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Fragt man nach verkannten, unterschätzten, unentdeckten Jazzmusikern, fällt der Name Herbie Nichols unter den ersten. Die Kenner sind sich einig: Hier ist einer, der war als Pianist bedeutend wie Bud Powell und Thelonious Monk, als Komponist vielleicht sogar Duke Ellington und Charles Mingus ebenbürtig. Doch vierzig Jahre nach seinem Tod am 12. April 1963 ist Herbie Nichols’ Musik noch immer ein Geheimtipp.

Herbie Nichols
Der Unerhörte
(2003)

Herbie Nichols und die Anerkennung: eine Liste vertaner Chancen. 1956 wurde Billie Holiday auf ihn aufmerksam und betextete seine Melodie „Serenade“ als „Lady Sings The Blues“. Es wurde Nichols’ bekanntestes Stück, aber bis heute weiß kaum einer, wer es komponiert hat. Der Erste, der Nichols ernsthaft interviewte, war A.B. Spellman, der Free-Jazz-Kritiker. Doch seinen Aufsatz, der Nichols hätte bekannt machen können, brachte Spellman zu Lebzeiten des Musikers nirgends unter. 1966 veröffentlichte er ihn schließlich in seinem Buch „Four Lives in the Bebop Business“ – zusammen mit Texten über Cecil Taylor, Ornette Coleman und Jackie McLean. Trotz dieser illustren Gesellschaft blieb Nichols ein Unbekannter. 1976, 13 Jahre nach seinem Tod, wurden seine wichtigsten Aufnahmen als Doppel-Album neu aufgelegt und von der Kritik als „Wiederveröffentlichung des Jahres“ gefeiert. Herbie Nichols’ Ruhm hat auch das nicht befördert. In den Achtzigern entdeckte man in den Blue-Note-Archiven acht unveröffentlichte Tunes und 18 unveröffentlichte Alternate Takes. Für die Blue-Note-Leute eine Sensation, für den Rest der Welt Makulatur.

An die 200 Stücke hat Nichols komponiert, rund 40 konnte er aufnehmen, viele sind verschollen. Alle paar Jahre wird seine Musik von einer neuen Generation entdeckt, aber ebenso schnell versinkt sie wieder unter den Lawinen neuer Produktionen. Warum hat er sich zu Lebzeiten nicht durchgesetzt? Keiner weiß es. War der große, schlanke, immer perfekt gekleidete Mann einfach zu gut erzogen, zu sanft, zu schüchtern, um sich zu behaupten? War er etwa homosexuell und wurde deshalb von Kollegen diskriminiert und weggedrückt? „Nichols wird ein Mysterium bleiben“, schrieb der Kritiker Francis Davis resigniert. Das war vor 15 Jahren – zum 25. Todestag des Pianisten.

Geboren wurde Herbie Nichols 1919 in San Juan Hill, Midtown Manhattan, damals noch ein typisches Schwarzen-Ghetto. Die Eltern jedoch, aus der Karibik eingewandert, gehörten eher in die Kategorie Bildungsbürger. Im Alter von 7 bis 14 lernte Herbie daher klassisches Klavier, Jazz war – wie er selbst schrieb – „strictly verboten“. Er spielte sein Leben lang klassische Musik – von Scarlatti bis Bartók –, er schrieb auch Gedichte, Songtexte und Artikel, hinterließ eigene Gemälde, begeisterte sich für Literatur und Schach. Erst als er kapierte, dass seine Hautfarbe eine klassische Pianistenkarriere nicht erlaubte, stürzte er sich in den Jazz. Den freilich definierte er großzügig: „Jazz ist jede Art von Musik, die mit swingendem Beat und Improvisation verbunden ist.“ Tatsächlich träumte Nichols von einem Jazz, der fähig wäre, die zeitgenössische Konzertmusik zu adaptieren – „die Klänge von Hindemiths multiplem Kontrapunkt, die neoklassische Polytonalität eines Schostakowitsch“. Das nannte er: „ragging the classics“. Er sah sich selbst als eine Art zweiten Prokofieff. Und eben das machte seinen Jazz so anders.

Anspruch und Anerkennung klafften bei Nichols erschütternd weit auseinander. Schon 1938 mischte er zwar bei jenen Jam Sessions in Monroe’s Uptown House mit, aus denen sich der Bebop formen sollte. Doch er war keiner, der sich produzierte, und geriet schnell wieder in den Hintergrund. Dabei war Nichols der Erste, der Thelonious Monks Musik in einem Artikel würdigte – noch bevor Monk seine erste Platte gemacht hatte. Während des Kriegs war Nichols 18 Monate im Pazifik stationiert, spielte ein bisschen Drums und betextete seine ersten Kompositionen. 1946 soll er seine ersten Aufnahmen gemacht haben – als Begleiter von Danny Barker, einem New-Orleans-Gitarristen. Dann folgten weitere mit Bobby Mitchell, einem Swing-Trompeter, Snub Mosley, dem Slide-Saxophonisten, und einigen noch weniger bekannten Musikern. Nichols spielte in Dixieland- und Rhythm-and-Blues-Bands, auf Kreuzfahrschiffen und entlegenen Air-Force-Basen, begleitete Stripperinnen und lesbische Varietés. Sein Talent bescherte ihm billige Jobs, aber schwerlich Zufriedenheit und Respekt.

