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Lange Zeit galt das Streichquartett als höchste Instanz kammermusikalischer Würde und Esoterik. Frack und Fliege, steifer Ernst und feierliche Konzertsäle gehörten unbedingt dazu. Der beste Kenner des Genres, Ludwig Finscher, nennt das Spiel auf vier Geigen die "vornehmste Gattung der Instrumentalmusik". Doch seit den achtziger Jahren ist eine neue Art Streichquartett auf dem Vormarsch: schrill, postmodern und - in den Worten Alexander Balanescus - "mehr wie eine Rockband".

VIER GEIGEN AUF NEUEM KURS
Image-Wandel beim Streichquartett
(1996)

Von Hans-Jürgen Schaal

In der griechischen Mythologie rebelliert Kronos, der jüngste der Titanen, gegen seinen Vater und übernimmt selbst die Herrschaft. Ganz ähnlich hat das amerikanische Kronos Quartet mit dem historischen Muff der 200jährigen Streichquartett-Tradition aufgeräumt. Statt in Frack und Fliege läßt man sich in bequemer Freizeitkleidung fotografieren, man tritt in Phantasiekostümen auf, sitzt auf der Bühne im Licht bunter Scheinwerferkegel, und auch die Beine der schönen Cellistin Joan Jeanrenaud kommen optisch nicht zu kurz. Statt des Streichquartetts Nummer Drei oder Vier vom Komponisten Soundso dominiert im Repertoire eine Mixtur der Kuriositäten: Tangos von Piazzolla, Klezmermusik von Giora Feidman, Indisches, Afrikanisches, Jazz. Schon die Titel ihrer CDs klingen nach Popmusik: White Man Sleeps. Winter Was Hard. Short Stories. Black Angels. Pieces Of Africa.

Gegründet wurde das Kronos Quartet 1978 in Kalifornien. Die zeitgenössische Avantgarde Amerikas war damals erste Wahl: Terry Riley, John Cage, Philip Glass, Steve Reich oder Conlon Nancarrow mit ihrer teilweise minimalistisch, fast immer populistisch orientierten Musik sind auch heute noch die Grundpfeiler des Kronos-Programms. Andere Zeitgenossen - Górecki, Gubaidulina, Volans - ergänzten das Repertoire. Noch immer reicht es nicht weiter in die Vergangenheit zurück als bis zu Bartók, Webern, ausnahmsweise mal Liszt.

Der entscheidende Schritt in neue Bereiche von Stilistik und Präsentation erfolgte erst Mitte der achtziger Jahre. Es war der Jazz-Produzent Orrin Keepnews, der das Kronos Quartet erstmals einem größeren Publikum als stilüberschreitendes Ensemble präsentierte: Zusammen mit improvisierenden Jazzmusikern spielten die vier Geiger Transkriptionen von Stücken und Soli der Jazz-Legenden Thelonious Monk und Bill Evans. Das öffnete die Schleusen: Schnell folgten haufenweise Bearbeitungen oder Originalwerke von Rock- und Jazz-Innovatoren wie Jimi Hendrix, Ornette Coleman, John Zorn, Elliott Sharp, John Lurie, Carla Bley oder Bob Ostertag. Das Publikum reagierte verunsichert, dann amüsiert, schließlich begeistert. Der Sprung aus den Kammermusik-Zirkeln in die erfolgreiche Welt der Pop-Acts war gelungen.

Solche Umschwünge und Häutungen sind der Geschichte des Streichquartetts nicht ganz fremd. Die um 1760 entstandene Gattung war zunächst nur eine Spezialform des harmlosen Divertimentos. In Paris brachte sie jedoch rasch das "Quatuor brillant" hervor: Virtuosenstückchen für einen Solo-Geiger und drei Begleiter. Mit Haydns Opus 33 (1782) entstand dagegen das klassische Streichquartett: ein häusliches Gespräch unter Freunden, pendelnd zwischen Intimität und Volkston. Über die bürgerliche Sphäre und die Tonkünstlervereine hinaus erhielt das Genre dann - spätestens in den letzten Quartetten Beethovens - philosophisches Gewicht: Die durchbrochene Arbeit des vierstimmigen Satzes war nirgends reiner und sachlicher zu hören als im Streichquartett des 19. Jahrhunderts - für Carl Maria von Weber "das Nackende in der Tonkunst". Gegen die Orchestermassen der Spätromantik gewann das Streichquartett sogar eine kritische Funktion; Kammermusik wurde, schreibt Adorno, zum "Widerstand gegen das Expansive und Dekorative". Diese Ausnahmestellung der Gattung spiegelt sich in den Einzelwerken von Debussy, Ravel, Wolf, Sibelius, Smetana, Grieg. Bei manchem Neuerer des 20. Jahrhunderts - Schönberg, Bartók, Webern - wurde das Streichquartett schließlich zur wichtigsten, revolutionären Ausdrucksform.

