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Wo trifft man Lee Konitz? Natürlich im Flugzeug. Seit fünf Jahren wohnt er zwar in Köln, aber noch immer sind er und sein Saxophonkoffer als Globetrotter in eigener Sache ständig unterwegs: heute Bologna, morgen New York, nächste Woche Japan. Der Weg ist das Ziel: Das gilt auch für seine Musik.

Lee Konitz
Reisender Magier der Variation
(2002)

Von Hans-Jürgen Schaal

Als Lee Konitz zum Altsaxophon kam, war Charlie Parker das Maß aller Dinge. Wer ernst genommen sein wollte, musste so spielen wie "Bird": diese Phrasen, diesen Ausdruck, diese Hitze. Lee Konitz war noch ein Teenager in Chicago, aber er erkannte deutlich: Dieser Parker ist perfekt, du kannst ihn nur imitieren, drum lass es! Und irgendwie ist er dem allgegenwärtigen Einfluss entkommen – obwohl er dann nach New York ging, ins Zentrum des Bebop, und in der Band von Claude Thornhill über Parker-Stücke wie "Yardbird Suite" und "Anthropology" solierte. Dieser junge Mann mit der Hornbrille klang definitiv anders. So anders, dass mancher schrieb, Konitz hätte mit seinen Soli bei Thornhill den Cool Jazz erfunden.

Jedenfalls: Als Miles Davis für die Firma Capitol ein Orchester zusammenstellt und dafür die besten Leute von Thornhill holt – Gil Evans, Johnny Carisi, Gerry Mulligan, Al McKibbon, John Barber –, da muss natürlich auch Lee Konitz mitkommen. Und so wird das Jahr 1949 zum Triumphjahr des Cool Jazz: Im Januar und April nimmt Konitz mit Miles Davis auf, im März und Mai mit Lennie Tristano, dem blinden Pianisten, und im Januar, Juni und September sogar als Bandleader. Beim Künstler-Poll der Zeitschrift Metronome belegt Lee Konitz zum Jahreswechsel 1949/50 Platz eins – vor Charlie Parker.

Lee Konitz war eine Schlüsselfigur des frühen Cool Jazz: sein körperloser, vibratoarmer Saxophonton, sein sprödes, unsentimentales Balladenspiel, die zurückgenommene Emotion, das kompositorisch Durchdachte seines Solo-Aufbaus. Seine musikalische Heimat fand er schon als Teenager bei Lennie Tristano, der dieses so ganz untypische Temperament schützte und entwickelte. "Ich bin ihm dankbar, dass er mir die Tür öffnete", sagt Konitz noch heute. "Er zeigte mir, dass es da etwas Ernsthaftes zu lernen gab." Bei Tristano lernte er Soli von Lester Young und Roy Eldridge auswendig, entdeckte die Schönheit spontaner Melodielinien, kontrapunktischer Verflechtung und fundamentalen Risikos. Im Mai 1949 spielte er mit dem Tristano-Sextett die Stücke "Intuition" und "Digression" ein, dynamisch gebremste Kollektiv-Improvisationen, die im Rückblick wie die Erfindung des Free Jazz klingen. Nur auf Druck einflussreicher Jazzkritiker war Capitol bereit, die skandalösen Aufnahmen überhaupt zu veröffentlichen. Als sich der Free Jazz in den 60er-Jahren zur Avantgarde erklärte, war es Miles Davis, der die Dinge zurechtrückte: "Tristano und Konitz hatten vor 15 Jahren Ideen, die gewagter waren als alles, was heute so gemacht wird."

Tristano war der Erste, der eine Improvisations-Lehrmethode entwickelte, und Lee Konitz galt als sein Meisterschüler. Niemand ist so konsequent wie der Altsaxophonist den Weg der stillen Vervollkommnung gegangen. Konitz’ Ton wurde kräftiger, speziell nach den Monaten in der blechlastigen Band von Stan Kenton, aber reißerisch expressiv wurde er nie. Das Lebensgefühl Charlie Parkers und anderer schwarzer Musiker, die in ihrer Musik verbrannten, ist Lee Konitz fremd. Blue Notes passen nicht zu ihm, sagt er. Er befindet sich auf einer unspektakulären, lebenslangen Reise: ein sachlicher Mann mit einem knorzigen, trockenen Humor. Den einen gilt er als "der größte Künstler Amerikas", den anderen als esoterischer Überflieger. Ein Durchschnitts-Musiker ist er nicht.

