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Aus ihrem Schallbecher erklang der Jazz der ersten Stunde - eine Mischung aus Kreolen-Folklore und Voodoo-Zauber. Später mauserte sich die Klarinette zum kultivierten Solo-Instrument und hielt so noch eine Zeitlang die Saxophone am kurzen Zügel. Doch mit der Revolution des Bebop gab es für sie plötzlich keinen Platz mehr im Jazz. Erst etwa seit 1980 versucht sich die Klarinette an einem Comeback.

Instrumente des Jazz
DIE KLARINETTE
(1994)

Von Hans-Jürgen Schaal

Im Mythos erfand Pallas Athene das erste Rohrblattinstrument, um den menschlichen Klagegesang nachzuahmen. Das Werk der Göttin, eine Primitiv-Oboe, nannten die alten Griechen "Aulos" und ordneten es dem dionysischen Kult zu. Als "Zurna", "Argol" oder "Shenai" spielte es im Mittelmeerraum, in Afrika und im Orient (bis nach Indien hin) jahrhundertelang eine wichtige Rolle. Ihre moderne Form erhielt die "Schalmei" (englisch: "shawm") durch den Nürnberger Instrumentenbauer Johann Christoph Denner, der ihr um 1700 ein Überblasloch verpaßte. So entwickelte er zunächst das "Chalumeau", dann die Klarinette. Aber erst 150 Jahre später erhielt diese ihr Klappensystem: die Applikatur der Boehm-Flöte. Auch die Klarinette wurde ein multikulturelles Volksinstrument - in Frankreich ebenso zu Hause wie auf dem Balkan, in der Türkei ebenso wie im ostjüdischen Shtetl.

Neben der bekanntesten Klarinette, dem in Bb gestimmten Sopraninstrument, gibt es die höhere Es-Klarinette, aber auch solche in A und C sowie die Altklarinette und das Bassetthorn. Die heute gebräuchliche Baßklarinette (in Bb) entwickelte kein Geringerer als Adolphe Sax Mitte des 19. Jahrhunderts. Alle diese Klarinetten quintieren: Beim Überblasen schlägt ihr Ton in die Duodezime und verlangt deshalb einen weitaus besser kontrollierten Ansatz als etwa das Saxophon. Beim Wechsel der Tonlagen lassen sich deutlich vier verschiedene Register wahrnehmen: Das unterste ist unheimlichen, düsteren Effekten vorbehalten, das oberste nur im forte richtig zu blasen. Aus diesen hohen Schreien der Klarinette entstand die "hot music" oder - wie die Kreolen sagten - "haute musique".

So kommen wir vom griechischen Mythos zum Mythos des Jazz. Niemand weiß davon besser zu erzählen als die New-Orleans-Klarinette, das Echo der kreolischen Karibik. Auch hier spielt der Kult eine Rolle: Voodoo, jene synthetische Geheimreligion der neuen Welt, in der sich die verschiedenen westafrikanischen Riten zusammenfanden. "Kaum war die Musik geboren, wurde Voodoo weniger und weniger praktiziert, als ob seine Aufgabe hier erfüllt wäre" - so beschreibt Michael Ventura die Geburt des Jazz aus dem Geist des Congo Square. Die Rolle der Voodoo-Zauberer ging an die Klarinettisten über und ihr "efeuartiges Gerank", wie es in einem weitverbreiteten Jazzbuch heißt.

Weniger poetisch betrachtet, ist die Rolle der Klarinette im New-Orleans-Jazz zwar wesentlich, aber schlichtweg undankbar. Aller Glanz kommt der Trompete zu, die die Melodie modellieren darf. Die Posaune improvisiert dazu den harmonischen Kontrapunkt, unüberhörbar und oft mit erlesenem Witz. Der Klarinettist jedoch verteilt die schmückenden Girlanden, huscht durch die noch offenen Klangräume, setzt expressive Akzente - und darf doch nie der Trompete im Weg stehen. Er schafft Atmosphäre und Ausdruck ohne sich zu produzieren. Wahrlich: ein Zauberer. Die Trompete hatte ihren Buddy Bolden, ihren Freddie Keppard, ihren King Oliver und Louis Armstrong. Dann kamen Bunny Berigan, Tommy Ladnier, Bix Beiderbecke. Die Frühgeschichte der Jazzklarinette dagegen nennt zweimal, dreimal so viele Namen, die Legende wurden und Mythos.

