jahren an einem epileptischen Anfall in einem Hotelzimmer in Toronto, Kanada. An diesem Tag verlor die Sonne ihren hellsten Strahl.

© 2001, 2004 Hans-Jürgen Schaal


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