Die fünfziger Jahre waren die goldene Zeit des modernen Jazz. Im Spannungsfeld zwischen Bebop und Cool, zwischen souligem Hardbop und kammermusikalischem Westcoast wurden die Erfindungen von Charlie Parker & Co. zum klassischen Ausdruckskanon aller jüngeren Jazzmusiker. Unterstützt wurde dieser Jazz-Boom durch technische Neuerungen: das LP-Format und die Stereo-Technik. Plattenfirmen schossen aus dem Boden, die Aufnahmestudios waren Tag und Nacht am Arbeiten und es wimmelte von Jazz-Talenten.
Genies der Tasten
Die (fast) vergessenen Pianisten der 50er Jahre
(2001)
Von Hans-Jürgen Schaal
Bei diesem Überangebot an swingenden, boppenden Tönen ist es kein Wunder, dass auch viele originelle Musiker zu wenig Gehör fanden, manches Genie verkannt blieb, in Verbitterung oder Drogensucht endete und heute fast vergessen ist. In der Welt des modernen Jazz-Pianos besaßen die 50er Jahre ja nicht nur Bud Powell und Thelonious Monk, Hank Jones und Tommy Flanagan, Horace Silver und Dave Brubeck, Oscar Peterson und Bill Evans, da tummelten sich zum Beispiel auch - in alphabetischer Reihenfolge - Joe Albany, Ronnie Ball, Walter Bishop, Ray Bryant, Jaki Byard, Wally Cirillo, Sonny Clark, Tadd Dameron, Walter Davis, Kenny Drew, Russ Freeman, Red Garland, Erroll Garner, Al Haig, Roland Hanna, Barry Harris, Clyde Hart, Hampton Hawes, Jutta Hipp, Elmo Hope, Ahmad Jamal, Pete Jolly, Duke Jordan, Roger Kellaway, Wynton Kelly, Ellis Larkins, Wade Legge, Lou Levy, John Lewis, Ramsey Lewis, Marian McPartland, Junior Mance, Dodo Marmarosa, Sal Mosca, Phineas Newborn, Herbie Nichols, Hall Overton, Horace Parlan, Duke Pearson, Carl Perkins, Arnold Ross, Jimmie Rowles, George Shearing, Martial Solal, Billy Taylor, Argonne Thornton (alias Sadik Hakim), Bobby Timmons, Lennie Tristano, Dick Twardzik, Mal Waldron, George Wallington, Randy Weston, Gerald Wiggins, Mary Lou Williams, Claude Williamson - und ungezählte weitere ernst zu nehmende Klavierkünstler. Der stille Abgang vom gefährlichen Jazz-Trapez ins bürgerliche Sicherheitsnetz - und sei es als Hollywood-Arrangeur oder Universitäts-Dozent - gelang nur wenigen.
Einer von denen, die das Jazzklavier einfach stehen ließen und neuen Aufgaben entgegen gingen, war Russ Freeman. Weder in Rowohlts zweibändigem Jazz-Lexikon von 1988 noch im Penguin Guide to Jazz von 1994 findet man einen eigenen Artikel über ihn. Dabei gehörte Freeman zu den echten Pionieren des Bebop an der Westküste, wo er schon 1947 - mit 21 Jahren - mit Dexter Gordon und Howard McGhee auftrat. Seine klassische Klavierausbildung kam ihm im "europäisierten" Westcoast-Jazz zugute, als er seinen perfekten Bebop-Stil mit eigenwillig dramatischen Elementen durchsetzen konnte, die er zuweilen den Bassisten und Schlagzeugern ablauschte. Am bekanntesten wurde er als Band-Pianist des jungen Chet Baker, für den er etliche Stücke schrieb. Freeman erinnert sich: "Ich war, glaube ich, der Älteste in der Band und war außer Pianist und Musical Director auch noch Road Manager. Ich regelte den Transport, ich buchte die Hotels und kümmerte mich um die Finanzen." Als Baker immer mehr dem Heroin verfiel, fand Freeman in dem Schlagzeuger Shelly Manne einen neuen Partner. Mit ihm nahm er nicht nur eine großartige Duett-Serie auf (1954), sondern auch sein bekanntestes Stück: die Third-Stream-Ballade "The Wind" (1956). Auch bei Freemans legendären 12 Aufnahmen auf dem Album "Trio", die 1953 und 1957 noch in Mono entstanden, saß Shelly Manne am Schlagzeug und sorgte für den intellektuellen Touch. Stücke wie das skurril-dissonante "Backfield In Motion" rüttelten einst mit analytischer Schärfe an den Gittern der Bop-Konvention.
