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Weil er als Schönberg-Jünger nicht auf Gegenliebe stieß, steckte er seine ganze Energie in die Theorie. Adorno, der namhafteste Vertreter der Frankfurter Schule, betrieb Kompositionskritik und Musiksoziologie und suchte noch im kleinsten musikalischen Detail die Spuren der Gesellschaft. An seinem Werk kommt kein Musiktheoretiker mehr vorbei.

Eine Würdigung von Hans-Jürgen Schaal.

Musik als Form der Erkenntnis
Zum 100. Geburtstag des Musikphilosophen Theodor W. Adorno (1903-1969)
(2003)

"Alles Schönbergische ist heilig"

In Frankfurt am Main wurde er geboren, einziger Sohn des jüdischen Weingroßhändlers Oscar Alexander Wiesengrund und der ehemaligen kaiserlichen Hofopernsängerin Maria Calvelli-Adorno delle Piane. Von Mutter und Tante wohl behütet, entging der kleine Theodor den sportlich-anglophilen Ambitionen des Vaters und wuchs in einer Kunstwelt der Musik und Bücher auf. Das Klavierspiel mit der Mutter blieb für ihn Inbegriff von Kindheit und Glück. Zeitlebens verabscheute er alles Triviale, Laute, Vorurteilsbehaftete. Die Abneigung gegen unreflektierte Begriffe, vorgefertigte Denkweisen, Mitmach-Parolen und praktische Lösungen ging als zentrales Moment sogar in seine Philosophie ein. Sprachliche Konventionen empfand er als Gewalt. Dagegen setzte er die „Anstrengung des Begriffs“, die nötig sei, um einer Sache wirklich gerecht zu werden. Über den Phänomenologen Husserl, der gefordert hatte: „Zu den Sachen selbst!“, schrieb er seine Dissertation. Das war 1924.

Im gleichen Jahr wurde Adorno in einem Artikel über die Musikstadt Frankfurt bereits als aufstrebender Komponist erwähnt – neben Paul Hindemith und Bernhard Sekles, dem Leiter des Hoch’schen Konservatoriums und Adornos Kompositionslehrer. Adornos Schlüsselerlebnis als Hörer fiel in dieselbe Zeit: Es war der „Wozzeck“. Alban Berg hatte seine Oper im April 1922 fertig instrumentiert, im Juni 1924 wurden daraus die „Drei Bruchstücke für Gesang und Orchester“ in Frankfurt am Main uraufgeführt. Im Publikum saß der 20-jährige Wiesengrund-Adorno, damals schon Konzertkritiker für die „Neuen Blätter für Kunst und Literatur“ und die „Zeitschrift für Musik“. Durch den Dirigenten des Konzerts, Hermann Scherchen, ließ er sich dem anwesenden Komponisten vorstellen. Anfang 1925 schrieb Dr. phil. Adorno dann einen Brief nach Wien, berichtete von seinen kompositorischen Studien (zuletzt fünf- und achtstimmiger Vokalsatz und Vokaldoppelfugen) und ersten Werken (darunter die Sechs Studien für Streichquartett sowie drei vierstimmige Frauenchöre) und erkundigte sich, ob Bergs Zusage noch galt, ihn als Studenten anzunehmen. Der Komponist bestätigte.

Der junge Adorno träumte davon, ein Teil der Schönberg-Schule zu werden, jenes radikalen Kreises, der seit etwa 1908 mit Werken in freier Tonalität für Aufsehen und Skandale gesorgt hatte – Werken wie Schönbergs „Erwartung“, Weberns „Bagatellen“, Bergs Erstem Streichquartett. Nur was den neuesten Entwicklungen der Musiksprache gerecht wurde – dem „historischen Stand des Materials“ –, fand Adornos Anerkennung; Strawinsky und Hindemith fielen durch. Anfang 1925 schrieb Adorno in jugendlichem Ungestüm: „Alles Schönbergische ist heilig, sonst gilt vom Heutigen nur Mahler, wer dagegen ist, wird zerschmettert“. Doch als er in Wien eintraf, war die Schönberg-Schule nur noch ein lockerer Kreis und befasste sich gerade mit des Meisters neuester Entwicklung, der Zwölfton- oder Reihentechnik, einer Organisationsform der Atonalität. Gerade mal zwei Jahre vorher hatte Schönberg diese „Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ erstmals in der Praxis vorgeführt. Er und seine Schüler steckten in der Experimentierphase, suchten ihren jeweiligen Zugang – Schönberg als genialischer Expressionist, Berg als spätromantischer Zauberer, Webern als neusachlicher Reduktionist.

