Auf den ersten Blick waren GENTLE GIANT ein ganz normales Rock-Quintett: mit Sänger, Gitarre, Keyboards, Baß und Schlagzeug. Doch meist schon nach wenigen Takten mischen sich Geigen, Flöten und Saxophone ins Geschehen und reißen Fenster auf in den Jazz, in Madrigale und Kammermusik. Von wegen ganz normal: Den straighten Rocksong im 4/4-Takt suchte man bei dieser Band lange Zeit vergebens.
Uneasy Listening
Meine Platte: GENTLE GIANT
(1995)
Von Hans-Jürgen Schaal
"Es ist unser Ziel, die Grenzen der zeitgenössischen Popmusik zu erweitern - auch auf die Gefahr hin, damit sehr unpopulär zu sein." Das schrieben GENTLE GIANT zu ihrer Platte "Acquiring The Taste", und mit diesem Titel hatten sie recht: Der Publikumsgeschmack mußte sich für ihre Musik erst erwärmen. Im britischen Heimatland tat er das kaum, dort blieben GENTLE GIANT eine "No-Profile"-Band, "eines der bestgehüteten Geheimnisse des progressiven Rock". Ihre größten Erfolge hatten sie hingegen in Deutschland, Italien und der Schweiz - und ab der dritten Platte auch in den USA. Das fünfte Album "In A Glass House" war dort ein Import-Topseller (150.000 Platten), "The Power And The Glory" kam sogar in die Top Fifty der US-Charts. Heute sind alle zwölf offiziellen Alben (und ein paar andere) auf CD erhältlich.
Schon die Debütplatte "Gentle Giant" (1970) verblüfft mit ungewohnten stilistischen Wechselbädern. Free-Jazz-Klavier und elektronisch verzerrtes Schlagzeugsolo, psychedelische Männerchöre und ein nostalgischer Walzer mit Streicherklängen und Jazzbesen drängen sich zwischen die harten Rock-Parts. Noch experimenteller wurde es auf "Acquiring The Taste": Da jagen sich die kapriziösen bis schrägen Kammermusik-Episoden, Pauke mit Xylophon, Blockflöten mit Cembalo, alles in mysteriösen Molltönen, und bevor es zu mittelalterlich wird, fetzen dann wieder die Rockriffs daher. Auch auf "Three Friends" und "Octopus" halten plötzliche Exkurse Richtung Kanon und Mittelalter die Spannung aufrecht. Besonders angetan hat es mir das Stück "Knots": Fugenartige Gesänge wechseln hier mit verzinkten Partituren für Perkussionsinstrumente und Saxophon.
Meine erste Begegnung mit der Musik des "sanften Riesen" fand vor 20 Jahren statt - an einem langweiligen, verregneten Sommerurlaubssonntagmorgen in den Bergen. Zum Glück war das Fernsehen schon erfunden, und zum Glück gab es eine fossile Sendung wie das Sonntagskonzert im öffentlich-rechtlichen Programm. GENTLE GIANT dürfte so ziemlich die einzige Rockband gewesen sein, die in diese Programmnische rutschte - mit einem Studiokonzert vor laufenden Kameras. Fünf Musiker wirbelten eine Stunde lang von Instrument zu Instrument. Da gab es akustische Gitarrenduette, Blockflöten-Trios, Streichersätze, Perkussions- und Vokalquintette. Jeder der fünf war eine multiple musikalische Persönlichkeit, eine Band innerhalb der Band. Übergangslos wurde aus dem hart rockenden Quintett GENTLE GIANT ein gedämpftes Kammerensemble, aus dem A-Cappella-Chor ein mittelalterlicher Spielmannszug.
Mitte der 70er Jahre hatten GENTLE GIANT ihre aktivste und erfolgreichste Zeit: Ihr Stil war gefestigt, aber kleine Überraschungen gab es immer noch. Auf "In A Glass House" fasziniert eine unscheinbare Ballade, die nur von Xylophon, Vibraphon und Pauken begleitet ist. Das politisch motivierte Konzeptalbum "The Power And The Glory" wechselt zwischen aggressiven (rockigen) und satirischen (schrägen) Tönen. Auf "Free Hand" wird eine Fuge vokal und in verschiedenen Instrumentierungen durchgespielt ("On Reflection"), im Stück "Talybont" stimmen E-Gitarre und Synthesizer eine Troubadoursmusik an. Die Platte "Interview" kam erstmals ohne Geigen und Flöten aus, ließ mit "Give It Back" eine Reggae-Parodie anklingen und hatte in "Design" einen würdigen Nachfolger der "Knots".
Noch faszinierender als das Arsenal der Instrumente und Stilmittel war die strukturelle Dichte des Geschehens: Diese fünf Rocker hatten offenbar größten Spaß an Kontrapunkt und Polyphonie, gegenläufigen und mehrschichtigen Partituren, ungeraden Metren und ständigen Taktwechseln. Meist hörten die Stücke zwar so ähnlich auf, wie sie angefangen hatten, aber dazwischen war man vor keiner Form kapriziösen Klangabenteuers sicher. Ostinatofiguren setzten sich manchmal puzzleartig aus Beiträgen dreier Instrumente zusammen, Phrasen schienen auf der Stelle zu treten, in Dissonanz abzukippen, Stile schienen gegeneinander zu kämpfen, Rhythmen wurden gegen den Strich gebürstet. Auch die Gesangsstimme war nur eine Motiv-Linie neben vielen. Und dabei selten die eingängigste: Die GENTLE-GIANT-Melodien verlangten Stimmakrobatik - erst recht die vier- und fünfstimmigen Chorsätze, die Kanon- und Fugengesänge, die kleinen Rock-Operetten.
Wie mitreißend diese komplexe Musik im Konzert rüberkam, beweist das 1976 aufgenommene Live-Album "Playing The Fool". Stücke aus allen acht vorigen Platten sind darauf in neuen Arrangements zu hören, umgebaut und erweitert: Aus dem Album "Octopus" entsteht ein 15minütiger Medley mit Gitarren-Duo und Blockflöten-Quartett, in "So Sincere" spielen alle fünf Musiker Perkussion, und sogar eine kleine Jazznummer ist dabei.
Das Live-Album war zugleich der Wendepunkt in der Geschichte der Band. New Wave und Punk kamen damals in Mode, die Umsätze des Art Rock stagnierten, viele Formationen lösten sich auf oder schafften den Sprung in den kommerziellen Pop - wie die GIANT-Konkurrenz Genesis. Die fünf Riesen versuchten dasselbe, wurden ihrem strengen Anti-Kommerzialismus untreu - und fielen auf die Nase: Sie eroberten kein neues Publikum, sondern vergraulten ihre angestammten Fans. 1980 kam das Ende für GENTLE GIANT, doch ihre Legende ist lebendiger denn je. Erst vor kurzem veröffentlichte die BBC einen hervorragenden Rundfunkmitschnitt aus dem Jahr 1978: "In Concert".
© 1995, 2002 Hans-Jürgen Schaal
© 1995 Hans-Jürgen Schaal |