Neben Max Roach und Hank Jones ist er der letzte Überlebende aus dem kleinen Kreis der Bebop-Pioniere: J.J. Johnson, 75 Jahre alt, der erste, einflußreichste und noch immer unübertroffene Posaunist des modernen Jazz. Vor zwei Jahren hat er offiziell seine Konzerttätigkeit beendet, doch auch als Jazz-Rentner befindet sich "JayJay" im musikalischen Unruhestand: Er outet sich als MIDI-Maniac.
J.J. Johnson
Der Strawinsky der Posaune
(1999)
Von Hans-Jürgen Schaal
Sie kennen das aus Ihrem Jazzclub. Eine flotte Session ist im Gange, zwei junge Saxophonisten liefern sich ein heißes Duell, ein virtuoser Pianist ist mit dabei, ein ordentlicher Trompeter. Dann kommt das Posaunensolo: Plötzlich reißt die Spannung ab, Langeweile greift um sich, das Publikum wird laut. Der Posaunist muß nicht der Schwächste in der Band sein, aber sein Instrument ist zweifellos das am schwierigsten zu spielende. Die weiten Armbewegungen, die die Zugposaune verlangt, machen saubere, swingende Läufe mit markanten Intervallen nahezu unmöglich. Der akrobatische Aufwand erschöpft bald auch die improvisatorische Phantasie. Folge: Die Phrasen werden kürzer und einander immer ähnlicher. Selbst bei namhaften Posaunisten sind schnelle Achtelläufe, flexible Rhythmisierungen und große Melodiebögen nicht immer an der Tagesordnung.
Desto umwerfender muß der Eindruck gewesen sein, den J.J. Johnson hinterließ, als er 1946 erstmals bei den Beboppern der 52. Straße aufkreuzte. Eine sperrige Zugposaune im Expreß-Gepäck eines Charlie Parker und Dizzy Gillespie? Der gemütliche Dixieland-Brummer auf modernistischem Glatteis? Viele Kritiker, die J.J. Johnsons erste Bebop-Aufnahmen hörten, hätten eine Flasche Whisky darauf gewettet, daß es sich um ein Ventil-Instrument handelte. So klar, lichtschnell, hart, brillant, beweglich war eine Zugposaune nie gespielt worden. Wie J.J. Johnson das träge Monstrum eines Trummy Young und Jack Teagarden revolutionierte, das ließ sogar den Übergang von Johnny Hodges und Roy Eldridge zu Charlie Parker und Dizzy Gillespie fast wie einen Katzensprung aussehen. Ganz offenbar hatte dieser junge Posaunist aus Indianapolis seine Vorbilder unter den Vertretern leichtfüßigerer Instrumente. Von Lester Young kennt J.J. Johnson jede Note, und mit Fats Navarro spielte er schon als 17jähriger.
Und doch: Es soll da einen Posaunisten gegeben haben, dessen Beispiel J.J. Johnson ermutigte, das Unmögliche zu versuchen. Der heute 75jährige, der über alle Kollegen nur in den höchsten Tönen spricht, wird nicht müde, auf einen nahezu vergessenen Vorläufer hinzuweisen, einen gewissen Fred Beckett. Selbiger spielte gelegentlich mit Andy Kirk, Milt Buckner oder Arnett Cobb und war - ab 1940 - drauf und dran, im Orchester von Lionel Hampton Karriere zu machen. Doch 1942 bremste der "Recording Ban" seinen Aufstieg zum Ruhm, 1944 holte ihn die Army, dort erkrankte er an Tuberkulose und starb 1946 mit 29 Jahren. "Er kam aus dem mittleren Westen und spielte dort mit einer kleinen Big Band, den Harlan Leonard Rockets", erinnert sich J.J. Johnson. "Ich hatte nie zuvor einen Posaunisten dieses Stils gehört. Was er spielte, war nicht Bebop, aber es war anders als das Spiel aller anderen Posaunisten. Es war mehr linear. Fred Beckett gab mir den ersten Anstoß, mein Spiel auf melodische Linien anzulegen." Wahrscheinlich ist es nur J.J. Johnsons Hinweis zu verdanken, daß Fred Beckett in den Jazz-Lexika weiterlebt.