Da ist der "wilde" Johnny Dodds, Klarinettist in Armstrongs Hot Five, und der "zarte" Jimmie Noone; da gab es George Lewis, den die Revivalisten der 40er Jahre als Hafenarbeiter in New Orleans wiederentdeckten, und Sidney Bechet, der in Frankreich ein Pop-Star wurde; da war Omer Simeon, der für Jelly Roll Morton blies, und Barney Bigard, der erst mit Ellington und dann mit Armstrong spielte; da waren Albert Nicholas und Leon Rappolo, später - in Chicago - Jimmy Dorsey und Pee Wee Russell, Frank Teschemacher und Mezz Mezzrow, dann Buster Bailey, Edmond Hall, Peanuts Hucko... Viele von ihnen haben französische Namen - Kreolen, die unter französischem Kultureinfluß die Klarinette erlernten, aber eine ganz eigene Musik damit spielten, Voodoo-Musik. Der erste Jazz-Klarinettist soll Alphonse Picou gewesen sein, aber zur gleichen Zeit gab es auch schon einen George Baquet, einen Lorenzo Tio... Der Übergang von der Folklore zum Jazz ist fließend und bleibt ein Geheimnis.

Der besondere Nimbus, der die frühen Klarinettisten umgibt, nährt sich aus manchem individuellen Schicksal. Rappolo, der Klarinettist der New Orleans Rhythm Kings, brachte sich durch Rauschgift um den Verstand. Mezz Mezzrow ernannte sich zum weißen Neger, wanderte von Gefängnis zu Gefängnis und konnte - nach Meinung vieler - gar nicht spielen. Pee Wee Russell galt als "Gertrude Stein des Jazz", schon bevor der Chicago-Musiker begann, sich für Ornette-Coleman-Stücke zu interessieren. Frank Teschemacher, noch keine 26 Jahre alt, kam bei einem Autounfall ums Leben. Sechzehn Jahre später fand Stan Hasselgard, gerade 26 geworden, dasselbe Ende. Artie Shaw dagegen zog sich auf dem Höhepunkt seines Erfolgs von der Musik zurück und wurde Schriftsteller. Er lebt noch heute.

Die Rolle der Klarinette änderte sich grundlegend, als die traditionelle Kollektivimprovisation mehr und mehr einem solistischen Konzept wich. Im Chicago Jazz und mehr noch im Swing steigerte sich der Klarinettist zum Big-Band-Zampano, der mit seinem schwarzen Zauberstab Mitspieler wie Zuhörer hypnotisierte. Keinem gelang dies so wie Benny Goodman, der schließlich den Titel "King of Swing" davontrug - er und nicht etwa Duke Ellington, Count Basie oder Fletcher Henderson, der für Goodman arrangierte. Benny Goodman europäisierte die Sprache der Jazz-Klarinette, verband sie mit Stilmitteln der klassischen und auch der Klezmer-Musik. Seit 1934 leitete er seine eigene Big Band, überzeugte aber zugleich als Interpret von Mozarts Klarinettenwerken. Auch zeitgenössische Komponisten haben für ihn geschrieben - darunter Copland, Milhaud, Bartók, Hindemith und Bernstein.

Der Jazz der 30er Jahre verdankte Benny Goodman nicht nur einen enormen Popularitätsschub, sondern auch eine Erneuerung des Combo-Spiels zu einem Zeitpunkt, als alle Welt nur von großen Orchestern sprach. Schon 1935 begann Goodman, seine Erfahrungen aus Jazz und Kammermusik in kleinen und kleinsten Besetzungen zu formulieren, für die er seine wichtigsten Big-Band-Solisten heranzog: Teddy Wilson, Gene Krupa, Lionel Hampton, Charlie Christian, Roy Eldridge und Zoot Sims. Zu einer wichtigen Voraussetzung für den modernen Jazz wurde eine neue Sensibilität im Combospiel, wie sie zur gleichen Zeit nur vom John Kirby Sextet erreicht wurde (mit Buster Bailey an der Klarinette). Goodman leistete Pionierarbeit aber auch auf einem anderen Gebiet: in der Integration schwarzer und weißer Musiker, deren öffentliches Zusammenwirken bis dahin noch absolut verpönt war. Er schuf den Präzendenzfall, und er war der erste, der ihn sich leisten durfte.

