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Der Einbruch des Jazz nach Deutschland hatte Schock-Qualität. Gerade eben kämpfte man noch für Kaiser und Vaterland, nun explodierte das schamlose, exotische Tanzvergnügen als Massensport. Deutschland und der Jazz: Eine Begegnung der grotesken Art.

Fuchstänze und Negerpfeifen
Vor 80 Jahren war Deutschland Jazzland
(2004)


Von Hans-Jürgen Schaal

1916 taucht das Wort „Jazz“ erstmals im US-Magazin „Variety“ auf, 1917 entstehen die frühesten bekannten Jazz-Aufnahmen durch die Original Dixieland Jazz Band in New York. Die ersten Deutschen, die die seltsame, neue Musik hören, sind Weltkriegssoldaten in britischen und amerikanischen Gefangenenlagern. Die Besatzer veranstalten auch Tanzabende und bezahlen jeder deutschen Frau pro Tanz 1 Mark. Schon in der Wintersaison 1918/19 erobert der Foxtrot die Berliner Tanzdielen: Man preist ihn als gesunde Nahrung für die vom Krieg ausgehungerten Beinmuskeln. In der Tanzwut kommt einiges zusammen: Kriegsende, Republik, halbe Revolution, Öffnung zur Welt, Wirtschaftsnot. Neben dem Bubikopf und den kurzen Kleidern der Frauen ist der Jazz das sichtbarste, hörbarste Zeichen des moralischen Umbruchs. Unsentimental und lebensfroh fegt er den ganzen Mief des Kaiserreichs, die steife Walzerkultur, die überholten Anstandsbegriffe und die Deutschtümelei von der Bühne.

Im Streit um den Jazz formieren sich schnell die ideologischen Gegensätze der Weimarer Republik: Für die einen ist die dirigentenlose Jazzband ein Modell der Demokratie, für die anderen der Triumph von Kommunismus, Amerikanismus und Barbarei. Die Polemik gegen den Jazz trägt von Anfang an rassistische und nationalistische Züge, richtet sich gegen Amerikaner („Maschinenmusik“), Engländer („musiktaubes Volk“) und besonders gegen die Schwarzen, von denen es einige auch unter den Besatzungssoldaten gibt. Für die Reaktionäre signalisiert Jazz die Vollendung der deutschen Niederlage: eine „geistige Negerinvasion“, eine „schwarze Schmach“, eine „mit den Schwarzen eingeschleppte Geschmacksverrohung“.

1919-1920: Die große Verwirrung

Ein Gespenst geht um in Deutschland: Es heißt „Jazz“. Kaum einer weiß, was das ist, wie es klingt, wie man es schreibt. Es gibt davon weder Schallplatten noch Konzerte zu hören, ausländische Musikverlage ignorieren Notenanfragen aus Deutschland. Im „Artist“, der Zeitschrift der Unterhaltungsmusiker, erscheint im Juni 1919 erstmals das Wort „Jazz“. Die Schmusgeiger der Stimmungskapellen geraten in höchste Aufregung, erhalten aber die beruhigende Auskunft: Jazz ist nur ein neuer Modetanz. Prompt heißen die Saisonschlager „Cuyaba Jazz“, „Damarow-Jazz“, „Old-Joe-Jazz“ oder „Oculi-Poculi-Jazz“. Sie sind angeblich alle „original amerikanisch“.

Wie wenig man weiß, verrät ein Bericht des Kapellmeisters Henry Ernst, der sich 1920 mit seinem „Original Wiener Meistersalonorchester“, das aus lauter Westfalen besteht, ins Ausland wagt. „Mit unseren Ave Marias und Serenaden heimsten wir in St. Moritz viel Ehren und Whiskysodas ein. Nur bei den ‚Fuchstänzen’ machten die Leute ein verlegenes Gesicht.“ Das mondäne Publikum entdeckt in Ernsts „Fuchstänzen“ partout keine Foxtrots. Noch schlimmer: Für die nächste Saison macht der Hoteldirektor „Tschetzpend“ zur Bedingung. Ernst kann sich darunter rein gar nichts vorstellen und fragt zu Hause an. Der Kapellmeister-Verband Deutschland hält „Jazzband“ für einen neuen Tanz, ähnlich dem Cakewalk. Ganz genau Bescheid weiß man dagegen in der Hauptstadt: „Wir in Berlin tanzen schon seit Monaten Jazz“. Der neueste Jazz, so Berlin, ist der „Dolores-Jazz von Byjacco“, ein „Three-Step im Zweiviertel-Takt“. Mit dem „Dolores-Jazz“ ergeht es Ernsts Kapelle in St. Moritz aber ähnlich: Das Kur-Publikum sieht betreten drein. Es würde lieber einen „Shimmy“ hören, wie er in Paris jetzt groß in Mode ist. In einem Buchladen in St. Moritz sieht Ernst erstmals das Bild einer Jazzband: „Sieben Männeckens in Sportdress: Klavier, Geige, zwei Banjos, Saxophon, Posaune und Schlagwerk.“

