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Noch eine lebende Legende: Pat Martino, der gitarristische Einzelgänger der 60er und 70er Jahre, der virtuose Sonderling und Pionier der Fusion-Welle, ist endgültig zurückgekehrt von einer langen, langen Reise. Sie führte nicht nach Indien, nicht ins Nirvana, nicht in die Drogen - aber dennoch an die Grenzen des Ichs.

Pat Martino
Die Grenzen des Ichs
(1998)

Von Hans-Jürgen Schaal

Aneurysma: So nennen die Mediziner die krankhafte Erweiterung einer Arterie. Liegt sie im Gehirn, drohen tödliche innere Blutungen oder ein Hirnschlag. Ein solches Aneurysma im Gehirn fand man bei Pat Martino im Alter von 35 Jahren, nachdem er einen rätselhaften Anfall erlitten hatte. Er mußte sich einer Hirnoperation unterziehen und verlor dabei große Teile seines Gedächtnisses: Erinnerungen an Menschen, an Erlebnisse, an tausendfach gespielte Jazz-Standards. Heute, 18 Jahre später, sagt er: "Ich bezweifle, daß mein Gedächtnis auch nur annäherungsweise zurückgekommen ist. Ich treffe immer noch Menschen, die mich von früher kennen, und ich habe keine Ahnung davon. Ich bin immer wieder schockiert."

Auch das Gitarrespielen mußte Pat Martino neu lernen, wenn auch nicht von Grund auf. "Bestimmte Dinge sind mir geblieben. Das ist, wie wenn man als Kind Radfahren gelernt hat: Das verlernt man nie mehr. Aber wie ich die Gitarre einsetze und was ich damit sagen möchte - daran mußte ich hart arbeiten. Denn Technik, Stil, Authentizität kommen aus den eigenen Erfahrungen. Also mußte ich vor allem lernen, wer ich eigentlich gewesen bin." Dennoch ist Martino überzeugt davon, daß der Verlust seiner Erinnerungen keine Tragödie war, sondern eine große Chance zum Neuanfang. "Es war eine glückliche Gelegenheit, mir darüber klarzuwerden, was mir im Leben wichtig ist. Ich sehe das nicht als Unterbrechung eines Prozesses, sondern es war in gewisser Weise notwendig."

Beinahe wäre er in seinem zweiten Leben kein Gitarrist mehr geworden. Während der Rehabilitation beschäftigte sich Martino so eingehend mit den Möglichkeiten der digitalen Musik, daß er den Computern schon den Vorzug geben wollte. Wäre da nicht Michael Hedges gewesen, der Kollege und Verehrer, der ihn regelmäßig im Hospital besuchte, ihm auf den sechs Saiten vorspielte und neue Begeisterung für das Instrument weckte, wäre "Joyous Lake" von 1977 wohl das letzte Gitarren-Album von Pat Martino geblieben. "Michael nahm sich immer wieder Zeit für mich - aus reiner Freundschaft. Er wollte das wieder herstellen, was ihn einmal in meiner Musik berührt hatte."

Auch ein anderer garantierte für Kontinuität in Martinos Leben: Michael Cuscuna, heute Jazz-Produzent, hatte 1967 als 19jähriger Fan den Gitarristen kennengelernt und war sein Freund geworden. Seine ersten Liner Notes schrieb Cuscuna für Martinos Platte "Baiyina" (1968), nun hat er das neue Album "Stone Blue" (Blue Note/EMI) mitproduziert. Die CD ist gewissermaßen ein Brückenschlag von der Gegenwart zurück in Martinos legendäre, für ihn seltsam entrückte Vergangenheit. Schon die Besetzung verrät es: Keyboarder Delmar Brown und Schlagzeuger Kenwood Dennard (die auch bei Jaco Pastorius oder beim Quincy-&-Miles-Konzert von Montreux zu hören waren) spielten Ende der 70er Jahre bereits in Martinos Band. Die anderen Akteure, E-Bassist James Genus und Tenorsaxophonist Eric Alexander, waren damals noch Kinder und gehören ganz in Martinos zweites Leben. Die musikalische Mischung schillert quer durch die Zeiten: eine faszinierende Fusion aus Gestern und Heute, aus Jazz-Phrasierung, elektrischen Sounds und Funk-Rhythmen.