Adornos erste Arbeit unter Berg wurden die Zwei Stücke für Streichquartett op. 2, ein Werk von rund 12 Minuten, dessen Hauptprinzip die totale Variation ist: Alles entwickelt sich aus Vorigem, folgt dem „Triebleben der Klänge“, gehorcht einem musikalischen „Schicksal“, nichts wird exakt wiederholt. Adorno greift hier zwar auf die „Pantonalität“ der Zwölftonreihe zurück, ergänzt sie aber frei mit komplementären Harmonien. Das Werk erinnert ein wenig an Weberns Quartettsätze op. 5, aber auch an Schönbergs Viertes Streichquartett, das erst zehn Jahre später geschrieben wurde. Nach der Uraufführung durch das Kolisch-Quartett im Dezember 1926 war Berg voll des Lobes für den viel versprechenden Schüler Adorno, nannte sein Quartett allerdings „rasend schwer“. An Schönberg schrieb Berg: „Ich finde die Arbeit Wiesengrunds sehr gut und ich glaube, dass sie auch deine Zufriedenheit finden wird, wenn du sie einmal kennen lernen wolltest. Jedenfalls ist es (das Quartett) in seinem Ernst, seiner Knappheit, und vor allem der unbedingten Reinlichkeit seiner ganzen Faktur würdig, als zur Schule Schönbergs (und nirgends anders hin!) gehörig bezeichnet zu werden.“

Doch das Verhältnis zwischen Schönberg und Adorno war das entscheidende Problem. So sehr Adorno den Älteren bewunderte: Die beiden wurden einfach nicht warm miteinander. Adorno erlebte Schönberg als einen Besessenen, von Verfolgungswahn Geplagten, gehetzt, unheimlich, unberechenbar, keiner Diskussion zugänglich. Schönberg umgekehrt empfand den ungebetenen Jünger als aufdringlich und besserwisserisch und mokierte sich über seine affektierte Verehrung, sein „öliges Pathos“ und seinen verschlingenden Blick. Dazu kam, dass Adorno Schönbergs Zwölftontechnik von Anfang an skeptisch gegenüber stand, sie als Beseitigung einer eben erst gewonnenen Freiheit begriff und damit als Teil der gesellschaftlichen „Stabilisierung“ der 20er-Jahre. Auch dass er Alban Berg zum Lehrer gewählt hatte, auf dessen Erfolge Schönberg eifersüchtig war, trug zur Disharmonie bei.

Schönberg sah in Adorno, der in Wahrheit sein eloquentester und heißester Verfechter war, den Judas und Verräter. Als Adorno Chefredakteur der Wiener Musikzeitschrift „Anbruch“ wurde und sie zum aggressiven Propaganda-Pamphlet für die Schönberg-Schule erhob, betrieb ausgerechnet Schönberg seine Absetzung. Nicht als Radikaler wollte er gelobt werden, sondern als Vollender der Tradition die bürgerliche Anerkennung genießen. Adornos umfassendste Würdigung des Komponisten in der 1949 erschienenen „Philosophie der neuen Musik“ quittierte Schönberg mit den Worten: „Ich habe den Menschen nie leiden können. Und jetzt weiß ich (...), dass ihm meine Musik offenbar niemals gefallen hat.“ Adornos dialektisches Urteil über die Zwölftontechnik („Sie fesselt die Musik, indem sie sie befreit“) und sein sprachlich-philosophisches Ringen um Differenzierung empfand der arme Schönberg tatsächlich als bösartige Attacke. Der Gipfelpunkt dieser tragischen Beziehung war dann Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“, durch den sich Schönberg seines geistigen Eigentums auf verbrecherische Weise beraubt fühlte. In einem öffentlichen Brief bezeichnete er Adorno als Thomas Manns „Informanten“.

