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Der Sound fürs Auge
Die Meisterfotografen des Jazz
(1997)

Von Hans-Jürgen Schaal

INTRO

Irgendwo, jenseits der Noten, treffen sich Musik und Bild.

Die Musik: Jazz, nicht dingfest zu machen, improvisierter Klang, der sich den Lehrbüchern und Analysen entzieht; Produkt eines emotionalen Augenblicks und einer uralten expressiven Tradition.

Das Bild: eine Momentaufnahme, die Gefühle einfängt, Stimmungen, jene ungreifbare Vibration von Individualität und Atmosphäre, die die improvisierte Musik prägt und unwiederholbar macht.

Sinfonien mag man durch Partituren überliefern, in Büchern analysieren, schwarz auf weiß. Die Schwarz-Weiß-Schrift des Jazz sind Fotografien.

Irgendwo, jenseits der Worte, treffen sich Musik und Bild. Sie treffen sich im Anblick eines Menschen. Ihr gemeinsamer Focus ist der Jazzmusiker, der sich in seinem Spiel mitteilt oder vergißt - und der selbst dann noch, wenn er nur eine Zigarette raucht oder sein Instrument in die Kamera hält, aus einer anderen Wirklichkeit zu kommen scheint. "Es ist eine eigene Welt", sagt William Claxton. "Jazzmusiker haben einen anderen Tagesrhythmus, sie denken anders, sie spielen an seltsamen Orten und leben in seltsamen Hotels."

Jazz ist Klang, das Bild bleibt stumm. Und doch: In seiner unnatürlichen Stille öffnet es den Weg in diese andere Dimension, wittert diese fremden Empfindungen, die, unaussprechbar, Jazzkonzerte unvergeßlich machen. "Heute sagen die Leute zu mir: Sobald sie meine Bilder ansehen und die Musik von damals hören, hätten sie das Gefühl, dabeigewesen zu sein und zu wissen, wie es damals war", sagt Herman Leonard.

Emotionale Erfahrungen, die Faszination und das Geheimnis des Jazz: Daran scheitern auch die besten Musikkritiker. Das Nicht-Sagbare paßt weder in Jazz-Magazine noch in Feuilletons. William Gottlieb, ein Pionier der Jazz-Kritik, wünschte sich Fotos zur bloßen Illustration seiner Texte: "Doch die Bilder griffen über das hinaus, was ich in Worten sagen konnte. Was ich geschrieben habe, ist heute so gut wie vergessen, aber die Fotos sind noch immer lebendig."

1. "Ich hatte keine Zeit für Jam Sessions"
WILLIAM GOTTLIEB UND DER BLICK DES FORSCHERS

Die Washington Post war wahrscheinlich die erste große Tageszeitung, die eine ständige (wöchentliche) Jazz-Kolumne besaß. Verantwortlich dafür war ein 19jähriger Angestellter in der Anzeigen-Akquisition, ein begeisterter Jazzfan, der sich mit dieser Kolumne im Schreiben üben wollte. Nach zwei Jahren befand er, daß ihm das Anzeigengeschäft gar nicht lag, und er ließ es bleiben. Das Schreiben über Jazz jedoch betrieb er weiter, machte zudem Jazz-Sendungen für zwei Radio-Stationen, wurde zu Washingtons "Mister Jazz" und später einer der Herausgeber des weltweit führenden Jazz-Magazins Down Beat. Sein Name: William P. Gottlieb.

Daß die Washington Post eine Jazz-Kolumne bekam, war auch das Verdienst ihres Chefredakteurs, der dem jungen Mann für 10 Dollar pro Woche eine Chance gab. Doch die Großmut hatte Grenzen: Der Presse-Fotograf, den Bill zur Seite haben wollte, kam nach ein paar Wochen zu teuer und wurde gestrichen. Also kaufte sich der junge Mann eine gewichtige Speed-Graphic-Kamera, wie sie von Reportern benutzt wurde, und begann selbst zu knipsen. "Ich war sehr stolz auf die Ergebnisse, die ich erzielte. Für einen Ungeübten, der das Fotografieren so nebenher betrieb, waren das doch ziemlich gute Bilder. Sie hatten eine gewisse Intelligenz und eine optische Pointe." Daß sie mehr waren als nur irgendwelche Presse-Bilder vom Tage, beweisen die inzwischen mehr als 150 internationalen Ausstellungen von Gottliebs Jazz-Fotos.

