Er war Schüler von Heino Eller und Lehrer von Erkki-Sven Tüür, ein Fackelträger der großen Musiktradition Estlands. Mit der jüngsten Geschichte seines Landes ist der Sinfoniker Lepo Sumera auf engste Weise verknüpft. Und sein viel zu früher Tod macht ihn ein wenig zum Märtyrer der Befreiung.
Lepo Sumera
Dramaturg des langen Atems
(2002)
Von Hans-Jürgen Schaal
Am 6. Mai 2000, zwei Tage vor Lepo Sumeras 50. Geburtstag, erlebte seine 6. Sinfonie in Tallinn, der Hauptstadt Estlands, ihre Uraufführung – und der Komponist war natürlich anwesend. "Jeder konnte sehen, dass er unglaublich müde war", berichtet die Musikwissenschaftlerin Merike Vaitmaa. Eine Woche vorher, bei der Premiere von Sumeras Concerto Grosso für Saxophon, Schlagzeug, Klavier und Orchester, war die Partitur der Sechsten noch nicht einmal abgeschlossen gewesen. Nun sprach Sumera bereits von Plänen für ein Ballett und ein Kammerchorstück, schon im Juli sollte sein 2. Klavierkonzert uraufgeführt werden, von dem noch keine geschriebene Note existierte. Paavo Järvi, der alle Sinfonien Sumeras dirigiert und eingespielt hat, wusste nichts von Sumeras gesundheitlichen Problemen: "Er wirkte immer sehr stark und extrem aktiv. Aber er hatte ein anstrengendes Leben, immer auf dem Sprung, und kümmerte sich zu wenig um sich selbst."
Lepo Sumera war ein geselliger Mensch. Er liebte es, sein Wissen zu teilen, konnte herzhaft lachen, war jedermanns Freund, eine schillernde Erscheinung, ein Dozent aus Leidenschaft. Seit 1976 war er Professor an der Musikakademie in Tallinn, seit 1993 Vorsitzender des estnischen Komponisten-Verbands, außerdem im Vorstand verschiedener anderer Organisationen. Kein Wunder, dass man ihn 1988 sogar zum Kulturminister berief: Sumera galt damals als eine der intelligentesten und gebildetsten Persönlichkeiten Estlands. Im Eineinhalb-Millionen-Staat, wo 1988 Hunderttausende die Revolution und die Selbstständigkeit des Landes mit Volksliedern herbeisangen, war der Komponist Sumera ein weithin populärer Mann. Er war Estlands Kurt Masur, ein "Fackelträger", eine Schlüsselfigur des Umbruchs.
Den Ministerjob im sich emanzipierenden Baltenstaat erledigte der Künstler Sumera ehrenhaft. Er hatte die Demokratie im Auge, nicht die Macht. Mit den egoistischen Niederungen der Politik wollte er nichts zu tun haben. "Er besaß zu viel Integrität für einen Politiker", meint Paavo Järvi. 1992 gab Sumera das stressige Amt ab, um wieder ganz Musiker zu sein. Die Befreiung von der Pflicht und die Öffnung des Landes beflügelten in den 90er-Jahren seine Tätigkeit als Komponist. Er erhielt Einladungen nach Schweden oder Australien, Werkaufträge aus Karlsruhe, Mainz, Malmö oder Den Haag, Auszeichnungen im In- und Ausland. Es entstanden Kompositionen für Orchester, Streichquartette, Stücke für Flöte, Saxophon oder Klavier. Allein für das Jahr 1997 wurden über zwanzig neue Werke gezählt.
In frühen Jahren zeigte sich der lebensfrohe Komponist zuweilen von seiner humorvollen Seite. Im Klavierstück "Trauriger Toreador" (1984) verirrt sich das bekannte Torero-Thema aus Bizets "Carmen" in raffiniert schlichten Sackgassen melodischer und harmonischer Fortführung. Die "Pilzkantate" für gemischten Chor, Flöte, Klavier und Schlagzeuge (1978-83) macht sogar eine Liste lateinischer Pilznamen zu Musik. Und in seinen mehr als 70 Filmmusiken nutzte Sumera die Gelegenheit, mit vitalen, satirischen Effekten zu arbeiten und Klischees der Gebrauchsmusik (Akkordeon, Saxophon) zu parodieren. In den Jahren, als sich Estland dem Westen öffnete, entwickelte Sumera auch großes Interesse an den neuen technischen Möglichkeiten von Elektronik, Multimedia, Synthesizern und Computern. Mit scheuklappenloser Neugier verwendete er eine elektrisch verstärkte Flöte ("Vorwärts und zurück", 1991), kombinierte Renaissance-Instrumente mit Effektgeräten ("Draculas und Zombies Kind", 1993), brachte ein Kammerorchester mit einem Synthesizer zusammen ("Music for Glasgow", 1989) und führte die E-Gitarre in die Sinfonie ein ("Vierte Sinfonie", 1992). Schon in den 70er-Jahren als Aufnahmeleiter beim estnischen Rundfunk hatte sich Sumera für elektro-akustische Studien erwärmt. Nun wurde er zum Computer-Fachmann und konnte wochenlang im Tonstudio mit synthetischen Sounds arbeiten. Um die Möglichkeiten der Live-Elektronik zu studieren, besuchte er sogar Pop-Konzerte.