Sein organisatorisches Talent lockte Russ Freeman bald darauf von den Jazzclubs weg. 1962 gründete er seinen eigenen Musikverlag, komponierte, spielte und arrangierte viel für Film, Fernsehen und Showbühne und verschwand immer mehr von der Jazz-Szene. Zuvor war er schon als A&R-Mann und Produzent bei Pacific Records tätig und trug dort die künstlerische Verantwortung für zahlreiche Aufnahmen. Bei einem eigenen Gastspiel mit dem Chet-Baker-Quartett "entdeckte" der A&R-Scout Freeman 1954 in Boston einen fünf Jahre jüngeren Kollegen, den damals 23-jährigen Dick Twardzik. Freeman war so aus dem Häuschen, dass er Dick Bock anrief, den Chef von Pacific, und um die Erlaubnis bat, dieses außerordentliche Talent umgehend fürs Label aufzunehmen. Das geschah im Dezember 1954 in Rudy Van Gelders Studio, damals noch das Wohnzimmer von Van Gelders Eltern in Englewood Cliffs. Jung-Pianist Twardzik, der unter anderen schon mit Charlie Parker und Sonny Stitt gespielt hatte, war ähnlich wie Freeman durch die doppelte Schule von klassischer Ausbildung und Bebop-Praxis gegangen. Er vermochte beides zu höchst eigenwilligen, zuweilen fast atonalen Impromptus zu verbinden. Seine Komposition "The Fable Of Mabel", eine Art satirische Charakterstudie, die Twardzik mit dem Serge-Chaloff-Quartett spielte, war schon 1952 ein Hit in den Clubs. Auch die 7 von Freeman produzierten Trio-Titel beweisen Twardziks Neigung zur virtuosen Groteske: Sein Stück "Albuquerque Social Swim" schlägt eine luftige Brücke zwischen Schönberg und Barpiano-Klischees. Als Freeman bei Chet Baker ausstieg, empfahl er den Geistesbruder Twardzik natürlich als Nachfolger. Was Freeman nicht wusste: Twardzik hatte gerade einen Heroin-Entzug hinter sich und war - auf Tour mit Bakers Junkie-Band - extrem gefährdet. Nur neun Monate nach den Trio-Aufnahmen starb das Riesentalent in einem Pariser Hotel an einer Überdosis. Freeman und Twardzik: musikalische Verwandte, die beide vorzeitig den Jazz verließen - der eine erfolgreich, der andere tragisch. Auf der CD "Trio" sind sie in monumentaler Größe vereint.
Nicht gerade zum Pianisten prädestiniert war der heute weitgehend vergessene Carl Perkins, denn seine linke Hand blieb nach einer Kinderlähmung behindert. Doch Perkins machte aus dem Handicap eine Tugend und entwickelte autodidaktisch eine sehr individuelle, in den Ergebnissen frappierende Spieltechnik. Seinen linken Unterarm hielt er gewöhnlich quer über die Tastatur, so dass er mit der linken Hand von der Seite her in die Tasten griff und mit dem linken Ellbogen gewagte Bassbegleitungen ergänzen konnte. Schon mit 20 Jahren (1948) spielte er professionell, ging dann an die Westküste und arbeitete zunächst mit Rhythm'n'Blues-Bands. Auch später, als er im modernen Jazz ganz zu Hause war und mit Clifford Brown oder Dexter Gordon auftrat, blieb Perkins ein erdiger, bluesiger Pianist: Seine klar akzentuierten, dunkel akkordierten Phrasen machten ihn geradewegs zum Vorläufer des Funky-Style-Pianos. Nicht umsonst wurde seine bekannteste Komposition, "Grooveyard", ein Klassiker des souligen Hardbop. Seine wichtigste Leader-Session entstand 1955 (noch in Mono) in Los Angeles: "Introducing", eine Folge von elf Trio-Stücken mit transparenter Balance zwischen Piano, Bass und Schlagzeug und mit nuanciert gezeichnetem Tastenanschlag. Diese musikalische Visitenkarte leistete Perkins jedoch nur kurzzeitig Dienste: Drei Jahre später erlag der Pianist (wie so viele Jazzmusiker jener Ära) seiner Drogensucht. Er wurde 29 Jahre alt.