Den zweiten wichtigen Anstoß gab der Bebop. Der 22jährige J.J. hatte bereits drei Jahre in der Band von Benny Carter hinter sich und war gerade bei Count Basie engagiert, als ihn der Sound der 52. Straße unwiderstehlich packte. "Ich hörte davon, daß es dort Combo-Jazz gab, und interessierte mich dafür. Dann hörte ich von Dizzy Gillespie und Charlie Parker und wurde neugierig - so sehr, daß ich bei Basie kündigte und mich in New York niederließ, um mehr über diese neue und aufregende Art des Jazz zu lernen. Für den Fall, daß sich der Bebop als das Richtige für mich herausstellen würde, begann ich schon mal, eine dazu passende Spielweise zu trainieren." In der Tat: Bebop war das Richtige. Besonders Dizzy Gillespie förderte und ermutigte den Posaunisten und wußte sogar Tips zu bestimmten Zugpositionen. Im Juni 1946 nahm J.J. seine ersten vier Stücke mit eigenem Quintett auf: Der gleichaltrige Bud Powell saß am Klavier, der ein Jahr jüngere Max Roach am Schlagzeug, der ein Jahr ältere Cecil Payne mimte den Charlie-Parker-Ersatz. Im Dezember 1947 begleitete J.J. bereits den echten Bird im Studio - neben Miles Davis.
Resolut, bescheiden, allen Veränderungen offen: J.J. Johnsons Musiker-Leben wurde von schnellen, radikalen Entschlüssen geprägt. Weil er als Teenager unbedingt bei ein paar musikalisch interessierten Youngstern mitspielen wollte, wechselte er kurzerhand vom Klavier zur unbesetzten Posaune. Als er den Bebop entdeckte, verzichtete er entschlossen auf eine erfolgversprechende Big-Band-Karriere. Als der Bebop sechs Jahre später unmodern wurde, legte er das Instrument, das er spielte wie kein anderer, prompt wieder aus der Hand und nahm einen bürgerlichen Beruf an. "Nach meinem Empfinden erlebte der Jazz damals seltsame Metamorphosen, über die ich mir nicht ganz im klaren war: Rock'n'Roll, Rhythm'n'Blues. Um meiner Verwirrung Herr zu werden, beschloß ich, mit dem Jazzspielen aufzuhören und erst einmal die Szene zu beobachten." Zwei Jahre später kehrte J.J. im Tandem mit dem Posaunenkollegen Kai Winding auf die Szene zurück: "Jay & Kai" demonstrierten, daß sich die Posaune nicht nur musikalisch emanzipiert hatte, sondern - im aparten Duett - sogar zum Publikumsrenner werden konnte.
Für die erste Session mit Kai Winding schrieb J.J. 1954 seine erfolgreichste Jazz-Nummer, "Lament". Die ein wenig feierliche Ballade wurde durch seinen "dear, dear, dear friend" Miles Davis berühmt, ist inzwischen ein zeitloser Standard und findet sich auf CDs so unterschiedlicher Musiker wie Chet Baker und Gary Thomas. Daß das berühmte Stück innerhalb weniger Minuten entstanden sei, unmittelbar vor der Studio-Session von Jay & Kai, gehört zu den unausrottbaren Legenden des Jazz. "Ich erinnere mich nicht, daß dem so war", stellt J.J. richtig. "Ich erinnere mich auch nicht, dies irgendjemandem so erzählt zu haben. Ich habe das im Lauf der Jahre viele Male lesen müssen und frage mich, wer diese Geschichte erfunden hat." Auch die Vokalisten finden immer öfter Geschmack an der erfolgreichen Melodie, doch der Komponist hat bis jetzt keine der kursierenden Textversionen akzeptiert. "Es wurden mir schon verschiedene Songtexte zur Autorisierung zugesandt, aber es war keiner darunter, der mir gefallen hätte. Alle Vokalaufnahmen von 'Lament' entstanden ohne meinen Segen und ohne mein Mittun."