1921-1923: Lärm, Krach und Shimmy

Die eigentliche Sensation der Jazzkapelle ist das ungewohnte Kombinations-Schlagzeug (Drumset), eine große Jux-Maschine. Der Schlagzeuger hat zirkusgerecht für Lärm zu sorgen – nicht nur an Trommeln und Becken, sondern auch mit Topfdeckeln, Quirlen, Reibeisen, Autohupen, Kuhglocken, Ratschen, Signalpfeifen, Sirenen, Rasseln, Knarren, Pistolen, Kindertröten, Lotosflöten, Torpedopfeifen, Megaphon, Sazzafon, Flexaton, Klingeln, Kastagnetten, Motoren, Eisenstangen und Schellenbäumen. Als ausgemachter Exzentrik-Clown muss er außerdem singen, tanzen und jonglieren, Kopfstände machen, Klamauk-Einlagen geben, Gegenstände ins Publikum werfen, komische Hüte aufsetzen und überhaupt für Stimmung sorgen. Eine herausragende Jazz-Formation besitzt gleich mehrere Exzentriker: Der Pianist kann ja mit einer Hand noch Trompete spielen.

Viele meinen, der Schlagzeuger und sein Krach-Instrument seien der eigentliche „Jazz“ (Jezz, Jass, Jatz, Yazz). Das Schlagzeug heißt daher häufig Jazz oder Jazzband, Jazz-Schlagmaschine oder Jazz-Apparat, aber auch Trapp-Drumm, Drap-Trumm, Trapp-Trommel. Der Schlagzeuger firmiert als Jazzer oder Jazz-Bänder, Jazz-Trappdrummer, Drap Drummer-Kanone oder prima Jazzband-Schlager (oder -Schläger). Selbst Gottfried Benn dichtet souverän: „Was zischen Jazz und die Banden“. Die Jazz-Schläger sind bevorzugt schwarz oder zumindest „original amerikanisch“ wie Harry Johnson, der „beste deutsche Trapp-Drummer“ von 1921. Typische Angebote der Kapellen lauten: „Schlagzeugbedienung: Neger“, „Violine, Banjo, Klavier, Cello und Jazz (Neger)“ oder „Neger prima Stimmungsmacher“. Alle glauben der Legende, dass das Wort „Jazz“ auf einen gewissen Jasbo Brown zurückgehe, der 1915 in Chicago als Alleinunterhalter gewirkt und sich dank der vielen spendierten Drinks zu clownesker Exzentrik gesteigert haben soll. Es ist die beliebteste Jazz-Theorie der 20er-Jahre.

Seit Kriegsende jagt ein Modetanz den anderen: Turkey-trot, Fishwalk, Castle-walk, Yazz-step, später Charleston, Black Bottom – alle auf Foxtrot-Basis. Professionelle Tänzer (vor allem in Berlin) sorgen dafür, dass es in jeder Saison einen neuen Tanz gibt und der vom Vorjahr ganz unmöglich ist. Der Saisontanz von 1921/22 ist der Shimmy, bei dem man sich bewegt, als werde man von elektrischen Schlägen getroffen oder wolle sein nasses Hemd abschütteln. „War der Foxtrott eine Krankheit, so ist Jazz und Shimmy eine Epidemie“, heißt es im Vorwort des Buches „Jazz und Shimmy“ (Berlin 1921), für das auch Kurt Tucholsky einen Beitrag schreibt. Manche fordern vehement „polizeiliche Maßnahmen“ gegen solche Auswüchse des Tanzsports. Aber sogar Paul Hindemith komponiert einen „Shimmy“ – für seine Klaviersuite „1922“.

Für die Unterhaltungskapellen führt kein Weg mehr am Jazz vorbei. Auch „erstklassigste Salon-Quartette“ haben nun immer ein „Jazz-Band“ dabei und bieten auf Nachfrage wilde Jazz-Einlagen. So entstehen höchst einfallsreiche Stil-Mischungen: Die Union Jazz-Band aus Karlsruhe besteht aus einem Klavier spielenden Stimmungssänger, einem Tisch- und Schmusgeiger und einem Trapp-Drummer, der „eine Kanone für sich“ ist. Geiger lernen Saxophon, Trommler können auch Flöte, Bassisten Trapp-Drumm. Es gibt Balalaika-Orchester mit Jazz-Band, eine „Ungarische Jazz-Stimmungs-Kapelle“ und die „erste springende Original Jazz-Band“. Deutschland wimmelt von „Original Americ“ oder „Original Amerikan“ Jazz-Formationen.