Sonny Clark wurde nur zwei Jahre älter. Auch er war weitgehend Autodidakt, kam in jungen Jahren nach Kalifornien und lernte dort, sich den Erfordernissen des Ensemblespiels anzupassen. "Er hatte das absolute Gehör und konnte alles nachspielen", erinnert sich der Saxofonist Frank Morgan. "Man sagte ihm einfach, was man wollte, dann beherrschte er es für immer. Er wurde auf der Stelle einer der hipsten Begleiter der Welt." Seinen Durchbruch hatte Clark als 22-Jähriger auf einer Europatournee des "Jazz Club USA" (1954), auf der er alle anderen Pianisten in den Schatten stellte. Sein an Bud Powell geschulter Bop-Stil, veredelt durch elegante Leichtigkeit und warme, leuchtende Melodik, bezauberte auch Alfred Lion, den Produzenten des Labels Blue Note. Als Clark 1957 nach New York ging, wurde er von Lion sofort unter Vertrag genommen und machte für Blue Note innerhalb von nur zwei Jahren acht Leader-Sessions und 15 Platten als Sideman. Nach einer zweijährigen Pause, in der der Pianist seine Heroinsucht bekämpfte, ging es im gleichen Tempo weiter - bis zu Clarks Drogentod 1962. Zwei Jahrzehnte später wurde Clark in Japan wiederentdeckt und stieg zur Jazz-Ikone auf. Blue Note begann daraufhin, Unmengen unveröffentlichter Aufnahmen für den japanischen Markt ans Licht zu holen. Europa dagegen schlief: In Rowohlts Jazz-Lexikon wurde Clark noch 1988 auf knapp 1400 Seiten nur zweimal erwähnt. Der britische Penguin Guide to Jazz unterschlug 1994 Clarks Kultplatte "Cool Struttin'" und nannte den Pianisten in völliger Fehleinschätzung einen "inspirierten Amateur". Erst 1998 stellte der Blue-Note-Archivkenner Michael Cuscuna das Album "Standards" zusammen - mit Trioaufnahmen aus dem Jahr 1958, die seinerzeit auf Singles erschienen sind. Gemastert wurde mit 20-bit Super Bit Mapping direkt von Rudy Van Gelders Analogbändern. In 14 Jazz-Klassikern von Ellington, Gershwin, Porter, Arlen und anderen entfacht Clarks Bop-Lyrizismus noch einmal seine hypnotische Leuchtkraft.