Für alle Klarinettisten seiner Zeit wurde Goodman zum Vorbild - in seiner Spielweise wie in seinem Erfolg. Sein größter Konkurrent, Artie Shaw, liebäugelte in seinem Klarinetten- wie auch Orchesterstil mit einer Synthese aus Swing und Konzertmusik. Auch Jimmy Dorsey wurde dem heißen Jazz untreu und setzte auf leichte Unterhaltung, hatte aber seine glücklichste Zeit im gemeinsamen Orchester mit seinem Bruder Tommy, dem Posaunisten. Woody Herman schließlich, für dessen Orchester Igor Stravinsky sein "Ebony Concerto" schrieb, verband Goodmans Stil mit dem modernen Jazz und leistete sich bis zuletzt den Luxus einer Big Band. Als er 1987 starb, war er völlig verschuldet.

Die wichtigsten schwarzen Klarinettisten des Swing schafften den Sprung zum Orchesterleiter nicht oder nur kurzzeitig. Benny Goodmans Rivale und "Lieblingsklarinettist" Edmond Hall stellte erst 1944 eine eigene Band auf die Beine, die nur wenige Jahre hielt. Auch als Sideman von Louis Armstrong oder Eddie Condon erlebte er später nie den großen Durchbruch, der ihm zugestanden hätte. Jimmy Hamilton, der mehr als 25 Jahre lang Duke Ellingtons erster Klarinettist war, wagte auf diesem Instrument nur zögernd jene Schritte in den modernen Jazz, die ihm als Tenorsaxophonist selbstverständlich waren. Erst das Klarinettenquartett "Clarinet Summit" verhalf in den 80er Jahren Hamiltons Modernität und Vielseitigkeit zu vollem Ausdruck.

Jimmy Hamiltons Bevorzugung des Saxophons ist symptomatisch für das Schicksal der Klarinette im modernen Jazz: Sie wurde zum Stiefkind. In Volumen und Dynamik, Ausdruckskraft und Beweglichkeit waren ihr jene Instrumente überlegen, die den Bebop geschaffen hatten: Trompete und Saxophon. Zwar hatte die Klarinette "ihren" Charlie Parker in Buddy DeFranco, der mit den Pionieren des Bebop mithielt und von der Mitte der 40er Jahre bis Mitte der 50er Jahre fast alle Klarinetten-Polls gewann. Doch selbst dieser Ausnahmemusiker, vielleicht einer der virtuosesten Klarinettisten aller Zeiten, resignierte bald. Immer öfter fand er sein Unterkommen in Swing-Bands und akzeptierte schließlich die Leitung des Glenn-Miller-Orchesters, um überhaupt über die Runden zu kommen. Die Klarinette war zum Inbegriff des traditionellen Jazz geworden und im Bebop schlichtweg nicht gefragt. Erst seit den späten 70er Jahren erregt DeFrancos Kunst wieder Aufsehen, vor allem durch die Einspielungen mit einem anderen halbvergessenen Virtuosen, dem Vibraphonisten Terry Gibbs.

Auf die Frage, warum Benny Goodman nicht Bebop spielte, meinte DeFranco kühl, weil er es nicht könne. Tatsächlich scheint das schwierige Instrument für die hektischen, intervallfreudigen Phrasen des Bop nicht geschaffen. DeFranco blieb ein Einzelfall, die Bebop-Klarinette ein Paradiesvogel. Wären andere Klarinettisten fähig gewesen, DeFrancos Beispiel zu folgen, hätte sich die Geschichte des Instruments vielleicht anders entwickelt. Der einzige, der da mithalten konnte oder wollte, war Tony Scott, doch ihn zog es bald fort in exotische Länder, von wo er als Spezialist für meditative Zen-Klänge wiederkehrte. Nur noch selten ließ er später seine Schwäche für den Bebop erkennen.