Damals, als er sie machte, waren sie den Redaktionen keinen Penny wert; sogar als Mitherausgeber des Down Beat lieferte Gottlieb alle Fotos ohne Bezahlung - sozusagen als veredelnde Dreingabe zu seinen Artikeln. "Da ich kein Geld bekam, lernte ich, sehr sorgsam zu fotografieren. Ich machte an einem Abend gewöhnlich nur zwei oder drei Bilder - ganz anders als die Foto-Profis heute, die in Minutenschnelle ganze Filme verknipsen." Entsprechend war der Blick, den Gottlieb durch die Linse auf den Jazzmusiker warf: Er fahndete nicht geduldig nach Schnappschüssen, sondern wollte das Wesentliche, das Gültige. Fotos als Informations-Träger. Beweismaterial, schwarz auf weiß.

Diese Bilder sind Dokumente: Sie spielen nicht mit Stimmungen, Gesten oder Licht, sie halten Fakten fest. Zum Beispiel den zeitlosen Schmerz des Blues in Billie Holidays Gesicht: eines von Gottliebs bekanntesten Fotos. Django Reinhardt mit Gitarre, Zigarette und der vom Wohnwagenbrand verkrüppelten Greifhand: ein fast schockierendes Detail. Louis Jordan mit schräg gehaltenem Saxophon und clownesk verdrehten Augen: Inbegriff des Rhythm & Blues-Jive. Louis Armstrong mit allen seinen Wässerchen, Taschentüchern und sonstigen Utensilien: die private Person und die öffentliche im Garderobenspiegel. Sidney Bechet im Weitwinkel mit dem Sopransaxophon im Vordergrund: ein Instrument, das damals selten war. Charlie Parkers offener, visionärer Blick beim Spiel: das selbstzerstörerische Genie. Überhaupt jede Menge Menschen mit einem Blasinstrument im Mund, mit geschlossenen oder geöffneten Augen, selbstvergessen oder resolut, mit geblähten Nasenflügeln oder gefurchter Stirn und keiner Möglichkeit, ein Lächeln zu zeigen.

Gottliebs Fotos verharren in analytischer Distanz. Der Mann gehörte nie zu jenen Zeitgenossen, die gerne mit Musikern in Bars aushängen und ihre intimen Geheimnisse erforschen. Stets blieb er ein seriöser Vertreter der Medien, einer, der Respekt verlangt und nicht jede Musikermarotte mitmacht. "Ich hatte viele Freunde unter den Musikern, aber keine wirklich tiefen Freundschaften. Ich mochte nicht bei Jam Sessions dabeisein, die sich bis morgens um fünf hinzogen. Ich war eher konservativ, interessierte mich für Wirtschaft, Wissenschaften und Tennis, und ich hatte Familie. Also erledigte ich, was ich zu tun hatte, und sah zu, daß ich nach Hause kam. Es gehörte damals zum Verhaltenskodex der Hipsters unter den Musikern, Konventionen der Höflichkeit zu ignorieren. Das heißt: Sie hielten die Hälfte ihrer Verabredungen nicht ein, was für mich ärgerlich war. Ich kam besser mit solchen Musikern zurecht, die das Geschäftliche ernstnahmen und mir die Arbeit nicht noch erschwerten. Deshalb war ich mehr mit Tanzorchester-Leitern befreundet als mit Avantgarde-Musikern. Ich fragte die Musiker auch nie, ob ihnen meine Bilder gefielen. Ich fürchtete nicht nur ein kaltes Nein, ich fürchtete auch zu herzliche Reaktionen, etwa: 'Das Bild ist toll, kann ich 50 Abzüge haben?' Ich habe die Bilder nie den Musikern gezeigt und auch keine Aufträge angenommen. Ich habe es gewöhnlich vermieden, in irgendetwas verwickelt zu werden."

