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Schon in den ersten Takten der Introduktion verbreitet sich eine leichte Unruhe im Saal des Théâtre des Champs-Elysées. Bald hört man aus den Logen Gelächter und Pfiffe, dann auch spöttische Zurufe und imitierte Tierlaute. Im Parkett kommt es zu Gegenkundgebungen, die Unruhestifter werden angegriffen, später toben Handgemenge im Publikum, es wird geschrien, getrampelt, gelärmt. Der Komponist verlässt seinen Platz in der 4. oder 5. Reihe und geht hinter die Bühne, wo der Choreograf auf einem Stuhl steht, den Tänzern Zahlen zuruft und jeden Augenblick hinausstürzen möchte, um alles abzubrechen. Der Manager der Balletttruppe lässt das Licht mehrmals ein- und ausschalten, während der Dirigent, scheinbar unbeeindruckt vom Toben des Saales, das halbstündige Stück bis zum letzten Ton zu Ende bringt. Wir erleben einen der größten Premierenskandale der Musikgeschichte.

Ritualmord auf der Ballettbühne
Anmerkungen zu Strawinskys "Sacre du Printemps"
(2000)

Von Hans-Jürgen Schaal

Dass die Uraufführung von Strawinskys Ballettmusik "Le Sacre du Printemps" am 29. Mai 1913 derartig eskalierte, hatte mehrere Gründe. Einer davon war natürlich Strawinskys Musik - avantgardistisch, provokativ, melodienfeindlich, von nie gehörter, nahezu gewalttätiger Motorik. Der zweite Grund war die dargestellte Handlung - eine verstörende, abstrakte Szene aus grauer Vorzeit, die barbarische Riten und einen blutigen Opfermord auf die Tanzbühne brachte. Ebenso empörend war die Choreografie - keine klassischen Tanzschritte, kein liebevoller Pas de deux, sondern hektische, komplizierte Bewegungen, die im Lärm und der Erregung der Saal-Ereignisse ins Chaotische explodierten. Ein vierter Grund - und nicht der unwichtigste - war: Man erwartete, man wollte den Skandal.

Der Mann, der den Skandal geradezu erhoffte, in jedem Sinn damit "rechnete", war Sergej Diaghilew (1872-1929), der Begründer und Leiter der Truppe "Ballets Russes", die erst wenige Jahre zuvor die Ballettkunst ihrem Dornröschen-Schlaf entrissen hatte, um sie in kreatives Neuland zu entführen. Die besten Komponisten der Zeit schrieben für Diaghilew, darunter Strawinsky, Debussy, Ravel, Strauss, Satie, Hindemith und Prokofjeff. Strawinsky verdankte seinem Förderer Diaghilew schlicht den Aufstieg zum Ruhm: Die Auftragswerke "Der Feuervogel" und "Petruschka", die Michail Fokin 1910 bzw. 1911 für die Truppe choreografierte, waren große Publikumserfolge. Und Erfolge musste Diaghilew vorweisen können, denn das Überleben des Ensembles hing vom finanziellen Wohlwollen seiner bürgerlichen und adligen Mäzene ab.

Mit seinem sicheren Gespür für Sensationen und Neuerungen erkannte Diaghilew sofort das Potential, das in Strawinskys "Sacre"-Idee steckte, von der er bereits 1910 erfuhr. Als der Skandal drei Jahre später perfekt war, äußerte sich Diaghilew rundum zufrieden: "Genau das, was ich gewollt habe". Denn schließlich bedeutete ein Skandal nicht Misserfolg, sondern Publicity - und damit potenzierten Erfolg. Die Generalprobe des "Sacre" vor geladenen Künstlern und Journalisten verlief zwar ruhig; doch das Pariser Premierenpublikum war durch erste Berichte gewarnt und willens, sich keine Ungeheuerlichkeiten gefallen zu lassen. Premieren-Skandale lagen in den letzten Jahren vor dem I. Weltkrieg ohnehin in der Luft: Revolutionäre Kunst und konservative Bildungs-Aristokratie trafen im Kulturbetrieb unvermittelt aufeinander. Nur zwei Monate vor dem "Sacre" kam es bei der Uraufführung von Bergs Altenberg-Liedern zum heftigsten Skandal der Schönberg-Schule in Wien.