Im Zuge der politischen Wende gründete Sumera seinen eigenen Verlag und begann, um die Rechte an seinen frühen Werken zu kämpfen. Zu Sowjetzeiten war das Urheberrecht automatisch an den Staat übergegangen, der das Verlagsrecht an ausländische Verleger lizenzierte. Mit der Auflösung der sowjetischen Verwertungsgesellschaft VAAP hielt Sumera diese unselige Rechtekette für gebrochen: So entschied auch das Landesgericht Hamburg, das dem Verlag Sikorski das Verwertungsrecht an Sumeras Werken absprach. Die zweite Instanz widerrief und enteignete damit den Künstler erneut. Erst Anfang 2002 hat der Bundesgerichtshof Sumeras Antrag entsprochen: Das Urteil, ein Stück europäischer Geschichtsbewältigung, sorgte für einiges Aufsehen. Der Komponist jedoch hat es nicht mehr erlebt. Er hatte die Hoffnung auf ein gutes Ende längst aufgegeben gehabt.
Sumeras Hauptwerke sind zweifellos die Sinfonien. Trotz seiner in schnellen Sätzen immer wieder durchschießenden Lust am Grellen und Nervösen steht Sumera unverkennbar in der Tradition der nordischen Sinfonik. Seine Werke besitzen etwas von der unergründlichen Melancholie baltischer Folklore und der dramatischen Schwere eines Sibelius, entwickeln häufig mit dramaturgischer Konsequenz und langem Atem eine große romantische Saga. Entschieden hat sich Sumera aber gegen programmatische Deutungen seiner Sinfonien gewehrt: "Die musikalische Story, die motivische Entwicklung ist für mich stets wichtiger. Jeder Hörer muss seine eigene Geschichte schaffen dürfen."
Ein besonderes Element in Sumeras Sinfonik ist ihr Hang zu minimalistischen Strukturen. Diese Tendenz verdankt sich weniger der amerikanischen Minimal Music, vielmehr – ähnlich wie bei Sumeras Landsmann Arvo Pärt – dem Einfluss des Runo-Gesangs, einer estnischen Volkstradition, die auf häufiger, riffartiger Wiederholung beruht. Eine Beschwörung des Jetzt und Jetzt und Jetzt: Interessanterweise kennt die estnische Sprache kein Futur. Besonders deutlich wird der Runo-Einfluss in den beiden ersten Sinfonien Sumeras, die 1981 bzw. 1984 entstanden. Beide gehen auf Kammerwerke Sumeras zurück und bringen die dort vorgestellten Ideen zur großräumig-orchestralen Vollendung. Ähnlich wie die Minimal Music bewegen sich diese Sinfonien weitgehend in diatonischen Klangfeldern, auch wenn sich die Zweite am Ende durch etliche Tonarten wirbelt. Extrem reduziertes Motivmaterial, ständig pulsierende Wiederholungsmuster, enorme dynamische Gegensätze und Entwicklungsbögen: Die dramatische Gewalt wäre jedem Hollywood-Weltuntergang gewachsen. Bizarrer Höhepunkt der Zweiten Sinfonie ist der kurze Binnensatz, ein hysterisches Interludium auf Alarmstufe Rot. Diese Sinfonie wurde Sumeras bekanntestes Werk, erhielt 1985 den Estnischen Musikpreis als beste Komposition des Jahres und war auch des Komponisten liebstes Kind.
Sumeras Dritte und Vierte Sinfonie (von 1988 bzw. 1992) spiegeln deutlich die politische Wendezeit wider: An die Stelle diatonischer Ostinati tritt eine mehr und mehr chromatische Dramatik, die an die Auflösung der Tonalität zu Beginn des 20. Jahrhunderts erinnert. Besonders markant sind die vitalen Ausbrüche in beiden Sinfonien, vor allem der "Feroce"-Satz in der Vierten. Seine letzten Sinfonien (1995 bzw. 2000) markieren Sumeras überraschenden Reifestil, geprägt von ständigen Ideen- und Beleuchtungswechseln, Mikropolyphonie und Aleatorik. In seinen Vierzigern bevorzugte Sumera modale Skalen, in denen Archaik und Modernität gleichermaßen mitklingen.
Getrieben vom Schaffensdrang achtete Sumera seine Gesundheit wenig. 1998 überredete ihn ein Freund zum Besuch einer Klinik, wo man Herzprobleme feststellte und eine Kur verordnete. Die Herzklinik inspirierte ihn umgehend zu einem Multimedia-Werk namens "Herzensangelegenheiten", bei dem Herzklänge und –rhythmen eine große Rolle spielen. Den täglichen Stress jedoch konnte oder wollte Sumera nicht reduzieren. Am 2. Juni 2000 bereitete er sich gerade auf eine neue Aufführung der "Herzensangelegenheiten" vor, als sein physisches Herz stehen blieb. Die Sechste Sinfonie wurde sein Vermächtnis – und in Estland begannen die Legenden zu blühen. Selbst Paavo Järvi schrieb mir: "Seine letzte Sinfonie wurde an seinem Geburtstag aufgeführt [richtig: zwei Tage vorher], er starb am nächsten Tag [richtig: etwa vier Wochen später]. Das besaß viel Symbolik. Die Sechste klingt sehr tragisch, als hätte er gewusst, dass sie seine letzte ist."
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Der Autor dankt Merike Vaitmaa, Boris Björn Bagger, Paavo Järvi und Wolfgang Krüger.
© 2002, 2004 Hans-Jürgen Schaal
© 2002 Hans-Jürgen Schaal |