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In den 1960er und 1970er Jahren hießen die Zauberworte des Jazz: Innovation, Revolution, Befreiung. Das hat sich gründlich geändert. Ganz oben auf der Liste der Tugenden, die ein junger Jazzmusiker heute zu beherzigen hat, steht das Wort: Tradition. Wer nicht sein Instrument von der Pike auf lernt, wer nicht das Real Book in- und auswendig kann und die Idole der Jazz-Geschichte Ton für Ton studiert hat, verstößt in unseren Tagen gegen die heilige Vererbungslehre des Jazz.

Andererseits gilt: Einer, der nur der Tradition hörig ist, geht spurlos darin unter. Hundertschaften junger Musiker sind heute das Opfer der Verschulung des Jazz: hochbegabt, bestens ausgebildet, aber ohne das (ursprüngliche) Bedürfnis und die (nicht erlernbare) Fähigkeit, etwas ganz Eigenes, ganz Wichtiges durch ihre Musik loszuwerden. Das wirklich große Talent weiß Tradition zu gestalten, indem es sie absorbiert. Das ist die eigentliche Leistung des Jazz-Genies: die Überlieferung so zu verinnerlichen, daß mit jedem Ton auch ein Stück der eigenen Persönlichkeit laut wird; die Tradition behutsam umzudeuten, mutig weiterzudenken, frappierend zu verfremden; das Neue so zu sagen, als wäre es schon immer ein Teil der Jazz-Wahrheit gewesen.

Die jungen Piano-Löwen
Stephen Scott und Cyrus Chestnut
(1998)

Von Hans-Jürgen Schaal

Zwei, die in diese oberste Kategorie von Musikern fallen, sind die Pianisten Stephen Scott (28) und Cyrus Chestnut (35). Den Segen und die Anerkennung der lebenden Jazz-Legenden haben sie bereits: Scott spielt Klavier bei Sonny Rollins, Joe Henderson, Ron Carter, Bobby Watson oder Victor Lewis; Chestnut musizierte mit Jon Hendricks, Wynton Marsalis, Donald Harrison, der klassischen Sängerin Kathleen Battle oder im Altman-Film "Kansas City". Beide Pianisten gehören übrigens seit langem zum musikalischen Umfeld des Trompeters Roy Hargrove.

Eine der schwersten, angesehensten und begehrtesten Lehrstellen für junge Jazz-Pianisten ist der Klaviersessel in Betty Carters Band. Nicht nur Scott und Chestnut, auch Mulgrew Miller, Benny Green und Marc Cary sammelten bei der eigenwilligen Vokalistin wichtige Erfahrungen. "Ich fing kurz nach meinem 18. Geburtstag bei Betty Carter an", erinnert sich Scott. "Als junger Mensch weißt du noch nicht genug über Musik, also versuchst du einfach, deine Vorbilder nachzuahmen. Aber wenn ich ein Solo hatte und begann, nach einem meiner Idole zu klingen, schnellte Betty herum und rief: No, kid (das war mein Spitzname), be honest! Was sie damit sagen wollte, war: Finde die Stimme, die in dir selber steckt!"

Was heißt hier: Idole?! Stephen Scott zählt eine ganze Reihe großer Namen auf, Herbie Hancock, Bud Powell, Wynton Kelly. Und immer wieder: Thelonious Monk. "Er war definitiv das Erste, was mich zur Musik zog. Ich hörte Monk und sagte: Das könnte ein Anfang für mich sein. Und das war es auch und ist es immer noch." Gelernt hat er von dem großen Einzelgänger die Freiheit im Umgang mit den Harmonien und der Time - Clusters, Anschlag, atmende Räume -, doch wie ein Monk-Klon klingt Scott nie. Sein Spiel hat den gewissen Swing eines Wynton Kelly, die Flüssigkeit eines Bud Powell, die Unberechenbarkeit eines Herbie Hancock. Scott ist ein Pianist, der spontane Einfälle beim Spielen weiterspinnt und daraus stringente Meisterwerke schafft: ein Vulkan an Originalität.

Bei Cyrus Chestnut waren die prägenden Einflüsse von anderer Art: Sein Vater führte ihn schon früh in die europäische Klassik ein. "In meinen ersten Jahren am Klavier spielte ich Beethoven, Brahms und Mozart, später arbeitete ich mich zu Debussy und Schumann vor. Als ich den Jazz entdeckte, begann ich gegen all das ein wenig zu rebellieren: Ich wollte unbedingt Bebop spielen und lernen, wie man swingt." Inzwischen weiß Cyrus Chestnut beide Welten miteinander zu versöhnen: Ein swingendes Uptempo bekommt bei ihm die Dichte einer mehrstimmigen Invention, der Blues erinnert ein wenig an ein romantisches Notturno, und die Fats-Waller-Hommage hat dissonante Strawinsky-Ecken. "Das ist für mich der größte Spaß und die größte Herausforderung, beim Spielen alle Karten auf den Tisch zu legen: Klassik, Gospel, Jazz."

Ähnlich seinem zeitweiligen Mentor Wynton Marsalis taucht Chestnut gerne tief in die Vergangenheit des Jazz - auf der Suche nach Modernismen, die von der raschen Entwicklung dieser Musik vergessen und weggespült wurden. "Ich greife manchmal alte Dinge auf, die mir neu vorkommen, aber ich wiederhole nicht die Vergangenheit, ich interpretiere sie." In Chestnuts Musik gibt es Elemente des Ragtime und des Stride-Pianos, die widerstandslos mit Bebop-Läufen oder Bach-Anklängen verschmelzen: Die Schubladen der Klaviermusik werden neu geordnet. Und immer ist da eine Leichtigkeit und Heiterkeit, die am ehesten noch an Oscar Peterson erinnert: Wie diesem gelingt es Chestnut, klassische Klaviertechnik in den Jazz zu übertragen, ohne in leeren Formeln zu erstarren.

Stephen Scotts Ausgangspunkt mag moderner sein, die Haltung ist dieselbe: Nicht die Vergangenheit wiederholen, sondern Tradition interpretieren. "Was kann ich einem Meisterwerk hinzufügen? Wenn ich einen Standard hernehme, will ich herausfinden, was man Neues mit ihm anstellen kann, ohne der Musik Gewalt anzutun. Ich möchte mich und das Publikum dazu provozieren, einmal genau hinzuhören." Eine seiner schönsten Platten machte Scott im Trio mit Roy Hargrove und Christian McBride: eine höchst lebendige Charlie-Parker-Hommage ganz ohne Saxophon und Schlagzeug. "Das Konzept hieß: spontan sein, einander herausfordern, etwas Taufrisches produzieren. Es hätte keinen Sinn gehabt, die Musik genauso zu spielen, wie es Bird tat." Das ist es, was die Älteren an ihm schätzen: Scott hat Tradition in jedem Finger, aber die Finger gehorchen nur seiner Eingebung.

© 1998, 2004 Hans-Jürgen Schaal


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