Ein Mann der Fusion war Pat Martino immer schon - lange bevor das Wort eine musikalische Schublade benannte. Sogar den unter Gitarristen sprichwörtlichen Pat-Martino-Stil sieht er als eine Kreuzung aus Gegensätzen: aus Johnny Smiths Präzision und Wes Montgomerys Feeling. "Ich lernte bei Wes viel über die emotionale Seite der Gitarre. Die Melodien, die er spielte, besaßen rhythmische Poesie. Bei Johnny Smith war Gitarrespielen das Gegenteil: präzise Technik. Sein Beispiel lehrte mich Klarheit, Sauberkeit. Das Resultat dieser beiden Einflüsse ist, daß ich dieses Instrument bis heute verehre." Wie Montgomery, der ihm ein väterlicher Freund wurde, wie Grant Green oder George Benson kam Pat Martino aus dem Soul-Jazz der Hammond-Combos. Mit 15 Jahren war er Profi und spielte in Kürze mit all den Heroen der damals jungen Jimmy-Smith-Schule: Jack McDuff, Willis Jackson, Don Patterson, Groove Holmes, Jimmy McGriff, Charles Earland - und natürlich mit Meister Smith selber. Entsprechend früh folgte die Emanzipation: "Ich habe sehr bald beschlossen, daß ich nur Sachen machen wollte, mit denen ich glücklich war. Und da ich als Sideman nie über die Musik bestimmen konnte, war ein entscheidender Wandel in meinem Leben notwendig. Um alles unter Kontrolle zu kriegen, mußte ich meine eigene Band gründen." Martino war 22 Jahre alt, als er für Prestige seine erste Leader-Platte aufnahm, "El Hombre": ein Wunderkind wie 20 Jahre später Pat Metheny.

Martinos Spiel erschien vielen damals wie ein Griff zu den Sternen. Technisch unnachahmlich, verband der Youngster klangliche Differenzierung mit höchstem Tempo und souligem Tiefgang. "Dieser junge Mann wird von heute an viele Jahre lang die Polls beherrschen", orakelte Mark Gardner 1968. Pat Martino wurde zum Fusion-Pionier, adaptierte Rock-Rhythmen, östliche Klänge, Anregungen aus der E-Musik. Er machte die Jazz-Gitarre zu einer universellen Stimme des Aufbruchs. "Nein, ich war nie auf dem spirituellen Trip, es war reine Neugierde. Nicht nur die indische Musik war in jenen Jahren präsent, auch Stockhausen, Penderecki. Alles das wartete und rief nach Aufmerksamkeit." Pat Martino, der Avantgardist, experimentierte sogar mit einer bundlosen akustischen und einer 12-saitigen elektrischen Gitarre, mit Tonbändern und untemperierter Stimmung. Zweifellos war er ein Einzelgänger: bewundert, unerreichbar, rätselhaft.

Technisch geschliffen wie sein Spiel ist auch die Sprache des heute 54jährigen. Mit hageren Wangen, Menjoubärtchen und weißen Schläfen erinnert er auf Bildern an einen türkischen Intellektuellen, am Telefon erweist er sich als ein Meister des Satzbaus und der Abstraktion. Mit sonorer Stimme und unumstößlicher Gewißheit verkündet er mir, daß seine schwere Krankheit ihren biographischen Sinn hatte und daß das Leben wundervoll ist. Dabei dauerte es fast 15 Jahre, ehe er seine so brutal unterbrochene Karriere fortsetzen konnte. Drei Jahre nach der Operation begann er zwar wieder zu spielen und machte 1987 auch ein Comeback-Album, "The Return", doch dann wurden seine Eltern zu Pflegefällen: Vielleicht hatte ihnen das Schicksal des Sohnes zu sehr zugesetzt. "Obwohl ich selbst noch nicht ganz hergestellt war, konnte ich mich vor der Verantwortung nicht drücken. Ich wurde seßhaft und war ganz für die beiden da. Meine Mam starb dann 1989, mein Vater im Jahr darauf." Die Eltern waren es, die Pat - in zartem Alter - zum ersten Mal zu einem Konzert von Wes Montgomery mitgenommen hatten. Der Star des Abends entdeckte das Kind, kam nach dem Set in frischer Kleidung an die Bar und stellte sich der ganzen Familie vor. "Das machte mich sprachlos. Es ist meine schönste Erinnerung an ihn."

Mit Les Paul, einem anderen seiner frühen Heroen, ging Martino übrigens vor zwei Jahren ins Studio. Die gemeinsame Aufnahme mit dem damals schon 80jährigen ist nur eine von mehreren Begegnungen mit Gitarristen-Kollegen, die auf Martinos Blue-Note-Debüt "All Sides Now" zu hören waren. Der Titel signalisierte Offenheit in sämtliche Richtungen, und am anderen Ende der Skala saitenspielender Partner stand doch tatsächlich Rock-Virtuose Joe Satriani. "Ja, ich höre auch Rockmusik", verrät Martino, "aber nicht im stillen Kämmerlein, sondern wenn ich unterwegs bin. Verschiedene Arten von Musik verlangen verschiedene Umgebungen. Ich mag Jerry Garcia, Carlos Santana, auch Eric Clapton. Für mich sind sie nicht nur Gitarristen, sondern etwas viel Größeres: Die Gitarre ist für ihre Form der Kommunikation ja nur ein Ornament." Das erinnert dann doch an Sätze, die Pat Martino in einem früheren Leben sprach: "Es ist nicht die Gitarre, mit der ich es zu tun habe. Die Gitarre ist ja nur ein Instrument, und man stößt rasch an dessen Grenzen."

© 1998, 2003 Hans-Jürgen Schaal


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