Stattdessen sah er Jazzmusiker mit dem unbestechlichen Blick des neutralen Beobachters. Bevor er mit seiner Kamera einen Klub oder ein Aufnahmestudio betrat, wußte er schon ziemlich genau, was er wollte. Er kannte die Menschen und ihre Musik und ließ sich durch das Ambiente nicht vom Wesentlichen ablenken. Die Persönlichkeit eines Musikers war für ihn der Weg zu ihm, aber mit wissenschaftlicher Skepsis mißtraute er dem Wunsch, Persönlichkeit fotografisch zu bannen. Er blieb Objektivist. Auch dirigierte er die Musiker nicht in irgendwelche Positionen, er bewegte nur sich selbst, bis er den richtigen Winkel gefunden hatte. Nur wenn ihm der Zugang zu Musik oder Musiker fehlte, versuchte er es mit einem "Gimmick" - einer Doppelbelichtung, einer ungewohnten Perspektive.

Und Gottlieb blieb seinem wissenschaftlichen Forschertrieb immer treu - witzig, kreativ und universal, aber auch nüchtern, sachlich und genau. In jenen Jahren, als er Jazzmusiker interviewte und fotografierte, holte er seinen Universitäts-Abschluß nach, wurde Dozent für Ökonomie, Ökonom im Dienst der Washingtoner Regierung und - im II. Weltkrieg - Foto-Offizier bei der Luftwaffe. 1948 kehrte er dem Jazz-Business von einem Tag zum anderen den Rücken und schrieb nie mehr ein aktuelles Jazz-Porträt, fotografierte nie mehr einen Musiker. Er begann lehrreiche Kurzfilme für Kinder zu produzieren und stieg damit zum Leiter einer Abteilung des großen McGraw-Hill-Medienkonzerns auf. Der Armin Maiwald Amerikas beschäftigte sich als einfallsreicher Filmproduzent simultan mit so unterschiedlichen Fragen wie: Wie deckt man einen Tisch? Wie entsteht Schwerelosigkeit beim Weltraumflug? Welche Zahlensysteme gibt es neben dem Dezimalsystem? Sein erfolgreichster Film hieß "Cows don't say moo".

"Mich mit Themen zu befassen, von denen ich vorher sehr wenig wußte, war für mich interessanter als Jazz", sagt der 80jährige heute. "Ich war immer ein guter Forscher, stark im Lernen und Recherchieren. So wurde ich zu einem oberflächlichen Experten für alles Mögliche." Mehr als 1.400 Sachfilmchen hat Gottlieb produziert, etwa 400 davon selbst geschrieben und ebenfalls etwa 400 (zum Teil dieselben) mit eigenen Fotografien versorgt. Als Nebenprodukte dieser Arbeit entstanden mehr als 15 Bücher, drei davon allein über Weltraumfahrt und Flugzeuge, auch diese zum Teil mit eigenen Fotos ausgestattet. Ein anderes Buch handelt von einem Superhund - eine Satire auf Superman. Gottlieb zeigte den Hund in Trickfotos, wie er Hauswände hinaufläuft, über Wasser geht und durch die Luft fliegt. Das Buch wurde ein Millionen-Seller.

Aber nie mehr war Jazz das Thema. Erst nach der Pensionierung, 1979, grub Gottlieb die alten Negative wieder aus, Dokumente seiner Jazz-Begeisterung zwischen 1938 und 1948, schrieb seine Erinnerungen an jene Zeit ("The Golden Age of Jazz") und illustrierte das Buch mit den Fotos von damals. Die Library of Congress erwarb mithilfe der Ira-Gershwin-Stiftung 1.500 seiner Fotografien für ihre öffentliche Sammlung. Als Ende der 80er Jahre das Interesse an Jazz-Fotos sprunghaft anstieg, kamen Gottliebs Bilder in die Galerien, auf CD-Editionen, an die Wände von Jazzclubs, sogar auf Briefmarken. Eine Arbeit, für die Gottlieb nie Geld sah, erweist sich heute als Goldgrube: "Die Nachfrage ist schmeichelhaft und profitabel. Ich freue mich darüber, meine Frau freut sich, meine Kinder freuen sich, meine Enkel freuen sich. Sie bekommen alle einen Anteil am Gewinn, und mir fehlt es an nichts. Jedes Jahr kommen wir einmal zusammen, und dann verteile ich Schecks."