Volle zehn Jahre lang hat der würdevolle Herbie Nichols beim Blue-Note-Produzenten Alfred Lion höflich wegen eines Plattenvertrags angefragt. Lion war bekannt als Klavier-Aficionado. Ein Konzert der Boogie-Größen Albert Ammons und Meade Lux Lewis hatte ihn einst zur Gründung von Blue Note bewogen, und sein Herz schlug weiterhin für originelle Pianisten: Bud Powell, Sonny Clark, Horace Silver, Herbie Hancock. Schließlich gab er nach, setzte sich mit Nichols in ein leeres Studio, hörte sich seine Stücke an – und war überwältigt. Zwischen dem 6. Mai 1955 und dem 19. April 1956 schickte er Nichols fünfmal ins Aufnahmestudio und gab ihm die besten Rhythmusbegleiter mit. Nicht weniger als Nichols’ Gesamtwerk wollte Lion dokumentieren. Doch nach 29 Stücken war Schluss – und selbst die hat Lion nicht alle veröffentlicht. Zu niederschmetternd waren die Verkaufszahlen der Trio-Platten. Bis an sein Lebensende aber beteuerte Lion, drei Pianisten hätten ihn am meisten beeindruckt: Thelonious Monk, Andrew Hill – und Herbie Nichols.

Nichols’ ungewohnte Definition von Jazz vertrug sich nicht mit dem populären Geschmack der 50er-Jahre. Der Pianist schrieb und spielte mit dem Anspruch des Klassikers: nicht einfach nur Head-Soli-Head, sondern kleine, geschlossene Kunstwerke, Charakterstücke, Vignetten, eine Art Programmmusik – humoristisch, dramatisch, poetisch. Nichols wollte darin die Vergangenheit und die Zukunft des Jazz beleuchten, Jelly Roll Morton neben Prokofieff und Chopin, und die AABA-Form in ein organisches Ganzes auflösen. Gershwins Song „Mine“ war ein Vorbild: Jeder A-Teil entwickelt sich da etwas anders und die Bridge ist nur eine weitere Ableitung davon. Auch Nichols’ Stücke variieren die herkömmliche Standard-Form, die Choruslänge wächst zuweilen auf 50, 56 oder 67 Takte, es werden „Tags“ angehängt und Intros vorangestellt (meist mit Drum-Break), die Bauteile werden vertauscht und fließen ineinander über. Nichols’ späte Stücke sind nahezu durchkomponiert und gar nicht mehr nach Chorussen zu trennen.

Der Posaunist Roswell Rudd, der ab 1960 Nichols’ Schüler war, nennt dessen Kompositionen „Psychodramen“. In ihnen evozierte der Pianist klingende Emotionen, setzte Harmonien atmosphärisch ein, „orchestrierte“ den Einsatz von Klavier und Schlagzeug, streute mit sanfter Eleganz Dissonanzen und beschwor die „dritte Welt in uns selber“, eine Welt der verdrängten Ängste und fantastischen Hoffnungen. Das Vokabular seiner Melodien baut auf kleine Intervalle, auf „floating keys“ – Tonarten, die vorübertreiben. Wenn Nichols begleitete, veränderten sich die Stimmung der Musik und die Spielweise aller Beteiligten. Doch mancher, der mit ihm spielte, verstand erst Jahre später, was in dieser Musik eigentlich vorging. Und Bläser wurden von den komplexen Harmoniefolgen gewöhnlich abgeschreckt. Dabei waren es gerade Bläser, die sich Nichols für seine Stücke wünschte und die sie vielleicht gebraucht hätten, um gehört zu werden. In seinen letzten Jahren trat er gelegentlich mit Roswell Rudd, Archie Shepp und Tina Brooks auf: Da ergaben seine seltsamen harmonischen Abläufe plötzlich einen ganz neuen Sinn.

„Ein Dixieland-Beat, eine diatonische Melodie zum Mitsummen und Harmonien wie von Bartók, alles ineinander verwoben“: So beschreiben der Pianist Frank Kimbrough und der Bassist Ben Allison die Musik von Herbie Nichols. Die beiden gründeten 1992 in New York das Jazz Composers Collective und betreiben seitdem eine Working Band namens The Herbie Nichols Project. Mit zwei bis vier Bläserstimmen präsentieren sie immer wieder neue, unbekannte Nichols-Kompositionen und bringen einen der wunderbarsten Schätze des amerikanischen Jazz zum Klingen. Wäre die Welt gerecht, dann wären Stücke wie „Step Tempest“, „2300 Skiddoo“, „House Party Starting“ oder „Amoeba’s Dance“ längst innig vertraute Jazz-Standards. Nein, die Welt ist nicht gerecht. Herbie Nichols starb mit 43 Jahren. Manchmal ist Leukämie nur ein anderes Wort für tödliche Enttäuschung.

Diskographische Empfehlungen:

Herbie Nichols

The Complete Blue Note Recordings (3-CD-Box) (Blue Note/EMI)
The Prophetic Herbie Nichols (Blue Note/Import)
Herbie Nichols Trio (Blue Note/Import)
The Bethlehem Session (Affinity/vergriffen)

Herbie Nichols’ Kompositionen

Misha Mengelberg: The ICP Orchestra Performs Nichols + Monk (ICP)
Misha Mengelberg/Steve Lacy/Roswell Rudd: Regeneration (Soul Note)
Misha Mengelberg/Steve Lacy/George Lewis: Change Of Season (Soul Note)
Buell Neidlinger: Blue Chopsticks (K2B2)
Roswell Rudd: The Unheard Herbie Nichols, Vol. 1 (CIMP)
Roswell Rudd: The Unheard Herbie Nichols, Vol. 2 (CIMP)
Duck Baker: Spinning Song (Avant)
The Herbie Nichols Project: Love Is Proximity (Soul Note)
The Herbie Nichols Project: Dr. Cyclops’ Dream (Soul Note)
The Herbie Nichols Project: Strange City (Palmetto)

© 2003, 2007 Hans-Jürgen Schaal


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