Adorno blieb ein Außenseiter in Wien. Schon die Leitung des „Anbruch“ betrieb er weitgehend von Frankfurt aus. Als er diese Stelle 1929 verlor, zog er sich recht abrupt ganz in die Heimatstadt zurück und wandte sich wieder seiner anderen Karriere zu: der des akademischen Philosophen. Bis 1932 hatte er schon rund 100 Texte zur Musik veröffentlicht, aber noch keinen einzigen zur Philosophie. Eine erste Habilitationsschrift hatte er 1927 eingereicht, aber dann selbstkritisch wieder zurückgezogen. Mit der zweiten – über den Philosophen Kierkegaard – meisterte er den Übergang vom Kritiker zum Denker eigenen Stils. Mit 27 Jahren, jünger als so mancher Student im Oberseminar, erhielt er 1931 die Venia Legendi an der Universität Frankfurt. Zwei Jahre später wurde sie ihm wieder entzogen – durch die Nationalsozialisten. Adorno wollte „überwintern“, den Nazi-Spuk aussitzen, aber außer ein paar Musikaufsätzen in der Vossischen Zeitung bot sich ihm wenig. Daher schrieb er sich in Oxford ein, strebte dort eine zweite Habilitation an, pendelte zwischen Deutschland und England und lebte wieder auf Kosten der Eltern. Erst 1938 entschloss er sich zur Emigration – nach New York. Dort hatte ihm das bereits emigrierte Institut für Sozialforschung eine Stelle vermittelt.

Dieses Institut war 1924 in Frankfurt gegründet worden, hervorgegangen aus dem marxistischen Arbeitskreis einiger fortgeschrittener Studenten, und verstand sich als Organ zeitgemäßer Kapitalismus-Kritik. Mit dem Leiter des Instituts, Max Horkheimer, hatte sich Adorno schon zuvor angefreundet, doch zum Institut wahrte er bis 1938 Distanz: Sicherlich war ihm das „Mitmachen“ unangenehm, auch die Nähe zum organisierten KP-Marxismus und der modische Zionismus einiger Mitglieder. Als das Institut ab 1932 eine eigene Zeitschrift herausgab, war Adorno allerdings als Autor mit dabei – zunächst mit musiksoziologischen Themen. Nach Einstellung der „Zeitschrift für Sozialforschung“ (1941) intensivierte sich Adornos Zusammenarbeit mit Horkheimer noch und gipfelte 1947 in Kalifornien in dem gemeinsam verfassten Buch „Dialektik der Aufklärung“, dem Hauptwerk der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Darin entwickeln die Autoren die These, Aufklärung – gemeint ist: Naturbeherrschung, instrumentelle Anwendung von Vernunft – schlage leicht in neue Zwänge um, in Herrschaft und System und Irrationalität. Aktuelle Beispiele dafür sahen Horkheimer/Adorno im Übergang des Sozialismus in den Stalinismus, des Kapitalismus in den Faschismus oder auch in die amerikanische Kulturindustrie. Für Adorno war selbst Schönbergs ordnendes Zwölfton-System ein Hinweis auf die Dialektik der Aufklärung.