2. "In den Jazzclubs gab es nicht viel Farbe"
HERMAN LEONARD UND DIE ÄSTHETIK DES ZWIELICHTS

Alles begann mit einem Mißgeschick - ausgerechnet in dem Augenblick, als Herman Leonard zum ersten Mal einen Jazzmusiker aus der Nähe fotografieren wollte. Dabei war er bestens vorbereitet, hatte sorgfältig seine zwei Lampen installiert, eine vorn für das Gesicht, eine hinten, um den Schatten zu vermeiden. Leonard drückte auf den Auslöser - doch die vordere Lampe ging nicht los; der Musiker war nur von hinten angestrahlt. Wahrscheinlich konnte Leonard den Fehler beheben und seine Fotosession doch noch zu Ende bringen. Aber nachdem der Film entwickelt war, war ihm nur noch dieses eine Foto wichtig, das danebenging: "Es war ein Bild, wie ich es nie geplant hatte. Es gefiel mir, und daher versuchte ich von da an, den Effekt zu wiederholen. Es dauerte eine Weile, bis ich ihn zuverlässig beherrschte, aber dann wurde das fast so etwas wie mein Markenzeichen."

Leonards Menschen im Zwielicht: von hinten, von oben oder von der Seite beleuchtet. Geheimnisvolle, dämmerige Jazz-Szenen aus Licht und Schatten, charismatische Gestalten in einem Gemisch von Lichtfetzen und Rauchschwaden, manchmal nur Silhouetten vor einem mit düsterer Spannung geladenen Raum. Hier sind nicht Musiker und ihre Instrumente porträtiert, hier ist die ganze Atmosphäre der Jazzbühnen eingefangen: Man glaubt, die Luft dieser Clubs zu atmen, dieses von Rauch, Alkohol und Jazz vibrierende, spezielle Fluidum swingender Nächte. Man glaubt, mit dabei zu sein. "Was ich in meinen Bildern einzufangen versuche, das ist eine Ahnung von der Emotionalität der Musik. Wenn ich das Licht arrangiere, schaffe ich Dimension und Tiefe."

Natürlich erklärt das Mißgeschick mit dem kaputten Blitzlicht nicht alles. Schon auf der Schule hat Leonard leidenschaftlich fotografiert und sich mit Porträts von Mitschülern ein erstes Renommee erworben. 1940 begann er an der Universität in Athens, Ohio, Fotografie zu studieren und schloß sein Studium sieben Jahre später erfolgreich ab - unterbrochen von vier Jahren Krieg, aus dem er erst 1946 wieder zurückkam: einer von vielen versprengten Soldaten im Pazifik-Dschungel. Er assistierte unentgeltlich einem der großen Porträt-Fotografen, Yousuf Karsh, und lernte aktuelle Gesichter zu fotografieren: Politiker wie Harry Truman, Wissenschaftler wie Albert Einstein, Hollywood-Stars wie Clark Gable. Er eröffnete ein Fotostudio in Greenwich Village, dem Zentrum der lebendigen, wild blühenden Künste, porträtierte Sänger, Tänzer, Schauspieler. Und er entdeckte den Jazz.

Jazz-Fotografie war anders: Da bat er die Künstler nicht in sein Studio, sondern besuchte sie an ihrem Arbeitsplatz, dem Bandstand. Er fotografierte sie beim Auftritt, bei Proben oder in Ruhepausen; er sprach dabei nicht zu ihnen, er gab keine Anweisungen, sie posierten nicht. Das einzige, was er arrangierte, war die Beleuchtung, die diese spezielle Atmosphäre schuf. Und noch etwas war anders in der Jazz-Fotografie: Es gab kein Geld. Leonard bot den Clubbesitzern seine Fotos zur Werbung im Schaukasten an und erkaufte sich so den Eintritt. "Die Jazz-Fotografie ist mir sehr wichtig, denn sie ist für mich eine Art privates Tagebuch jener Jahre. Wenn man Models fotografiert, macht man das, um Geld zu verdienen, aber bei meinen Jazz-Fotos ging es nie um Geld - auch wenn mir die Jazz-Magazine hin und wieder für 10 Dollar ein Bild abkauften. Ich habe die Jazz-Fotografie für mich selbst betrieben, zu meinem eigenen Vergnügen, und da ist man subjektiv ganz anders beteiligt. Es war für mich ein sehr wichtiger Lebensabschnitt, und ich rechne diese Fotos zu meinen bedeutendsten Arbeiten."