Allein der Name des Choreografen, Vaclav Nijinskij (1889-1950), versprach für die "Sacre"-Uraufführung Skandalträchtiges. Der göttliche Wundertänzer, ein besonderer Liebling des homoerotisch empfindenden Diaghilew, hatte bereits in Russland für einige Entrüstung gesorgt, weil Diaghilew ihn vor dem Zaren in einem aufreizend engen Trikot hatte tanzen lassen. Nijinsky, der in Strawinskys "Petruschka" eine seiner Paraderollen fand, übernahm auf Wunsch von Diaghilew zunehmend auch choreografische Aufgaben. So inszenierte er 1912 die Uraufführung von Debussys "L'après-midi d'un Faune", tanzte dabei selbst die Hauptrolle und sorgte durch eine obszöne Geste für einen handfesten Skandal und todsicheren Kassenerfolg. Da Fokin inzwischen die Truppe verlassen hatte, sollte Nijinsky auch den "Sacre" inszenieren.

Folgt man der Darstellung Strawinskys, so war allein die Choreografie für den "Sacre"-Skandal verantwortlich. Sehr wahrscheinlich war Nijinsky mit der Aufgabe schlicht überfordert: Er war damals gerade 23 Jahre alt, besaß noch kaum Erfahrung als Ballettleiter, inszenierte gleichzeitig Debussys "Jeux" und sah sich im "Sacre" mit einer revolutionären, rhythmisch äußerst komplexen Partitur konfrontiert. Nijinsky war zudem ein scheuer, schwer zugänglicher Mensch, wirkte zuweilen etwas geistesabwesend und sollte vier Jahre später unheilbar an Schizophrenie erkranken. Die Proben waren zahlreich, zermürbend und schwierig. Doch wenn Strawinsky behauptet, der Tänzer sei musikalisch völlig unbedarft gewesen ("Der arme Kerl konnte weder Noten lesen noch irgendein Instrument spielen"), so übertreibt er natürlich: Ein Foto von 1911 zeigt Nijinsky sogar beim vierhändigen Klavierspiel mit Maurice Ravel. Strawinsky hat seine harschen Urteile über Nijinsky übrigens gegen Ende seines Lebens abgemildert.

Doch eines ist klar: Strawinskys szenische Vision und Nijinskys choreografische Umsetzung lagen weit auseinander. Dem Komponisten schwebten großräumige Gruppenbewegungen vor, die das Archaische, Unpersönliche des Geschehens betonen sollten. Nijinsky dagegen - unterstützt von Emile Jacques-Dalcroze, dem Begründer der rhythmischen Gymnastik - wollte die Musik Takt für Takt in Tanz übersetzen und studierte hoch komplizierte Schrittfolgen ein, die dann im Tempo der Aufführung zu unüberwindbaren technischen Problemen führten und streckenweise in chaotische Hüpferei mündeten. Hinzu kam, dass die gerufenen Anweisungen des Choreografen in den Schrittgeräuschen des Balletts und im Lärm des Publikums untergingen.

Die choreografische Umsetzbarkeit des "Sacre" ist bis heute umstritten. Obwohl es im 20. Jahrhundert vielbeachtete Inszenierungen gab (z.B. durch Leonid Mjassin, Martha Graham, Aurel von Miloss, Mary Wigman, Pina Bausch), wird Strawinskys Komposition oft als anti-tänzerisch empfunden. Kein Wunder, dass das Werk vor allem als Konzertstück Verbreitung fand: Zu rabiat ist die kompromisslose Motorik einzelner Passagen, um sie noch in eine fließende Körperästhetik umsetzen zu können. Die Musik gerät häufig zum bloßen "Motor der Bewegung von Körpern" (Adorno) und der einzelne Tänzer zur Marionette einer unbarmherzigen Mechanik. Erstmals in der Musikgeschichte scheint der Rhythmus moderner Industrie-Maschinen spürbar zu werden, und ein 110-köpfiges Riesenorchester mit hoch differenzierter Perkussion unterstützt diesen Eindruck. Nur wenige Jahre später sollte der Begriff "Maschinenmusik" in Mode kommen - speziell in Bezug auf die Avantgarde im revolutionären Russland.