Im Zeitalter der Massenmedien und Freizeitkultur wirkt Kammermusik auf den ersten Blick überholt. Mancher sah schon nach Schönbergs 4. Streichquartett (1936) das Genre für beendet an. Nun aber reagiert die Gattung Streichquartett auf den Lauf der Zeit mit einer weiteren Selbst-Revolution: Anstatt sich von der Massenkultur ins Abseits stellen zu lassen, erobert sie sie. Heute gehört das Kronos Quartet zu den absoluten Kassenknüllern - nicht nach den Begriffen der Kammermusikvereine, sondern nach denen von Rockstars. Die vier Amerikaner vergeben Kompositionsaufträge weltweit, arbeiten mit rund 40 Komponisten ständig zusammen, werden in die Entstehung der Werke einbezogen, tragen ihre eigenen Ideen dazu bei. Experimente mit Tonbändern, Schallplatten oder Samplern hätten in den 60er Jahren im hermetisch abgeschlossenen Versuchsstudio stattgefunden; das Kronos Quartet bringt sie heute vor Fernsehkameras auf die große Showbühne. Das alte Streichquartett ist tot. Es lebe das Streichquartett!

Kronos ist längst kein Einzelfall mehr. In England leitet der Rumäne Alexander Balanescu ein Streichquartett, das inzwischen selbst Techno-Fans ein Begriff ist. Der Violinist, vormals Mitglied des Avantgarde-Quartetts Arditti, hatte eines Tages von der Ästhetik des Elfenbeinturms genug und suchte die Gesellschaft von Pop- und Jazzmusikern. Er spielte schon für Kate Bush und die Pet Shop Boys, mit Carla Bley, John Lurie und Rabih Abou-Khalil. Mit seinem Quartett hat er dem Genre völlig neue Auftrittsorte eröffnet: Jazzclubs in London und New York und sogar - zusammen mit den Pet Shop Boys - das Wembley-Stadion.

Das Balanescu Quartet spielt vorzugsweise die Musik britischer Zeitgenossen wie Gavin Bryars, David Byrne und Michael Nyman, aber auch Balanescus eigene Werke. Das größte Aufsehen erregte der Rumäne jedoch durch seine Adaptionen von Stücken der deutschen Band Kraftwerk, der Urväter der Techno-Bewegung. Balanescu: "Die Kraftwerk-Nummern wurden wie Popsongs im Overdub-Verfahren eingespielt". Ob Overdubs, Samples oder Perkussion: Balanescu ist alles andere als ein Purist. Sein Ziel heißt schlicht: Neue Streichquartett-Musik, die das Publikum erreicht. "Von konservativen Klassik-Schreibern bekommen wir immer sehr seltsame Kritiken", sagt er. "Sie scheinen sich darüber zu ärgern, daß das Publikum Spaß bei unseren Konzerten hat". Doch Spaß zu bereiten, das war schon das Ziel jener Divertimenti, aus denen das Streichquartett einst hervorging. Nur daß der Spaß heute Show und Entertainment heißt und die kammermusikalische Intimität durch ein Massenpublikum ersetzt wurde.

Wohlgesonnene Kritiker beschreiben das Balanescu Quartet als "knallhart und gemein", "leidenschaftlich, aber herzlos". Da geht es nicht mehr um die feinsinnige Demonstration durchbrochener Satzarbeit, sondern - bei aller Virtuosität und Kunstliebe - auch um den zeitgeistigen Knalleffekt. Das Ensemble selbst wird zum Mittelpunkt - eine Popband, die ihre Identität nicht in der Werktreue, sondern im eigenen Stil sucht, der nicht immer den Absichten des Komponisten entspricht. Andere Streichquartette nahmen sich ein Beispiel: Das deutsche Auryn-Quartett spielt nicht nur Bialas und Penderecki, sondern macht auch mal bei der Bearbeitung von Hendrix- und Monk-Stücken mit. Ähnlich das Brodsky Quartet, das gelegentlich eine Komposition von Dave Brubeck als Zugabe bringt und eine CD lang den Popsänger Elvis Costello begleitete.