Herman Leonard war dem Jazz verfallen - und ist es wohl heute noch. Die Nachtclub-Atmosphäre der genialen, dem Tageslicht entrückten, unwiederbringlichen Jazz-Momente zog ihn magnetisch an. Nachdem er erst einmal den Mut gefaßt hatte, mit der Kamera auch auf die Bühne zu gehen, gab es kein Zurück mehr: "Das Fotografieren war meine Chance, am Geschehen teilzunehmen. Wenn ich im Aufnahmestudio anwesend war, war es, als würde ich zur Entstehung eines Songs beitragen. Ich gehörte sozusagen mit zur Familie." Der Fotograf wurde ein enger Freund der Bebop-Heroen, verteilte freigebig Abzüge seiner Fotos, war auf Jam Sessions mit dabei, plauderte und trank mit Miles und Bird und Diz und mutierte irgendwann selbst zu einer dieser Kreaturen der Nacht.

Seine bekanntesten Fotos entstanden in den Jahren um 1950, als der moderne Jazz, genannt Bebop, noch jung und vital, verwirrend und aufregend war. Billie Holiday, vom Licht blaß geschminkt, mit sparsamer Geste am Mikrofon - wie eine strenge japanische Mimin. Kenny Clarke mit Trommelstock, die Silhouette illuminiert von einem dünnen Streifen aus Licht. Sonny Stitt von der Seite, das Saxophon in Rauchschwaden, die Stirn im Scheinwerferlicht, den Nacken gebeugt. Charlie Parker mit Lennie Tristano im Studio, eine Serie von kühlen, konzentrierten Schattenstudien. In den späten fünfziger Jahren fotografierte Leonard seine Helden in Europa, vor allem in Paris, wo Jazzmusiker Respekt für ihre Kunst erfuhren, gefeierte Gastspiele gaben und mancher von ihnen eine neue Heimat fand. Auch Leonard selbst erlebte diesen Respekt: Nicole Barclay, Produzentin des Pariser Barclay-Labels, kaufte bei ihm 12 Fotoabzüge für 3000 Dollar und machte ihn 1956 zum Chef-Fotografen ihrer Plattenfirma.

Als die Zusammenarbeit mit Barclay vier Jahre später endete, verlagerte Leonard seine Aktivitäten in andere Bereiche. Bereits in New York hatte er für verschiedene Magazine geknipst (Life, Esquire, Cosmopolitan, Playboy), 1956 begleitete er den Schauspieler Marlon Brando als Fotograf auf einer Fernostreise, nun spezialisierte er sich auf Werbung, Mode und Fotoreportagen. Als Europa-Korrespondent des Männermagazins Playboy lieferte Leonard etwa 15 Jahre lang Fotoberichte nach Amerika: über die Mädchen der Riviera, die Prostituierten von Paris, die Frauen hinterm Eisernen Vorhang. 1980 zog er sich auf die Insel Ibiza zurück und bereitete den Ruhestand vor. Doch daraus wurde nichts.

Sein mittlerweile populärstes Foto schoß "der Charlie Parker der Kamera" 1948 im legendären Royal Roost in New York. Es zeigt den jungen Tenorsaxophonisten Dexter Gordon bei einer Zigarettenpause, sitzend mit modischem Hut, das Horn locker am Oberschenkel, gekrönt von einer Aura aus illuminiertem Rauch. Dieses Foto wurde 1985 zur wichtigsten visuellen Inspiration für Bernard Taverniers Jazzfilm "Round Midnight", in dem der damals 62jährige Dexter Gordon die Hauptrolle spielte. Der Regisseur lud den Fotografen des Porträts sogar auf den Set, und Leonard verblüffte ihn mit dem Vorschlag, den Film in Schwarzweiß zu drehen. "In den Jazzclubs früher gab es nicht viel Farbe. Die Leute trugen keine bunte Kleidung, keine bedruckten T-Shirts. Einfach Hose, Hemd, Krawatte: Alle waren ziemlich konservativ angezogen, dazu kam der Zigarettenrauch. Und die Erinnerungen, die ich daran habe, sind meine Schwarzweiß-Fotos. Für mich war das immer eine Ära in Schwarz und Weiß." Tavernier wählte einen schlechten Kompromiß: Er drehte in Farbe, kleidete seine Darsteller aber durchweg dunkel. "Am Ende sah alles sehr traurig aus", sagt Leonard heute. "In den Klubs damals ging es keineswegs traurig zu, aber im Farbfilm wirkt es wie eine Beerdigung."