Etwas erfolgreicher war die Klarinette im Westcoast Jazz. Es ist vor allem Jimmy Giuffre zu verdanken, daß sich das Hot-Instrument zur kühlen Klangfarbe wandelte und die überblasenen cries dem sanfteren Chalumeau-Register Platz machten. Mit seinem fast kammermusikalischen Combo-Konzept wurde Giuffre zu einem modernen Nachfolger Goodmans: ein stiller Avantgardist, der sich zu Beginn der 60er Jahre plötzlich im Free Jazz wiederfand. Ähnlich experimentelle Westcoast-Wege gingen John LaPorta, Aaron Sachs oder der Deutsche Rolf Kühn. Die Klarinette allein jedoch garantierte längst keine Zukunft mehr. Scott, Giuffre, Sachs und LaPorta, aber auch Zoot Sims und Buddy Collette waren Multi-Instrumentalisten, die unter anderem eben auch Klarinette spielten. Vielleicht gehörte ihre große Liebe diesem Instrument, aber der Zeitgeschmack verlangte als Alternative das Saxophon.

Zu den Multi-Instrumentalisten mit Westcoast-Wurzeln zählt auch Eric Dolphy, der Free-Jazz-Pionier. Zwar setzte der Kalifornier sein erstes Instrument, die Klarinette, in späteren Jahren kaum mehr ein, dafür erschloß er dem Jazz die größere Variante, die Baßklarinette. Das Altsaxophon mag Dolphys Hauptinstrument gewesen sein, doch sein Spiel auf der Baßklarinette war spektakulärer und ist bis heute in Technik und Ausdruck unerreicht - trotz eines Bennie Maupin, David Murray und Gianluigi Trovesi, die wichtige Beiträge auf diesem Instrument lieferten. Wie schon Harry Carney, der die Baßklarinette im Duke-Ellington-Orchester hin und wieder einsetzte, spielt mancher Baßklarinettist im "Hauptberuf" Baritonsaxophon: John Surman, Bernd Konrad, Wollie Kaiser, Gunter Hampel. "Reine" Baßklarinettisten wie Michel Pilz sind die Ausnahme. Im Mainstream-Jazz wird das Instrument - wohl wegen seiner extremen Klangfarbe - sträflich vernachlässigt.

Mit der Aufwertung des Sopransaxophons durch den späten Sidney Bechet und den mittleren John Coltrane schien die Klarinette überflüssig geworden. Nach "My Favorite Things" wurde das Sopran zum Pflicht-Zweitinstrument der Saxophonisten und war damit jederzeit zur Hand, wenn eine hohe Stimme gebraucht wurde. Das altväterliche Klarinettenholz war im rebellischen Klima der 60er Jahre deplaziert, wie Ornette Colemans Weggefährte John Carter bald erkannte. Erst Ende der 70er Jahre kehrte die Klarinette plötzlich wieder, aber - ganz antizyklisch - nicht im Rahmen des damals angesagten Bop-Revivals, sondern als experimentelle Stimme des Post-Free Jazz. "Go Ahead, Clarinet": Diese Losung gab 1978 der Deutsche Theo Jörgensmann aus, der auch das Bassetthorn in den Jazz schmuggelte. In den 80er Jahren gründete er zusammen mit Eckard Koltermann ein "German Clarinet Duo" und das Klarinettenquartett "CL-4", dem anfangs auch der ungarische Virtuose Lajos Dudas angehörte. Dudas schlug die zuvor undenkbare Brücke von swingendem Bach zu zerklüfteter Moderne und erhielt 1982 einen hochdotierten Kompositionspreis für sein Stück "Urban Blues".

Bereits 1979 fand sich Jörgensmann mit fünf weiteren Klarinettisten zu einem jener "Summits" zusammen, wie sie damals allenthalben Mode waren. Daß die Europäer da noch überwogen, erklärt sich nicht nur aus dem Ort des Geschehens, dem Kurfürstlichen Schloß in Baden-Baden. Die hiesigen Musiker hatten durch ihre weitgehend autonome Free-Jazz-Szene schneller eine Neudefinition der Klarinette gefunden als die stärker mit der Jazz-Tradition verbundenen Musiker aus den USA. Dort gab es praktisch nur zwei Klarinettisten, die über die experimentellen Jahre hinweg dem Instrument die Treue gehalten hatten: John Carter, der schwarze Texaner der ersten Free-Jazz-Generation, und Perry Robinson, der magische Klezmer, der bei Archie Shepp genauso daheim war wie bei Dave Brubeck.