In den 50er Jahren erreichte J.J. Johnson den Gipfelpunkt seines instrumentalen Könnens. Sein dunkler, kühler Ton, der manchmal an ein Waldhorn erinnert, verband sich damals mit einer solistischen Grammatik, die auf die improvisierende Entwicklung von Motiven und die Erkundung von Skalen abzielte. Seit jener Zeit ist J.J. Johnson der Held aller Posaunisten im Jazz: maßlos bewundert und nie erreicht. Für jede Aufnahme, bei der ein Jazz-Posaunist gebraucht wurde, war J.J. erste Wahl: Ein diskographischer Katalog von seltener Qualität entstand da. Er selbst sieht sich ungern als Ausnahmeerscheinung, und auch die schlichte Tatsache, daß die Posaune seit dem Beginn des modernen Jazz weitgehend von der solistischen Bildfläche verschwunden ist und weniger widerborstigen Instrumenten Platz machen mußte, mag er nicht akzeptieren. Vehement verweist er auf den "Nachwuchs" - angefangen bei Albert Mangelsdorff (70), Carl Fontana (70) und Slide Hampton (67) bis hin zu Steve Turre (50), Ray Anderson (46) und Robin Eubanks (43). Nur: Was sind drei große Posaunisten pro Generation gegen ganze Heerscharen hervorragender Saxophon- oder Klavierspieler!
Auch nach 1954 blieb J.J. Johnson ein Freund stetiger Veränderungen. 1956 präsentierte er erstmals ein größeres Kompositionswerk, die "Jazz Suite For Brass", später folgten "Rondo For Quartet And Orchestra", "El Camino Real", "Perceptions", "Euro-Suite" und andere. Aus dem führenden Jazz-Posaunisten der Welt war plötzlich ein ambitionierter Komponist geworden. "Combos bieten wenig kompositorische Herausforderung, wie man sich denken kann. Größere Formen begannen mich deshalb zu reizen, und dazu kam, daß ich meine Liebe zur klassischen Musik entdeckte. Wenn ich mir heute Musik anhöre, dann zu 90 Prozent die Klassiker dieses Jahrhunderts: Komponisten wie Strawinsky, Bartók, Britten, Ravel, Hindemith, Schostakowitsch, Prokofieff, Penderecki. Ich kann nur hoffen, daß meine Leidenschaft für diese Musik auch meinen eigenen Stil als Komponist ein wenig beeinflußt hat."
Der nächste radikale Schritt war der vom Teilzeit- zum Vollzeitkomponisten. J.J. fand Interesse an Filmmusik alten Stils - dramatisch, sinfonisch, so in der Art eines Jerry Goldsmith, Erich Wolfgang Korngold, Alfred Newman, Earle Hagen. "Sie verwenden sehr große Orchester, und der Stil erinnerte mich an einige meiner klassischen Lieblingskomponisten. Ich wollte mich selbst an so etwas versuchen, und Quincy Jones, der schon Erfahrung mit Filmmusik hatte, ermutigte mich dabei." 1970 ging J.J. nach Kalifornien - mit Quincys Zuspruch und einigen wenigen Kontakten. "Ich wußte, der Jazz würde mich nie ganz loslassen, aber er würde für einige Zeit auf dem Rücksitz Platz nehmen müssen." Auf dem Beifahrersitz aber saß Hollywood - fast 18 Jahre lang. In dieser ganzen Zeit arbeitete der Jazz-Posaunist Nummer 1 erfolgreich an Kino- und TV-Soundtracks, darunter "The Six Million Dollar Man", "Starsky & Hutch", "Across 110th Street", "Cleopatra Jones", "The Man and the Boy", "Shaft", "The Mod Squad", "The Bold Ones", "Harry-O", "Mike Hammer". Die Aufzählung ist unvollständig, soviel steht fest.