1985, parallel zum Film "Round Midnight", erschien in Paris ein erster Fotoband mit Leonards historischen Jazz-Bildern ("The Eye of Jazz"). Drei Jahre später trug er seine Fotos zu einem Londoner Galeristen, weil er Geld brauchte, um seine Kinder auf eine englische Schule zu schicken. Schon der Erfolg dieser ersten Ausstellung war überwältigend: Leonards atmosphärische Schwarzweiß-Ästhetik, streng und ein wenig verrucht, traf genau den Nerv der britischen Jazz-Renaissance der 80er Jahre. Seine Jazz-Fotos erhielten Features in Zeitschriften und im Fernsehen, die Smithsonian Institution in Washington übernahm eine Auswahl in ihre Sammlung, es folgten akademische Auszeichnungen und eine Würdigung durch den Jazzfan und Hobby-Saxophonisten Bill Clinton. Leonards Fotos erschienen auf Posters, T-Shirts, Postkarten und sogar Schlafanzügen - zuerst illegal, bald gegen gutes Geld.

Und auch die Schallplatten-Firmen meldeten sich wieder. "Sie baten mich, ihre Musiker zu fotografieren, also packte ich die Kamera wieder aus. CD-Covers sind zum Glück nur ein Teil meiner Arbeit; lieber mache ich Posters, da kommen die Musiker-Fotos besser zur Geltung. Beinahe alle meine Aktivitäten heute haben mit Musik zu tun. Ich habe Wynton Marsalis oft fotografiert und arbeite regelmäßig mit jungen Musikern in New Orleans. Vielleicht wird ja einer von ihnen eines Tages ein neuer Duke Ellington oder Dizzy Gillespie."

3. "Meine Fotos mußten anders aussehen"
WILLIAM CLAXTON UND DIE SONNE KALIFORNIENS

Wenn man dem alten Song trauen darf, dann regnet es im gesegneten Süden von Kalifornien das ganze Jahr über nicht. Da kann einer schon mal auf die Idee kommen, Jazzmusiker, gewöhnlich nachtaktive Kreaturen, tagsüber ins Freie zu zerren: zum Strand, auf ein Boot, eine Insel, in ein Baumhaus, in die Berge, in offene Kabriolets, vor Hauswände, auf Freitreppen, ins Straßencafé, ins Kornfeld oder in die Wüste. "Dafür bin ich bekannt geworden: daß ich die Musiker ins helle Tageslicht führte, während sie sonst immer in dunklen Nachtclubs fotografiert wurden - mit Scheinwerfern und Rauch." Aber auch in geschlossenen Räumen entdeckt der Fotograf William Claxton immer wieder überraschende Umgebungen: in Museen, auf Wohnzimmersofas, in Instrumentenläden, vor den Innenverkleidungen der Tonstudios oder hinter der Konzertbühne.

Den Blick fürs fotografisch Besondere übte Claxton schon in frühen Jahren. 1946 - er ging noch zur High School - kreuzte der Junge mit geborgtem Auto und geborgter Kamera in L.A.s Jazzkneipen an der Central Avenue auf. Er orientierte sich an großen Vorbilder, Porträt- und Mode-Fotografen wie Henri Cartier-Bresson, Irving Penn, Richard Avedon. Er begann ein Kunststudium an der UCLA, aber er studierte auch Psychologie - ein Indiz für sein tiefergehendes Interesse an dem Objekt vor der Kamera. "Die psychologische Ausbildung war eine große Hilfe, wenn es darum ging, die Menschen als Fotograf richtig zu behandeln und zu dirigieren - ob Schauspieler, Models oder Jazzmusiker. Ich kenne mich ein bißchen mit Interview-Techniken aus und weiß, wie ich sie dazu bringe, aus sich heraus zu gehen, sich zu entspannen und Vertrauen zu mir zu fassen."