Weil sich die Klarinette im Konzert der zeitgenössischen Jazz-Stimmen so schwer tut, sucht sie gern ihresgleichen. Im afro-amerikanischen Quartett "Clarinet Summit" fanden 1984 die Generationen und Stile zusammen: der Ellington-Musiker Jimmy Hamilton, der Free-Pionier John Carter, der Kreole Alvin Batiste und Jungstar David Murray, der schon im World Saxophone Quartet gezeigt hatte, wie man auf der Baßklarinette den Walk-Baß bläst. Sein dortiger Kollege Hamiet Bluiett stellte im gleichen Jahr seine eigene "Clarinet Family" vor, und plötzlich schien es wieder Klarinettisten in Fülle zu geben. Don Byron, John Purcell und J.D.Parran gehörten zu den jungen Teilnehmern in Bluietts Experiment, und mit Buddy Collette war auch die ältere Westcoast-Generation vertreten. Daß auch das enfant terrible des deutschen Free Jazz, Peter Brötzmann, sein Klarinetten-Projekt hatte, sei hier nur am Rande vermerkt.

Die Erneuerung der Klarinettensprache im Jazz verläuft heute quer zum boppenden Mainstream. Kein Wunder, denn die Klarinettisten haben es versäumt, ihrem Instrument in den 50er Jahren eine moderne Grammatik zu erarbeiten, auf die man jetzt zurückgreifen könnte. Stattdessen mausert sich die Klarinette zur postmodernen Stimme des Jazz, getragen und inspiriert von einem multikulturellen Pluralismus, der auch eine Renaissance der klarinettengeprägten Klezmer-Musik einschließt. "Imaginäre Folklore" nennen sie es in Frankreich, wo einer der neuen Stars des Instruments zu Hause ist, Louis Sclavis. Zwischen Avantgarde und Kammermusik, Swing und Balkan hat sich der Multi-Virtuose Sclavis in kurzer Zeit seinen eigenen Nimbus erspielt - als Symbolfigur der französischen Szene und Weltmusik-Institution im europäischen Jazz.

Der andere Star der neuen Klarinette lebt und wirkt jenseits des Ozeans: Don Byron. Vor wenigen Jahren noch ein unbeschriebenes Blatt, führt Byron heute unangefochten alle Klarinetten-Polls an und kann sich die Engagements aussuchen. Ihm gelang das Kunststück, zeitgenössische Avantgarde mit Oldtime-Sounds zu versöhnen, verfremdete Klezmer-Musik, Ornette Coleman und Monk unter einen Hut zu bringen. Der Hard-Bop-Mainstream bleibt freilich ausgespart. Wir hören Byron bei Craig Harris, Uri Caine und Ralph Peterson und in den Bands von Bobby Previte, wo er auf einen Klarinettisten ähnlichen Kalibers trifft: den Multi-Instrumentalisten Marty Ehrlich.

Im Neo-Bop-Bereich, in dem sich all die jungen Trompeter, Saxophonisten und Pianisten tummeln, ist die Klarinette weiterhin rar - wie übrigens auch die Posaune. Der einzige, der sich hier etablieren konnte, hat inzwischen auch schon die 50 überschritten: Eddie Daniels, der legitime Nachfolger Buddy DeFrancos. Wie dieser ist Daniels ein überlegener Bebop-Virtuose, der freilich von solchen Capricen nicht leben kann. Immer wieder zieht es ihn in kommerziellere Gefilde, Fusion und Klassik, und zum gewöhnlichen Tenorsaxophon zurück. Auf einer Hardbop-Session zusammen mit den Young Lions der Szene ist Daniels so schwer vorstellbar wie der Klang seines Instruments innerhalb einer Combo mit dreistimmigem Bläsersatz. Die Klarinette bleibt ein Einzelgänger, ein Zauberstab für Individualisten und Schamanen. Und da wirkt der alte Voodoo-Zauber noch heute.

© 1994, 2004 Hans-Jürgen Schaal


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