Adorno spürte in der Musik und der Philosophie im Grunde demselben nach: der gesellschaftlichen Dimension aller Erscheinungen. Musik war für ihn eine Form der Erkenntnis – davon zeugen auch seine Orchester-Bearbeitungen von Klavierstücken Schumanns. Und Philosophie betrieb er wie Komposition – sensibel, osmotisch, amöbenhaft beweglich, dem Eigenleben der Gedanken folgend. Seine Texte, auf den ersten Blick hermetisch, abschreckend, unnahbar, sind im Grunde gebaut wie sein Streichquartett: Jeder Satz ist dem Zentrum gleich nahe – eine ständige Folge von Variationen. Man kann Adorno nicht auf Kernsätze reduzieren, nicht verdünnen, aber auch nicht widerlegen. In seinen nie systematischen, sondern essayartigen, sprunghaften Aufsätzen und in seinen improvisierten Vorlesungen führte er lebendiges Denken vor – ein begrifflich exaktes Insistieren auf Differenzierungen, eine Sensibilität für das Besondere, die er schon als junger Musikkritiker bewiesen hatte. Adornos Sprache ist Kunstwerk: Sie kann mitreißen, inspirieren und anstecken, aber sie liefert weder Essenz noch praktische Anweisung. Als Fahnenträger der Studentenbewegung von 1968 eignete sich Adorno nicht.

Im miefig-kleinbürgerlichen Klima der jungen Bundesrepublik war Adornos Radikalität allerdings eine blendende moralische Instanz. Der nach Frankfurt zurückgekehrte Soziologe wurde Ordinarius an der Universität, Leiter des Instituts für Sozialforschung und ein höchst einflussreicher Musiktheoretiker. Seine Sprache prägte eine Generation von Kritikern, Carl Dahlhaus und Joachim Kaiser eingeschlossen. „Versprengtes aus Adornos Denken ist im heutigen Schreiben und Reden über Musik nahezu allgegenwärtig“, befand Hans-Klaus Jungheinrich noch 1983. „Das Auseinanderfitzeln von Adorno und Schwachsinn in neuer Musikpublizistik wäre eine notwendige Forschungsaufgabe.“

Dass sich die jungen Komponisten nach dem Krieg – Stockhausen, Nono, Henze, Ligeti, Berio, Boulez, Messiaen – zunächst auf Webern und die Reihentechnik stürzten, war vor allem das Verdienst Adornos und der Darmstädter Ferienkurse. Bis in die achtziger Jahre hinein definierte Adornos Einfluss, wie zeitgenössische Musik zu sein hatte: atonal, eine Geheimwissenschaft, ein Publikumsschreck – klingende Hirnakrobatik. Adorno war die große Vaterfigur der Serialisten. Nach seinem Tod 1969 setzte dann aber auch der große Vatermord ein. Man kritisierte vor allem „Adornos Aporien“: dass er seine Einsichten zuweilen in die Details projizierte, während er behauptete, sie aus den Details zu gewinnen; dass er Stilmittel je nach Komponist mit verschiedenem Maß maß; dass er Marxsche und Freudsche Kategorien leichtfertig auf die Musik anwandte. Doch als sich die Aufregung gelegt hatte, meldeten sich Wagner- und Strawinsky-Verehrer zu Wort und bekannten, niemand habe erhellender über ihre Idole geschrieben als ausgerechnet deren schärfster Kritiker. Noch immer gilt Clytus Gottwalds 30 Jahre alter Satz: „Die gegenwärtige Adorno-Kritik zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie an ihren Gegenstand nicht heranreicht.“

Adornos Bücher zur Musik:

Philosophie der neuen Musik (1949)
Versuch über Wagner (1952)
Dissonanzen (1956)
Klangfiguren (1959)
Mahler (1960)
Einleitung in die Musiksoziologie (1962)
Der getreue Korrepetitor (1963)
Quasi una fantasia (1963)
Moments musicaux (1964)
Impromptus (1968)
Berg (1968)

CD-Empfehlungen:

Theodor W. Adorno – Kompositionen (Wergo)
Fünf Werke von 1925 bis 1945, aufg. 1988
Buchberger-Quartett Frankfurt
Frankfurter Opernhaus- und Museumsorchester, Ltg. Gary Bertini
Kammerchor Frankfurt u.a.

Theodor W. Adorno / Hanns Eisler – Works for String Quartet (cpo)
Drei Werke von 1920 bis 1926, aufg. 1995 (+ 2 Werke von Eisler)
Leipziger Streichquartett

© 2003, 2007 Hans-Jürgen Schaal


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