In William Claxtons Karriere als Jazz-Fotograf kam also einiges zusammen: die Liebe zum Jazz, der Blick des Porträtisten und das Interesse des Psychologen. "Ich liebe nicht nur die Musik, was natürlich den ersten Antrieb gab, sondern ich begann auch bald, die Musiker und ihren Charakter zu schätzen. Zunächst einmal mag ich den Anblick, wenn sie ihre wunderschönen Instrumente in der Hand haben, die Haltung, die ihre Körper dabei einnehmen. Und ich liebe ihre Persönlichkeit, eine Kombination aus enormer Disziplin und der fast kindlichen Art des Künstlers. Wenn ich einen Musiker fotografieren soll, den ich nicht kenne, kaufe ich mir seine Platten und höre sie an, damit ich etwas über ihn weiß. Vor allem besuche ich vorher ein Konzert von ihm, studiere seine Musik, seine Bewegungen, den Lichteinfall auf Gesicht und Instrument. Ich höre auch mit den Augen."

Claxton inszeniert seine Porträts wie Modefotografien: Er fahndet nicht nur nach dem richtigen Winkel, der interessantesten Haltung, er geht auch auf Suche nach einer passenden Umgebung. Er führt Chet Baker mit dessen Freundin in ein leerstehendes Haus am Strand. Er begleitet Donald Byrd beim Üben auf einer nächtlichen U-Bahn-Fahrt. Er besucht Cal Tjader auf einer Yacht, stellt Thelonious Monk auf einen Cable Car, läßt Art Pepper eine lange, gerade Straße bergauf gehen, fährt mit Christopher Hollyday nach Staten Island hinüber, schickt Jack Sheldon nachts in eine düstere Seitengasse Hollywoods. Er stellt Atmosphäre nicht künstlich her, aber er findet sie. Das Porträt wird zum Image, das Image zum Symbol.

Als Gerry Mulligan 1952 im Haig Club spielte, Chet Baker sein Trompeter war, kein Klavier zur Verfügung stand, man aus der Not eine Tugend machte, den Westcoast-Jazz aus der Taufe hob und einen angehenden Produzenten damit begeisterte, war Claxton mit seiner Kamera zur richtigen Zeit am richtigen Ort. "Ich hatte Chet Baker einige Monate vorher mit Charlie Parker gehört, den ich sehr verehrte. Baker wirkte auf mich wie ein äußerst attraktiver Preisboxer: die kleine Nase, der engelhafte Blick, ein fehlender Zahn, die athletische Figur - gleichzeitig hübsch und brutal. Und dann sein Spiel: ein wenig wie Miles Davis, aber weicher, melodischer. Ich sah ihn wieder bei Mulligan, und als ich fotografierte, sprach mich dieser junge Mann an, Richard Bock." Damit begann die Geschichte von Pacific Records: Claxton wurde Bocks Partner und war viele Jahre lang der Fotograf und Cover-Designer des führenden Westcoast-Labels.

Der Student, dem das Fotografieren über Nacht zum Beruf geworden war, nützte das Glück der Stunde: Jazz wurde gerade wiederentdeckt in Kalifornien. Viele Musiker aus New York kamen, um in den Klubs von Los Angeles und San Francisco aufzutreten; noch mehr wurden von den Tonstudios und Film- und Fernsehproduktionen Hollywoods angezogen. Und dann folgte die Erfindung der Langspielplatte. "Das war eine Riesensensation. Jede Plattenfirma nahm Tag und Nacht Musik auf, also machte ich bald Plattenhüllen für alle Jazz-Labels Amerikas und war richtig im Geschäft. Ich bemühte mich, einen Stil zu finden, der sich vom Ostküsten-Look unterschied - ohne die verräucherten Klubs und verschwitzten Gesichter. Meine Fotos mußten anders aussehen als die meiner Helden, Herman Leonard und William Gottlieb. Schließlich fühlt man an der Westküste anders, man lebt anders, denkt anders."

Claxtons Stil leistete in den 50er Jahren seinen Beitrag zur Image-Förderung des Jazz und des kalifornischen Way of Life. Die Musiker auf seinen farbigen Plattencovers verbreiten Lebensfreude, sie lachen, wirken gesund und sportlich, tragen leichte, helle Kleidung. Nachtkreaturen sehen da plötzlich aus wie Durchschnitts-Amerikaner und gehen durchschnittlichen Beschäftigungen nach: Sie fahren Auto, gehen schwimmen, spielen Golf. Der kühle Sound des Westcoast-Jazz erreichte wieder ein Mainstream-Publikum, verdrängte das avantgardistische Image des Bebop und - zu Unrecht - den Junkie-Ruf der Musiker. In New Yorker Jazzkreisen hat so manches Cover aus Los Angeles allerdings Kopfschütteln ausgelöst - etwa jenes preisgekrönte Foto, das Sonny Rollins in Cowboy-Montur zeigt und die Hülle seiner Platte "Way Out West" ziert. "Seine Freunde in New York zogen ihn mächtig damit auf und warfen es ihm vor, daß er so etwas mitgemacht hatte. Er war dann viele Jahre lang nicht gut auf mich zu sprechen."