1924 – Das goldene Jahr des Jazz

Deutschland ist ein blühendes Jazzland. Die Inflation geht zu Ende, die Rentenmark ist eingeführt, die erste echte US-Jazzband gastiert in Berlin (die Ohio Lido Venice Band), immer mehr Jazzplatten aus dem Ausland tauchen auf, die Zahl der Rundfunkteilnehmer verzehnfacht sich gegenüber dem Vorjahr. Deutschlands Berufsmusiker bilden „Kombinations-Kapellen“, die je nach Bedarf Jazz-, Salon- oder Stimmungsmusik spielen und in ihrer Bühnenkleidung zwischen „Schwarz, Dress und Sammetgarderobe“ wechseln. Die „Jazz-Band Rudel-Jerochnik“ brilliert sogar in acht verschiedenen Kostümierungen und kann sowohl dezent wie exzentrisch. Die „4 Harrysohns“ bestehen aus vier Stimmungskanonen, ihr Trapp-Drummer ist ein „unkopierbares Genie“, und nebenbei bieten sie auf Wunsch auch Wiener Schrammelmusik. Die „Original Bayr. Oberlandler-Kapelle Hans’l Schirmer“ hat 25 Einlagen im Programm, darunter Schuhplattler und Saxophonquartett. Und dann das „Damen-Jazzband-Stimmungs-Orchester“: „Am Jazzband: Else, die beste routinierteste Jazzerin der Gegenwart, fesche Erscheinung, schöne Stimme. Humoristische Einlagen mit Tierköpfen: kein Klamauk!“?

Der Jazz holt immer neue Instrumente aus seinem Zaubersack: „Bonjo“ (Banjo), „Haiwai“ (Steel Guitar), Tubaphon, Stahl-Xylophon, Metallklarinette, Octavin, Aluminiphon, elektrisches Glockenspiel, musikalisches Sofa usw. Die Singende Säge (ein mit dem Cellobogen gestrichener „Fuchsschwanz“) oder die Trichtergeige (Jazz-Violine, Violophon) erleichtern dem gelernten Streicher den Einstieg ins Exzentrische. Besondere Aufmerksamkeit erregt das Saxophon, das neue „Clownelement im Klangverein“. Ein deutscher Fachmann schreibt: „Der richtige Jazz-Saxophonist bringt Wirkungen von erschütternder Komik hervor, eine Art näselndes, unzufriedenes, schimpfendes, weinendes, philisterhafter Parlando.“ Der Prager Komponist Erwin Schulhoff, völlig von der „Leidenschaft zum mondänen Tanz“ gepackt, feiert das Saxophon, weil es „nur Karikatur ist und mit charmantester Liebenswürdigkeit seinerseits jedes Sentiment gänzlich negiert.“ Eine echte amerikanische Jazzband, weiß Schulhoff, setzt sich aus Negern, Mestizen und Kaukasiern zusammen und besteht aus mindestens zwei Saxophonen, mindestens zwei Banjos sowie Xylophon und Schlagwerk „in fantastischen Ausmaßen“.

1925-1929 – Etablierung und Niedergang

Das Unbegreifliche geschieht: Jazz wird seriös. Vorbei sind die Jahre des Radaus, der Disziplinlosigkeit und der wilden Improvisation. Der neue König des Jazz heißt Paul Whiteman: Er bezahlt seinen Musikern 1600 Dollar im Monat und wird von US-Studenten zum größten Musiker aller Zeiten gewählt – vor Beethoven. Drei ausverkaufte Konzerte im Großen Schauspielhaus Berlin überzeugen den deutschen Bildungsbürger von der Würde des neuen, wahren, „sinfonischen Jazz“; nur die Verjazzung von Liszt und Wagner nimmt man Whiteman übel. Flugs entstehen in Deutschland jede Menge Jazzsymphonien und Jazzsymphonie-Orchester mit bis zu 20 Musikern. Mitja Nikisch, Sohn des Dirigenten Arthur Nikisch, wird zum „deutschen Whiteman“.

