Eines der größten Talente der Jazz-Geschichte scheiterte an existenziellen Ängsten. Sein Name hat bis heute legendären Klang in Jazz-Zirkeln, aber größer noch ist seine Reputation als Knacki. Zu Art Peppers 20. Todestag erinnern wir an einen Altsaxofonisten, der nicht zu retten war.
Art Pepper
Falsche Paradiese
(2002)
Von Hans-Jürgen Schaal
Der Arrangeur Marty Paich ließ keinen Zweifel: "Er war der größte Saxofonist, den ich je gehört hatte. Weit über allen anderen. Art ist eine Klasse für sich." Schon als Teenager war Pepper eine kleine Berühmtheit, fiel durch seine individuelle Stilistik auf, seinen schweren, warmen Altsaxofon-Sound, seine lyrische Akzentuierung der Töne, seine zielgerichtet gebauten Soli. Aus dieser Stilistik sprach die Schule des Klarinettenspiels, aber auch Arts Verehrung für den lyrisch swingenden Tenorsaxofonisten Lester Young. Dessen jüngerer Bruder Lee, der Schlagzeuger, vermittelte den 17-jährigen Pepper in die schwarze Band des großen Swing-Altisten Benny Carter, wo der weiße Jüngling das Vize-Alt spielte und bei kleineren Anlässen sogar die Chef-Soli bekam. Auch für Art Pepper gab es keinen Zweifel: Er wollte der größte Jazzmusiker Amerikas werden. Und das Einzige, was ihn daran hindern sollte, das war er selbst.
Pepper gehört zu den absolut verstörenden und Furcht erregenden Erscheinungen der Jazz-Geschichte. Einerseits ein musikalisches Naturtalent, gut aussehend, charmant und intelligent, eine Mischung aus Marlon Brando, Marcello Mastroianni und Latin Lover, erfolgreich bei Frauen und beim Publikum. Andererseits ein Monster, von Ängsten und Depressionen gejagt, unentwegt damit beschäftigt, sich, sein Leben, seine Karriere zu zerstören und seine Umwelt unglücklich zu machen. Art Pepper war (in den Worten des Magazins "Time Out") "ein echt beängstigender Soziopath, der sich ein Gehirn teilte mit einem Saxofonisten, der schöne, zärtliche Musik machte." Mister Hyde und Doktor Jekyll.
"What’s wrong with you?" Diese Frage hat man Art Pepper oft gestellt – und sie bleibt unbeantwortbar. Viele suchten Gründe in seiner Kindheit. Die Eltern waren Trinker, stritten sich zuweilen bis aufs Blut, vergaßen das Kind, ließen es bei der Großmutter: "Keiner wollte mich. Da war keine Liebe und ich wünschte mir zu sterben." Der Junge hatte Angst vor dem Dunkel, vor den Wolken, vor der Kälte, vor anderen Kindern. Schon vor seiner Geburt hatte die Mutter versucht, ihn loszuwerden: Art kam rachitisch, unterernährt, kaum lebensfähig zur Welt und glich einem kranken, gelben Vogel. Vor dem Vater, dem imposanten, blonden Seemann, sollte er sich immer schwach, schmutzig und unwert fühlen. Kein Wunder, dass der kleine Art davon träumte, ein starker, böser Kerl zu sein, ein echter Mann, niemals feige, nie ein Verräter, sondern ein cooler Gangster, der es allen zeigen würde. Noch mit 40 Jahren buhlte er um die Anerkennung seines Vaters und glaubte, als kleiner Verbrecher seinen Respekt gewinnen zu können. Art Pepper lebte in Fantasiewelten.
Dann kam die Musik. Artie Shaw, der erfolgreiche Swing-Klarinettist, der mit mehreren Hollywood-Diven verheiratet war, wurde Peppers erstes Vorbild: Mit zehn Jahren schon beschloss Art, ein ebenso berühmter und glamouröser Jazzmusiker zu werden, und lernte bald Shaws Soli perfekt zu spielen. Als Teenager kam er nach Los Angeles und war geblendet von der Opulenz der Nachtklubs auf der Central Avenue, von Garderobe, Parfüms und Schmuck, Wohlstand und Cadillacs. Jazz spielen, cool sein und Pot rauchen: Das wurde sein Ideal. Mit dem Alkohol hatte er früh begonnen, nun entdeckte er Marihuana, Dexedrin und sogar die Chemikalien aus Inhalationsgeräten. Ohne Dope war er ein Einzelgänger, schüchtern und introvertiert. Doch sobald er high war, gehörte er dazu. Er heiratete mit 17 seine große Liebe, segelte auf einer Welle von Glück und Erfolg: ein Aufsteiger im Jazz-Geschäft. Dann kam die Army. Als Armeemusiker wurde er eingezogen, am Ende war er Militärpolizist in London. Er hatte Anfälle von Zerstörungswut, übte sich in der Rolle des Monsters, ließ seinen Sex-Obsessionen freien Lauf und holte sich den Tripper. Als er aus dem Krieg nach Hause kam, war er 21 und inzwischen Vater einer Tochter, die ihm immer fremd blieb.