Auf besonders fruchtbaren Boden fiel die Neudefinition des Streichquartetts im Jazz. Abgesehen von wenigen Violinsolisten (z.B. Stéphane Grappelli, Joe Venuti, Jean-Luc Ponty), dem obligatorischen Zupfbaß und einigen kommerziellen, süßlichen Streicherarrangements spielten Geigen in der Jazz-Geschichte bislang kaum eine Rolle. Erst in den siebziger Jahren begannen einzelne Musiker wie Chick Corea, Keith Jarrett oder David Liebman mit kleinen Streicherensembles zu arbeiten. Daß das Streichquartett aber als eigenständige, improvisierende Jazzband agieren könnte, erkannte man erst durch das Beispiel des unbegleiteten Saxophonquartetts, das Ende der siebziger Jahre im Jazz heimisch wurde.

Das 1983 in München gegründete Modern String Quartet war die erste Formation, die sich die Sprache des Jazz konsequent auf vier Geigen übersetzte: Die Soli werden auf die Violinen verteilt, die Pizzicato-Baßlinie fällt an das Cello, und die Akkorde und Riffs sind durcharrangiert. Am liebsten orientieren sich die vier Münchner an historischen Big-Band-Partituren, deren Dramaturgie sie sich für vier Geigen zurechtstutzen. Auch Transkriptionen historischer Jazz-Soli finden Verwendung. Daß sich das Modern String Quartet nicht allein auf Charlie Parker und Duke Ellington versteht, zeigte es übrigens 1994 mit einer Einspielung von Bachs "Kunst der Fuge".

In den USA wird "Jazz für Streichquartett" am kompetentesten vom Turtle Island String Quartet geboten. Das kalifornische Ensemble des Violinisten Darol Anger stellt seit 1988 jedes Jahr eine neue CD vor - vorzugsweise mit Jazz-Klassikern des Bebop und Hardbop, Swing-Songs und eigenen Werken. Der Eklektizismus ist hier zweite Natur: Das Quartett musizierte schon mit Big Band, Jazz-Trio, Perkussion oder Hammondorgel, setzt neutönerische Instrumentaltechnik jazzig ein und bedient sich modernster Studiotricks. Der Erfolg gibt ihnen recht: Die vier Geiger adaptieren nicht einfach Jazz-Rollen, sondern haben eigenständige Klang- und Spielkonzepte erarbeitet - die obendrein auch noch swingen wie verrückt.

Das "Abenteuer Streichquartett" hat erst begonnen. Das Uptown String Quartet von Maxine Roach, der Tochter des Jazz-Schlagzeugers Max Roach, spielt sich - ähnlich dem Quartette Indigo - mit klassischem Touch durch die afro-amerikanische Musikgeschichte. Das 1985 gegründete Soldier String Quartet ist in der New Yorker Avantgarde-Jazz-Szene zu Hause und hat annähernd 100 zeitgenössische Werke uraufgeführt. Nur ihre eigene Musik spielen die vier Mitglieder des Hamburger Quartetts String Thing. Das kalifornische Greene String Quartet trieb sich dagegen zwei Platten lang quietschvergnügt zwischen E-Musik, Jazz, Rock und Country herum. Die Geigerin der Klezmer Conservatory Band, Miriam Rabson, spannt mit ihrem Really Eclectic String Quartet den stilistischen Bogen noch weiter: "Bartók meets the Sex Pistols", schrieb der Boston Globe.

Theodor W. Adorno hat einmal die Kammermusik mit einem fairen sportlichen Wettkampf verglichen. Heute findet eine Annäherung an den Sport in einem anderen Sinn statt: Das Streichquartett ist auf dem Weg zur erfolgreichen Showtruppe. Buntes Scheinwerferlicht huscht über die Bühne, das Publikum fordert Rock-Klassiker im Geigensound, das ganze Wembley-Stadion grölt: "We are the champions". Ist das die Zukunft? Was das neue, andere Streichquartett betrifft, gibt das Wort "Kammermusik" schon heute keinen Sinn mehr. Doch Virtuosität und Können vorausgesetzt, ist gegen einen Wechsel der Arena natürlich nichts einzuwenden. Die Zeiten sind schließlich postmodern geworden.

© 1996, 2004 Hans-Jürgen Schaal


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