Auch andere große Jazzmusiker kommen gerne nach Deutschland, denn hier gibt es keine Prohibition. Der schwarze Trompeter Arthur Briggs nimmt eine Werbeschallplatte auf: „Eggü ist das Schuhputz-Ideal“. Sidney Bechet wirkt in einem Ufa-Film mit, das Jazzstück heißt: „Ich lasse meinen Körper schwarz bepinseln“. Die Band von Sam Wooding spielt im Berliner Admirals-Palast Jazz-Versionen von „O du lieber Augustin“ und „Die Wacht am Rhein“. Bei Woodings Studioaufnahmen stellt man die lautesten Instrumente in den Treppenflur und lässt die Studiotür offen. Deutsche Jazzmusiker haben gut aufgepasst: Die Band von Julian Fuhs beherrscht bereits Slaptongue, Wah-Wah- und Doo-Wacka-Doo-Effekte. Die einheimischen Weintraub Syncopators und Comedian Harmonists sorgen für Aufsehen. Immer mehr Schallplatten-Matrizen werden nach Deutschland lizenziert, die Electrola und die deutsche Brunswick gegründet. Von 1925 bis 1929 werden in Deutschland 1,5 Millionen Grammophone gekauft. Der Saisonschlager von 1926 heißt „Der Neger hat sein Kind gebissen.“

Der konzertante, sinfonische Jazz kommt den Musikern der Kombinations-Kapellen entgegen. Nun darf man seriös diskutieren: Ist das Saxophon das passende Jazz-Instrument für den Primgeiger? Oder doch eher das Banjo? Es gibt Jazz-Komödien, ein Jazzkonzert für 100 Flügel, ein Jazz-Fremdwörterbuch, einen Jazz-Eintrag im Neuen Musiklexikon und eine Jazzklasse am Hochschen Konservatorium. René Schickele und Hans Janowitz schreiben Jazz-Romane, Ernst Krenek eine Jazzoper, Alfred Baresel ein praxisnahes „Jazzbuch“, das in drei Jahren eine Auflage von 10.000 Stück erreicht. Die Musikwissenschaft vergleicht den Jazz nun mit der Cantus-firmus-Kunst und den Improvisations- und Verzierungstechniken des 16. bis 18. Jahrhunderts. Jazzmusiker liefern neuerdings „höchstkünstlerische Spitzenleistungen“, sogar Schlagzeuger werden „dezent“ und „vornehm“ und beweisen unerwartet einen „verträglichen Charakter“.

In seinem Buch „Jazz. Eine musikalische Zeitfrage“ (1927) entwickelt Paul Bernhard mit deutschem Tiefsinn die Philosophie des Jazz. Er definiert den Step als „die in der Benutzung der Beine zum Schreiten bewusst gewordene Zeit“ und erklärt die „Willensfundamente der Blasinstrumente“. Die Wiederkehr des Rhythmus sieht der Autor im Zusammenhang mit der Emanzipation der Frau, denn mit Frauen kennt er sich aus: „Der gestaltende Rhythmus ist der Frau auf tragische Weise versagt.“ Außerdem weiß er alles über den Blues, der mit dem deutschen Ausdruck „blau machen“ verwandt sei. Kongenial bringt er Blues-Texte ins Deutsche: „Jeden Abend Sonn’ geht heim. Häng’ ich’s Haupt und wein’. Hätt’ ich Flügel wie Noahs Taub’, flög’ ich in’ Himmel rein.“

In der zweiten Hälfte der 20er-Jahre wird der böse Unterton der Jazzgegner lauter. Von Jazz-Fäulnis und dem „Dreckbazillus Jazz“ ist die Rede. Josephine Bakers „Revue Nègre“ von 1926 wird als „verjudete Niggerschau“ beschimpft. Der Komponist Hans Pfitzner wettert gegen „Verwesung“ und „musikalische Impotenz“: Jazz bedeute „Niedrigkeit“ und sei als Kunstgattung „ohne Seele, ohne Tiefe und Gehalt, fern vom Bereich des Schönen, uns wesensfremd.“ Man polemisiert gegen Saxophone („Negerpfeife“) und gestopfte Trompeten („niedrigste Instinkte“). 1929 fordert die Deutsche Tonkünstler-Zeitung allen Ernstes ein „Verbot der Saxophone“, der Deutsche Frauenkampfbund sogar ein „Verbot von Saxophonen und Negertänzen“. Ein Jahr später sitzen bereits 107 Nazi-Abgeordnete im Reichstag. Für Thüringen wird ein Jazzverbot erlassen. Das ist – 1930 – der Anfang vom Ende des Jazzlands Deutschland. Fünf Jahre später verkündet der Reichssendeleiter ein generelles Rundfunkverbot für „Niggerjazz".

© 2004, 2007 Hans-Jürgen Schaal


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