Der Klavier-Enthusiast Alfred Lion hatte ein Herz für viele Stilistiken: Den Boogie-König Albert Ammons produzierte er auf Blue Note ebenso wie den Free-Jazz-Pionier Cecil Taylor. Drei Pianisten jedoch waren seine absoluten Lieblinge: Thelonious Monk (den er bis 1952 aufnahm), Andrew Hill (ab 1964) und dazwischen: Herbie Nichols. In fünf Sessions innerhalb von 12 Monaten (von Mai 1955 bis April 1956) durfte Nichols 30 Masters im Trio einspielen - 29 eigene Nummern und einen Gershwin. Doch die Verkaufszahlen waren so verheerend, dass Lion die Zusammenarbeit schweren Herzens wieder beenden musste. Dabei ist kein Pianist so oft mit Thelonious Monk verglichen worden wie Herbie Nichols: Obwohl sein Konzept ein ganz anderes war, komponierte er mit ähnlich unbotmäßiger Eigenständigkeit und solierte mit ebenso sperrigem Eigensinn. Nichols, einer der originellsten Jazzmusiker der 50er Jahre, erhielt jedoch kaum Gelegenheit, seine Talente zu demonstrieren: Allenfalls die Free-Jazz-Pioniere - zuvorderst der Posaunist Roswell Rudd - interessierten sich für die ungewohnten Melodien und Chorusformen. Nichols überlebte in seinem Beruf nur durch Jobs in Dixieland-Bands und als Begleiter von Sängerinnen: Das von Billie Holiday gesungene "Lady Sings The Blues" wurde nicht umsonst das bekannteste seiner etwa 170 Stücke. Dieses und weitere 20 Originals, darunter prickelnde Ohrwürmer wie "Step Tempest" und "House Party Starting", sind auf "The Third World" versammelt, einem von 10 Doppel-Vinylalben, die Michael Cuscuna im jazzfeindlichen Jahr 1975 als "Blue Note Re-Issue Series" aus Archiv-Raritäten zusammenstellen durfte. Bass und Schlagzeug zeichnen präzise, das Klavier hat den schweren, wolkigen Van-Gelder-Klang, der Nichols' Akkorde noch rätselhafter wirken lässt. Eine Herbie-Nichols-Renaissance bewirkte das Album nicht - und obwohl die Wiederentdeckung des Pianisten alle paar Jahre durch Tribut-Projekte beschworen wird, blieb sie bis heute aus. Nichols starb übrigens 1963 44-jährig an Leukämie.
Auch der eigenwillige Elmo Hope wurde gerne mit dem Einzelgänger Thelonious Monk verglichen. Tatsächlich gehörten Monk und Bud Powell, die beiden Heroen des modernen Jazzklaviers, zu Hopes Jugendfreunden: Viele Stunden verbrachten die drei gemeinsam vor den schwarzen und weißen Tasten, spielten einander Kompositionen vor, analysierten sie, inspirierten sich gegenseitig. Hopes Spiel erinnerte später oft an Powells virtuoses Feuer, seine Kompositionen hatten dagegen mehr von Monks unkonventioneller Eckigkeit. Wer da letztlich wen beeinflusst hat, ist schwer zu sagen. Eigentlich wollte Hope klassischer Pianist werden, doch seine Hautfarbe ließ das in den 40er Jahren nicht zu. Der klassische Unterton blieb bei ihm aber wie ein kleiner Vorwurf immer hörbar: im differenzierten Anschlag, in der Harmonik, im lyrischen Ton, auch in der Form seiner Stücke. "Er schrieb selten einfache A-Teile, eher sieben- und neuntaktige Abschnitte", sagt Bertha Hope, seine Witwe und Nachlassverwalterin und selbst eine veritable Pianistin. "Sein harmonisches Konzept hätte ihn vielleicht in den Free Jazz geführt." Für den Geschmack der 50er Jahre war es jedenfalls zu ungewöhnlich: Hope begleitete zwar Sonny Rollins, Clifford Brown, Lou Donaldson oder Jackie McLean, aber mit seiner eigenen Musik scheiterte er ebenso wie Herbie Nichols. Obwohl von Kritikern als "der neue Stern am Jazzhimmel" gefeiert, verlor Blue Note nach zwei, Prestige nach drei Alben das Interesse, fünf weitere Labels folgten. Für die kalifornische Firma Contemporary machte der Pianist mit "Elmo Hope Trio" 1959 seine vielleicht reifste und mutigste Platte: Die ungewöhnlichen Stücke und mutwilligen Improvisationen perlen spannend und taufrisch aus dem 1990 remasterten Vinyl. Doch ähnlich wie Herbie Nichols musste Hope immer wieder Jobs in kommerziellen Bands akzeptieren, um zu überleben. Die künstlerische Frustration saß tief. Als er 1967 starb (mit 43 Jahren), waren Lunge, Leber und Herz gleichermaßen der Enttäuschungen müde.
© 2001, 2004 Hans-Jürgen Schaal
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