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Ein genialer Erfinder baute sie fürs Wohnzimmer – das war 1934. Ein genialer Hitzkopf brachte sie zur Explosion – das war 1954. Eine Phalanx von Aposteln predigten ihre Botschaft – und tun das bis heute. Wie alles anfing, erfahren Sie hier.

Helden der Hammond
Eine Heimorgel und ihre Erlösung
(2004)

Von Hans-Jürgen Schaal

91 Metallzahnräder, angetrieben von einem Elektromotor, erzeugen in Magnetspulen Wechselspannungen von verschiedenen Frequenzen. Durch das Drücken einer Manualtaste wird der Strom elektronisch verstärkt und hörbar gemacht. Zwei Manuale à 61 Tasten, 32 Fusspedale, 36 Zugriegel zur Steuerung der Klangmischung, Preset-Tasten zur Auswahl einer Zugriegel-Gruppe, dazu Vibrato- und Perkussions-Effekte... Dieses gewaltige Zirkusinstrument heißt Hammond-Orgel, wiegt 200 Kilogramm und kam wie eine Offenbarung über den modernen Jazz. Der Hammond-Klang ist heute, so das Musiklexikon, „technisch überholt“ – aber totzukriegen ist er nicht.

Der Schöpfer: Laurens Hammond

Laurens war gerade zwei Jahre alt, als sein Vater mit einem Sprung in den winterlichen Michigan-See Selbstmord beging. Seine weitere Kindheit verbrachte der Junge mit der Mutter in Europa, wuchs mehrsprachig auf, wurde ein Freund des Schachspiels und der europäischen Oper, blieb aber durchaus unmusikalisch. Laurens Hammond (1895-1973) zog es vielmehr zur Technik hin: Zurück in Amerika absolvierte er ein Ingenieursstudium, war mit Anfang 20 bereits Chefingenieur in einem Schiffsmotoren-Werk und dank des Erfolgs seiner Erfindungen bald sein eigener Herr. 110 Patente wurden ihm im Lauf seines Lebens zuerkannt: Er erfand Barometer, elektrische Uhren, Autogetriebe, Stromumwandler für Radios. Eines seiner kuriosesten Patente war ein elektrischer Tisch für Bridge-Spieler, der sich 1932 immerhin 14.000-mal verkaufte. Eines seiner bekanntesten war die noch heute gebräuchliche 3-D-Brille (1922). Im Zweiten Weltkrieg entwickelte er für die U.S. Army auch Raketen-Fernsteuerungen.

Hammonds folgenreichste Erfindung aber war ein Elektromotor. Mit einem guten Blick für die schlichten Bedürfnisse der Haushalte verfiel er irgendwann auf die Idee, diesen Motor zum Kern einer Hausorgel zu machen. Er besorgte ein gebrauchtes Klavier, baute es auseinander, experimentierte mit Generator und Tonrädern. Musikalische Hilfestellung gaben Mitarbeiter seiner Firma, zum Beispiel der Buchhalter, der nebenbei Kirchenorganist war. Hammonds Prototyp musste mit einer Kurbel gestartet werden wie ein frühes Automobil. Der Patentantrag vom Januar 1934 wurde in Rekordzeit genehmigt, denn wirtschaftlicher Aufschwung tat Not. Im Folgejahr wurde das Instrument in New York präsentiert, Fritz Reiner und George Gershwin spielten darauf. Und kurz danach ging das „Model A“ in Serien-Produktion und Henry Ford bestellte gleich sechs Instrumente. Die Orgel mit der Seriennummer 1 steht heute in der Sammlung der Smithsonian Institution.

Ein kurioser Rechtsstreit befasste sich 1937 mit der Frage, ob die Firma Hammond ihr Instrument „Orgel“ nennen und mit der „unendlichen Zahl von möglichen Ton- und Klangvarianten“ werben dürfe. Eine wissenschaftliche Untersuchung ergab: „Orgel“ war erlaubt, „unendlich“ nicht, denn es gab lediglich 253 Millionen Klangmöglichkeiten! Im gleichen Jahr erschien die erste Benutzer-Zeitschrift („Hammond Times“). Die Produktion war bereits beim Buchstaben „E“ angelangt: „Model E“ präsentierte erstmals die 32 Fußbass-Pedale. Und jedes Jahr kamen neue Modelle, technische Innovationen, Verbesserungen und Anpassungen dazu. Eine Hammond-Orgel speziell für militärische Einrichtungen wurde von 1941 bis 1944 gebaut. 1946 gab es das erste Modell mit echtem Vibrato-Effekt, 1949 kam die „B-2“, 1955 schließlich die heute legendäre „B-3“, nun endlich auch mit Perkussion. Erst 1978 – fünf Jahre nach dem Tod des Erfinders – wurde die Produktion der Hammond-Orgel eingestellt. Insgesamt wurden mehr als 100.000 Instrumente ausgeliefert.