"Filmkomposition ist ein sehr einsames Geschäft", sagt J.J. Johnson heute. "Du sitzt in deinem Studio, allein mit deinem leeren Notenpapier. Du triffst keine Schauspieler, du triffst nur Produzenten, Regisseure und Cutter. Du hast eigentlich keinerlei menschlichen Kontakte dort. Dennoch ist es eine positive Einsamkeit, denn du mußt für diese Arbeit allein sein. Du brauchst Stille." Obwohl J.J. nur gelegentlich noch als Jazzmusiker auftrat, war seine Spitzenposition in den Posaunen-Polls kaum gefährdet. Kleinere Musikerjobs in den Studios von Hollywood halfen ihm zudem, als Posaunist in Form zu bleiben. Erst 1987 meldete sich der Jazz-Hunger zurück. J.J. Johnson verabschiedete sich von Hollywood, zog in seine Geburtsstadt Indianapolis und kehrte - 64jährig - auf die Jazz-Bühne zurück. Zwei Live-CDs aus dem Village Vanguard, aufgenommen im Sommer 1988, markierten eines der glorreichsten Comebacks der Jazzgeschichte.
Seine neue CD "Heroes" ist die siebte Veröffentlichung seit dem Comeback. "Der Titel war nicht meine Idee, und ich mochte ihn überhaupt nicht. Erst nachdem ich die Liner notes zur CD gelesen hatte, fand ich: Der Titel 'Heroes' paßt perfekt" - nämlich als Anspielung nicht nur auf große Weggefährten, sondern auch als Ehrung für J.J.s Pianistin Renee Rosnes ("ein Genie"), die mit einem Solo-Stück gefeaturet ist, oder für seine zweite Ehefrau Carolyn, der er die Erkennungsnummer der CD gewidmet hat. (Der verstorbenen ersten Ehefrau Vivian setzte er 1992 mit einer CD auf Concord ein kleines Denkmal.) Obwohl Stücktitel wie "Thelonious The Onliest" und "In Walked Wayne" deutlich auf Monk und Shorter verweisen, will J.J. diese Nummern nicht als Widmungen sehen. "Ich habe etwas komponiert, und im nachhinein erinnerte es mich an Monk bzw. Shorter." Monk gehört zu den ganz wenigen Giants, mit denen J.J. nie aufgenommen hat - so behauptet er jedenfalls, doch er täuscht sich. Shorters Gastauftritt bei "In Walked Wayne" war - angeblich - sogar die allererste persönliche Begegnung zwischen J.J. und dem Saxophonisten.
"Heroes" entstand als J.J. Johnsons letzte Aufnahme vor seinem Rücktritt vom Konzertleben. "Nach 54 Jahren Bühnenaktivität dachte ich mir: 54 Jahre sind eigentlich genug. Ich übe aber weiterhin regelmäßig Posaune, zwei- bis dreimal die Woche, und ich habe einen laufenden Vertrag mit meiner Plattenfirma. Momentan erwäge ich ein Duo-Album mit Hank Jones." Doch der Schwerpunkt seiner musikalischen Aktivitäten hat sich in einen anderen Bereich verlagert: die elektronische Komposition. Von Jimmy Heath auf den digitalen Geschmack gebracht, ist der 75jährige inzwischen zum MIDI-Freak geworden: Er komponiert per MIDI-Programm, hört sich die Ergebnisse an, speichert sie in Computerdateien. Ein Publikum hat er dabei nicht im Sinn. "Es ist abenteuerliche, bizarre, dissonante Avantgardemusik und für mich eine Art musikalischer Fitness-Übung. MIDI und das Internet haben meine Lebensqualität enorm erhöht. Ich stehe morgens um sechs auf, checke meine E-Mails und beginne am Computer zu komponieren. Ich komponiere nahezu 24 Stunden am Tag, es ist alles, was ich tue. Ich bin ein MIDI-oholic. Vielleicht muß ich bald zurück auf die Jazz-Bühne, nur um mich ein wenig vom Ruhestand zu erholen."
© 1999, 2002 Hans-Jürgen Schaal
© 1999 Hans-Jürgen Schaal |