In den 60er Jahren, als sich der Jazz radikalisierte, verlor Claxton das Interesse an der aktuellen Entwicklung der Musik. Durch seine Frau, das Mannequin Peggy Moffitt, zog es ihn in die Modefotografie. Er fotografierte die Kreationen von Rudi Gernreich, machte Fotoreportagen, Filmausstattungen, Modefilme, Werbespots, veröffentlichte in Life, Time, Vogue, Harper's Bazaar, Playboy, Paris Match und anderen Magazinen. Erst in den späten 80er Jahren trat der Jazz wieder in den Vordergrund: "Mit Jazz-Fotos bin ich bekannt geworden, und Jazz bestimmt wieder 60 Prozent meiner Aktivitäten heute - vor allem wegen der alten Bilder. Ich habe sie immer hoch geschätzt und gut verwahrt, aber ich hätte nie gedacht, daß sie einmal so wichtig würden. Die Leute kaufen sie für CD-Editionen, ich veröffentliche Bücher, und sie werden auch in Dokumentarfilmen verwendet. Die Plattenfirmen rufen wieder bei mir an, also fotografiere ich wieder junge Jazzmusiker - Wynton Marsalis, Roy Hargrove, Cyrus Chestnut, Cassandra Wilson - und sogar Popstars wie Sting und Eric Clapton."

Claxtons Frau meint, sein fotografischer Stil sei härter geworden, objektiver, weniger spontan. Allerdings ist das Fotografieren auch nicht mehr so einfach: Vorbei sind die Zeiten, als man sich mit einem Musiker einfach am Strand oder in einem Café zur Fotosession verabreden konnte. "Dieses Musikbusiness ist so verrückt: Je größer der Star, desto schwerer wird es, ihn zu fotografieren. Da sind nicht nur große Summen im Spiel (worüber ich mich freue), sondern auch jede Menge Leute - Produzenten, Art Directors, Künstlermanager, Anwälte, Leute für die Sicherheit, für die Frisur und das Make-Up, dann meine eigenen Assistenten... - unglaublich." Manchmal fotografiert Claxton lieber einen jungen Musiker, den noch keiner kennt und der ihn nicht einmal bezahlen kann - höchstens mit einer ihm gewidmeten Komposition.

***

OUT

"Fotografie ist Jazz fürs Auge", sagt William Claxton. Eine Sekunden-Entscheidung: improvisiert, direkt, dicht. Denn was von der flüchtigen Kunst namens Jazz an Musik und Bildern konserviert wird, sind am Ende nur Momentaufnahmen. Der Rest ist unwiederbringlich dahin, vorbei, vergangen. Mancher Jazzfan wünscht sich heute, es gäbe mehr Einspielungen von Charlie Parker oder Clifford Brown, Eric Dolphy oder Billie Holiday. Auch Fotografen trauern ihren verpaßten Möglichkeiten nach. William Gottlieb hätte gern Dinah Washington fotografiert, aber ihre Wege kreuzten sich nie. Auch Fats Waller entging ihm, obwohl der eigens zu einer von Gottliebs Radioshows anreiste. "Da er sich so vorm Fliegen fürchtete, trank er im Flugzeug auf dem ganzen Weg von Detroit nach Washington. Er war so betrunken, daß er nicht vors Mikrofon konnte, und ich war so jung und arrogant, daß ich dann auch kein Foto von ihm machen wollte." Auch Herman Leonard verpaßte einen der ganz Großen, John Coltrane. "Da gab es ein geographisches Problem: Ich war in Europa, er in Amerika. Als er dann auf Europatournee ging, hatte ich mit Jazz nichts mehr zu tun." William Claxton nennt besonders einen Namen, der ihm in seiner Fotosammlung noch fehlt: Oscar Peterson. Aber das könnte ja noch klappen.

© 1997, 2002 Hans-Jürgen Schaal


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