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ARNOLD SCHÖNBERG
Streichquartette Nr. 2 & 4
(2000)
Von Hans-Jürgen Schaal
Schönbergs Opus 10 ist zu mancherlei Berühmtheit gelangt. Man denke an das Zitat "O du lieber Augustin" im 2. Satz, an einen der größten Konzertskandale der Schönberg-Schule (1908), an die erstmalige Einbettung einer Singstimme in ein Werk der Gattung Streichquartett. Die wahre musikhistorische Bedeutung von Opus 10 liegt indes im Übergang von (expressionistischer) Tonalität zu (freier) Atonalität, einem Übergang, den das Werk Schritt um Schritt, Satz um Satz konkret und mit dramatischer Würde vorführt. Wenn im 3. und vor allem im 4. Satz die harmonisch-tonalen Halterungen gelöst werden, übernehmen Text und Stimme eine provisorische Helferfunktion, wird das menschliche Wort - zwei Gedichte von Stefan George - zum Programm und Rückhalt beim entscheidenden Schritt in die fremden Schrecken der Atonalität. Der 3. Satz ("Litanei") erfleht nach der hoch emotionalen Vorgeschichte endlich Kühle und Ruhe, und diese stellen sich im Schluss-Satz ("Entrückung") tatsächlich ein. Ich fühle Luft von anderen Planeten, heißt es in Georges Gedicht. Ich löse mich in Tönen, kreisend, webend. Ich steige über Schluchten, ungeheuer. Bei Schönberg sind es die Luft, die Töne, die Schluchten jenseits des tonalen Prinzips. Selten wurde ein musikgeschichtlich bedeutender Schritt so bewusst und explizit vollzogen.
Leipziger Streichquartett, Christiane Oelze (Sopran)
(Dabringhaus und Grimm MDG 307 0935-2)
Sind wir aber mittlerweile heimischer geworden in den Schluchten der Neuen Musik? Hat sich die Atmosphäre des von Schönberg entdeckten Planeten aufgewärmt? Nein. Das Leipziger Streichquartett macht uns nachdrücklich bewusst, wie fremdartig erlöst und unalltäglich entrückt diese Töne auch ein Jahrhundert später noch für uns klingen. Zugleich mit der harmonischen Bindung scheint ihre expressive Kraft zu schwinden, das Andere formiert sich im Ungefähr, unsicher, langsam und tastend. Man muss nicht erklären, was hier geschieht, der Hörer erlebt die Transformation hautnah. Noch stärker fasziniert die plastische Dynamikgestaltung der vier Streicher in Opus 37. In diesem Werk - fast 30 Jahre später - erreicht Schönbergs interplanetare Reise ihren Höhepunkt: Kaum jemals hat der Komponist die (nun gebundene) Atonalität souveräner und dabei strenger gehandhabt. Die Zwölftontechnik ist hier so bis ins Letzte mit Leben und Bewegung durchdrungen, dass die Formen beinahe klassizistisch sein dürfen. Schönbergs letztes Streichquartett, hoch expressiv, hoch virtuos, gehört zu den bedeutenden und bleibenden Werken des letzten Jahrhunderts. Wie die Leipziger Geiger die stetig wechselnden Spieltechniken meistern, ihre emotionale Kraft entdecken, ihnen Struktur und Sinn abhören und doch die Macht ihres Andersseins bewahren, macht uns "fassungslos vor Begeisterung". Letzteres war - nach Schönbergs Eindruck - auch sein kritischer Schüler Teddy Wiesengrund (Theodor W. Adorno), als er dieses Werk 1936 bei der Uraufführung in Los Angeles hörte.
© 2000, 2004 Hans-Jürgen Schaal
Lektüre-Empfehlung zu Opus 37: die Novelle "Das Streichquartett" von Hartmut Lange. Als Taschenbuch 2008 bei Diogenes erschienen.
© 2000 Hans-Jürgen Schaal |
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