Strawinskys Partitur folgt in der Tat einer nahezu technizistischen Logik. Von spätromantischer Schwärmerei, ausschwingender Melodie, harmonischer Verfeinerung - den Substraten bürgerlicher Ballettkunst und Sinfonik - ist im "Sacre" nichts zu spüren. Das Ruhige ist nicht poetischer Gedanke, sondern harmonischer Stillstand; das Bewegte ist nicht geistiger Elan, sondern aggressive Motorik über einem sturen Grundpuls. Für Adorno - nicht gerade ein Strawinsky-Verehrer - beweist sich die musikalische Substanz des "Sacre" gerade in der Art, wie hier "mit großem und hellem Bewusstsein" alle herkömmliche Melodik ausgespart sei. Anstatt Themen und harmonische Abläufe zu entwickeln, montiert Strawinsky motivische Bausteine: Die Einfälle sind dissonant und in verschiedenen Tonalitäten übereinander geschichtet, ständig wechselnde rhythmische Akzente geraten miteinander in Streit. Der Schlusstanz enthält 154 Taktwechsel in 275 Takten. Nicht verwunderlich, dass die bessere Pariser Gesellschaft von 1913 den "Sacre" als Anti-Musik, als Hohn auf die Kultur empfand.

Schon das Sujet des Balletts wehrt sich ja gegen bürgerliche Sitte und Bildung und Zivilisation überhaupt. Im "Sacre" geht es um die eruptive Wiedergeburt der Natur, um den existenziellen, oftmals "plötzlich" und wie mit Gewalt ausbrechenden, gar nicht poetisch aufgefassten russischen Frühling. Strawinskys Vision, die er schon bei der Arbeit am "Feuervogel" hatte, war die eines urzeitlichen heidnischen Frühlings-Kults, bei dem eine Jungfrau von einem Rat alter Männer getötet wird, um als Opfer den Frühling zu erzwingen. Strawinskys Freund Nikolaj K. Roérich (1874-1947), bewandert in skythischen Mythen, half beim Libretto, das von einem Gedicht von Sergej M. Gorodeckij angeregt war. Im Gedicht werden - mit unverkennbar sexueller Konnotation - die nackten, weißen Mädchenkörper mit dem hellen Stamm einer entrindeten Linde verglichen. An diesen Baum werden die Opfer dann gefesselt, um mit Äxten zerstückelt zu werden.

All das - gewalttätiger Ausbruch der Natur, heidnischer Urkult, blutiger Ritualmord - verlangt von einer musikalischen Darstellung in der Tat, dass sie kulturelle Sublimierungen durchbricht. Das Blutopfer - dem Gott geweiht - ist die prähistorische Ur-Form des "Heiligen" und damit die Wurzel aller Religion und Gesittung: Daran zu erinnern, war das eigentliche Skandalon im "Sacre du Printemps". Sujet und Musik ließen den Zuhörer ahnen, schreibt Heinz Becker, "wie dünn die zivilisatorische Decke war, die ihn von der elementaren Gewalt dieser rituellen Vorgänge trennte." Das Thema lag ja in der Luft. Schon Nietzsche wollte die Kultur durch ein Stück Barbarei korrigiert sehen, Freud legte psychoanalytisch den verdrängten Triebgrund der Zivilisation bloß, die Kunst der Primitiven kam in Mode: Mit den neuen Zeiten ging auch ein Stück kultureller Schein verloren.

Dass sich im "Sacre" das Ur-Heidnische aber mit technisch anmutender Rhythmik verband, die Anti-Zivilisation mit der Sphäre der Fabrik-Maschinen, stieß geradezu ins Zentrum bürgerlicher Ängste vor, rief das Schreckgespenst einer proletarischen Revolution wach. (Für das neue, technische Heidentum prägte Günther Anders einmal den Begriff "industrieller Dionysos-Kult": Gemeint war der Jazz, nicht der "Sacre".) Tatsächlich vermerkte Strawinsky einmal, der "Sacre" revoltiere gegen alles, wofür das klerikale Russland stehe. In seiner russischen Heimat aber waren umstürzlerische Bestrebungen gegen das zaristisch-orthodoxe Regime seit 1905 unübersehbar geworden. Der plötzliche russische Frühling, das Opfer des Individuums fürs Kollektiv, die bolschewistische Revolution, der Zusammenbruch der alten Ordnung in ganz Europa: Alles das, wissen wir heute, dämmerte schon in dieser Musik. Am Vorabend des I. Weltkriegs spürte das Pariser Premieren-Publikum vieles davon nur allzu deutlich. Der Skandal war nicht nur ein Kunst-Skandal.

© 2000, 2004 Hans-Jürgen Schaal


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