Vor über 40 Jahren formulierte es Lee Konitz etwa so: "Nach meinem Gefühl sollte ein Song als Vehikel für musikalische Variationen dienen. Und das äußerste Ziel ist es, so viel Freiheit wie möglich von den harmonischen, melodischen und rhythmischen Beschränkungen der Songmelodie zu gewinnen. Aber der Song muss die Akkorde und Variationen zusammenhalten. Deshalb habe ich mich nie damit beschäftigt, neue Songs zu finden. Ich habe oft das Gefühl, ich könnte ewig die gleichen Songs spielen und immer noch mit neuen Variationen aufwarten." Daran hat sich nichts geändert: Noch immer ist Lee Konitz vom Mysterium des Unvorhersehbaren fasziniert und erschafft aus dem Augenblick atemberaubend schöne Melodien über altbekannte Akkordfolgen. Noch immer ist sein einziges Ziel der Weg: die beispiellos originelle Spontan-Variation. "Sobald ich eine Phrase spiele, die mir bekannt vorkommt, breche ich ab." Mit Stücken wie "Body And Soul" oder "All The Things You Are" setzt er sich seit über 50 Jahren auseinander. Besonders prägnante Chorusse schreibt er auf und betitelt sie: So entstehen Konitz’ Kompositionen.

Lee Konitz stellt in der Welt des Jazz einen Gipfelpunkt der Improvisationskunst dar. Sein Timing, sein Verhältnis zu Zählzeit und Taktstrich, grenzt an Magie. Seine Linien beginnen irgendwann und irgendwo, mäandern auf einer geradezu surrealen Ebene und finden zu immer wieder überraschenden Schlusspunkten. Altsax-Kollege Paul Desmond verglich Konitz’ Abstraktionsleistung einmal mit jemandem, der ein Mobile baut, während er auf einem Artistenrad fährt. Dieses Prinzip der linearen Variation führt direkt ins kontrapunktische Denken: Schon Tristano fühlte sich spirituell der Barockmusik nahe, seine Schüler bauten Bach-Inventionen in ihr Jazzprogramm ein. Mit dem Tristano-Gitarristen Billy Bauer hat Konitz bereits 1950 und 1951 die spontane lineare Verflechtung geübt. Später fand er im Tenorsaxofonisten Warne Marsh, einem weiteren Tristano-Schüler, einen kongenialen Partner für improvisierten Kontrapunkt. Zahlreiche Alben hat Konitz über die Jahrzehnte im unbegleiteten Duett aufgenommen – mit einem oder mit wechselnden Partnern.

Um 1960 war Cool Jazz Schnee von gestern und der vielfache Pollsieger Lee Konitz verdingte sich vorübergehend als Tapezierer oder Gärtner. Doch nicht umsonst hatte die Tristano-Schule 1949 die ersten freien Jazzstücke gespielt – und ihr Einfluss wuchs. Bald schuf der Altsaxophonist im Verbund mit anderen Einzelgängern wie Albert Mangelsdorff, Attila Zoller, Don Friedman, Paul Bley, Martial Solal oder Karl Berger große Kunstwerke eines kühl disziplinierten freien Jazz: "Duets" (1967), "Satori" (1974), "Four Keys" (1979). Mag er es, wenn man seine Musik kühl, abstrakt, kopfgelenkt nennt? Konitz trocken: "Die Leute dürfen sie nennen, wie sie wollen, solange sie meinen Namen richtig schreiben." Gerade für Europas Szene war Konitz’ Einfluss unschätzbar. 1951 war er erstmals in Schweden, 1955 in Deutschland. Seit Jahrzehnten reist er, wie er selbst sagt, als "globaler Troubadour" um die Erde, hat musikalische Freunde auf jedem Kontinent, bläst Chorus um Chorus für Labels in jeder Weltecke. Die Zahl der Alben unter seinem Namen ist längst dreistellig.

Wie Tristano ist auch Lee Konitz ein großer Jazzpädagoge. Er bespielte Platten für "Music Minus One", verschickt Lehrkassetten, leitet Meisterklassen und Workshops. Keiner ist so wie er berufen, in die Kunst der Improvisation einzuführen. Ein von ihm entwickeltes 10-Stufen-System für Studenten beschreibt die allmähliche Ablösung der improvisierten Linie von der Ausgangsmelodie. Auf Stufe 6 sind noch einzelne Fragmente der Melodie zu hören, aber rhythmisch versetzt. Auf Stufe 8 gibt es nur noch einen entfernten Anklang, auf Stufe 9 hat sich die Improvisation ganz von der Ausgangsmelodie emanzipiert. Auf Stufe 10 regiert die Schönheit der puren Inspiration. Das ist der Moment, wenn der Mann mit dem weißen Bart lächelnd eine neue Komposition notiert.

© 2002, 2004 Hans-Jürgen Schaal


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