In England hatte Pepper viel gejammt und – fern der US-Szene – seinen eigenen eleganten Stil fortentwickelt. Erst 1946 hörte er erstmals vom Bebop, von Parker und Gillespie: "Sie waren nicht nur schnell in ihrer Technik, sondern es machte auch alles Sinn, und sie swingten! Sie spielten Noten in den Akkorden, die ich nie zuvor gehört hatte. Es war komplizierter, bluesiger, swingender, von allem mehr. Es machte mir tödliche Angst." Pepper war kein technischer Spieler, eher ein Skulpteur der Töne, und sein voller, runder Altton war das Gegenteil von Charlie Parkers Sound. Nun büffelte Pepper Akkorde und Skalen und wurde zum wichtigsten, jazzigsten Solisten in der Band von Stan Kenton, dem Ensemble für orchestralen Progressive Jazz. Sechs Jahre lang blieb er der Vaterfigur Kenton treu, spielte das dritte Alt (das mit den Jazz-Soli) und wurde damit berühmt. 1951 belegte der Kenton-Solist Art Pepper bei der Down-Beat-Umfrage nach dem besten Altsaxofonisten knapp hinter Parker den zweiten Platz (mit 957 zu 945 Stimmen). Im nächsten Jahr begann der Westcoast-Star, unter eigenem Namen aufzunehmen und erste Stücke zu schreiben. "Straight Life" von 1952 blieb sein bekanntestes.
Aber hinter dem Ruhm taten sich Abgründe auf: der Stress des Tournee-Lebens, Entfremdung in der jungen Ehe und vor allem Peppers psychologisches Problem. Er wollte der Größte sein, geliebt, verehrt, vergöttert, und fiel doch, sobald der Applaus verklungen war, immer in ein tiefes Loch: "Nachdem alle gegangen waren, war ich allein. Plötzlich wurde ich sehr traurig und dachte: Das ist es nicht." Dann bekam er Angst vor der Konkurrenz und dem Versagen, der Verantwortung und der Realität. Dann erschien ihm sein Leben – als erfolgreicher Jazzmusiker – krankhaft und schrecklich. Fast täglich trank er sich bewusstlos. Mit 21 geriet er ans Heroin, die Modedroge der Bebopper, und wusste sofort: Hier ist Friede, Wärme, Sicherheit für immer. Pepper kam nie mehr von den Drogen los: Bis zu seinem Tod – fast 40 Jahre lang – blieb er ein Junkie. Die 50er- und 60er-Jahre verbrachte er überwiegend in Kliniken, Therapiezentren, Gefängnissen. Wenn er auf Bewährung entlassen wurde, schaffte er es immer schon am ersten Tag, eine Frau zu finden, die ihn aushielt, einen Schuss zu setzen, den Teufelskreis neu zu beginnen. Am liebsten schloss er Tür und Fenster vor der Welt, wurde stoned, versank in Lethargie. Sein Leben drehte sich bald nur noch um eines. Und dazwischen, alle paar Jahre: ein Comeback, ein Strohfeuer. Dennoch hielt er sich immer für ein Genie – und vielleicht zu Recht. Mitten im Schlamassel, abgetaucht in Drogenwelten, schaffte er es, sein monatelang nicht berührtes Horn aus dem Kasten zu nehmen und Meisterwerke aufzunehmen. In Kompositionen wie "True Blues" oder "Bijou The Poodle" verriet er eine raffiniert reduzierte, fast monkische Philosophie des Blues.
In Art Peppers Welt kehrten sich die Werte um: Der Süchtige wird von der Gesellschaft stigmatisiert, die Sucht treibt ihn in die Kriminalität – und er nimmt die Rolle an. Die Junkies, die Dealer, die Gangster sind für ihn die echten Menschen, Leute mit Ehre, die wahren Freunde: Sie hören noch zu, ihre Meinung zählt. Das Musikerleben erscheint ihm als "falsches Paradies", das Heroin aber als Himmel, das Gefängnis als Hort der Kameradschaft. Dort wird für ihn gesorgt, er bewundert die bösen Jungs und ist jetzt einer von ihnen. Mehr noch: Er ist eine Berühmtheit in San Quentin! Noch lieber wäre er der schlimmste aller Mörder, aber in Wirklichkeit kann er kein Blut sehen. Er schwelgt in chauvinistischen und gewalttätigen Drohungen. Er macht sich selbst zur moralischen Instanz. Er findet immer jemanden, auf den er die Schuld schieben kann. Heruntergekommen, besitzlos, heimatlos, spinnt er sich ein Netz von Lebenslügen. Art Pepper lebt in Fantasiewelten.
In den 60er-Jahren geriet er unter den Einfluss von John Coltrane und spielte, war er mal draußen, ein revoltierendes Tenorsaxofon: ein Akt der Befreiung. In den Siebzigern fand er zum Alt zurück, hatte ein letztes, großes Comeback als "lebende Legende", eroberte Japan und die Festivals der Welt. In seine lyrischen, klarinettenhaften Melodiebögen mischten sich raue, freie Eruptionen, die Phrasen wurden kurz und heftig, die Wirklichkeit brach in seine Musik. Das größte Werk seiner späten Jahre indes war seine Autobiografie, "Straight Life": ein erschütterndes 500-Seiten-Dokument menschlicher Abgründe. Über Jazz erfährt man darin wenig, dafür eine Menge über Gefängnisse und die Beschaffung, Anwendung und Wirkung von Drogen. Um wegzutauchen, hat Pepper alles ausprobiert: von Heroin, Kokain und LSD über Benzedrin, Percodan, Dilantin, Numorphan bis hin zu Hustensaft, Muskatnuss und Schuhcreme. Die Musik war nicht das Wichtigste in seinem Leben.
© 2002, 2004 Hans-Jürgen Schaal
© 2002 Hans-Jürgen Schaal |