Und dann gab es da noch den kürzlich verstorbenen Don Leslie (1911-2004). Als Kalifornien 1936 die Frequenz des Wechselstroms aus der Steckdose von 50 Hz auf 60 Hz erhöhte, wurden viele elektrische Geräte unbrauchbar. Don Leslie, der in einem Radiogeschäft arbeitete, übernahm im Nebenjob die Aufgabe, in den Hammond-Orgeln, die nun alle zu hoch klangen, die Tongeneratoren auszutauschen. Also machte er Hausbesuche, zog von einem Orgel-Besitzer zum nächsten und entwickelte bald eine Zuneigung zu Hammonds Erfindung. Allerdings glaubte er auch eine Schwachstelle zu erkennen: Die Klangwirkung der Instrumente war in bestimmten Räumen zu dünn. 1940 entwickelte Leslie einen eigenen Lautsprecher mit rotierenden Elementen, die eine Art verstärkendes Tremolo erzeugen. Er bot seine Erfindung Hammond zum Kauf an und spekulierte auf eine Festanstellung. Doch Hammond lehnte ab.

Hammond lehnte nicht nur ab, er startete eine Propaganda gegen Leslies Lautsprecher: „Ich wollte nie, dass meine Orgeln so klingen.“ Diese Propaganda machte Leslies Erfindung so bekannt, dass sich die Lautsprecher wie von selbst verkauften. Viele Hammond-Händler, -Mitarbeiter und -Vorführer erkannten, dass der „Leslie Speaker“ (auch Hollywood Speaker oder Vibratone genannt) den Sound der Hammond-Orgel aufwertete. Trotz Laurens Hammonds Ablehnung wurden Hammond-Orgeln auf Anfrage selbstverständlich auch mit eingebauten Leslie-Speakers geliefert. Unter Orgelspielern ist „der Leslie“ bis heute so legendär wie die „B-3“ und nicht von ihr zu trennen. Don Leslie kam mit der Produktion seiner Lautsprecher kaum hinterher und verdankte seinen Erfolg letztlich dann doch nur Laurens Hammond und dessen Hausorgel. 1965 verkaufte Leslie seine Firma an CBS, die die Marke 1980 – sieben Jahre nach Hammonds Tod – an die Hammond Company abtrat. Einträchtig gingen Hammond-Orgel und Leslie-Speaker 1988 an die Firma Suzuki über.

Der Erlöser: Jimmy Smith

Jahrelang lieferte die Hammond-Orgel das, wofür Mr. Hammond sie gebaut hatte: beschauliche Hausmusik im Wohnzimmer. Sie stand außerdem in Freizeitzentren und beschallte mit süßlichen Klängen die Eislaufflächen, Bowlingbahnen und Kaffeehäuser. Wenn frühe Jazz-Pianisten das Instrument spielten – Earl Hines, Fats Waller oder dessen Schüler Count Basie und Milt Buckner –, klang die Hammond wahlweise wie ein Ersatz-Klavier oder wie eine Ersatz-Pfeifenorgel, aber nie wie ein Muss: Eine Karriere als Jazz-Instrument hätte ihr in den 40er-Jahren niemand vorausgesagt. Dafür reüssierte sie in kleinen Kirchen und bei Beerdigungen, speziell in afroamerikanischen Gemeinden, die sich keine große Orgel leisten konnten. So setzte sich der Hammond-Sound bei schwarzen Musikern im Ohr fest und schaffte schließlich 1949 den Sprung vom Gospel in die Jump&Jive-Band von Louis Jordan: Dort war es Wild Bill Davis (1918-1995), der die Hammond mit Rhythmus und Blues taufte und sie auf ihren Erlöser vorbereitete. Davis war es auch, der das Basis-Trioformat aller Hammond-Combos schuf: Orgel, Gitarre, Drums ¬– gelegentlich ergänzt durch einen erdigen, bluesigen Tenorsaxofonisten. Einige seiner souligsten Aufnahmen machte Davis mit Johnny Hodges in den sechziger Jahren. Er begleitete Hodges auch 1970 bei dessen allerletzter Aufnahme, dem „Blues For New Orleans“ in Duke Ellingtons „New Orleans Suite“.

Der große Befreiungsschlag für die Hammond-Orgel erdröhnte vor 50 Jahren. Ein junger Jazz- und R&B-Pianist namens Jimmy Smith, geboren 1928 (nicht 1925, wie vielfach zu lesen ist), hatte das Gefühl, er hätte sich lange genug mit verstimmten und abgewetzten Klavieren herumgeärgert. „Ich sagte zu einem Clubbesitzer: ‚Wann lässt du das Piano stimmen?’ – ‚Ach, morgen, Jimmy, morgen, Jimmy’, sagte er immer wieder und ich wurde es leid.“ Zu jener Zeit hörte Smith im „Harlem Club“ in Atlantic City Wild Bill Davis auf der Hammond-Orgel spielen und war gepackt von der Vielfalt der Sounds. Heimlich schlich er sich nach Davis’ Auftritt auf die Bühne, testete den Anschlag und wurde noch neugieriger. Bei einem Hammond-Händler probierte er eine Zeit lang gegen eine Gebühr von jeweils 1 Dollar das Vorführ-Instrument aus. Und als Wild Bill ihm eines Tages verriet, dass er zur Beherrschung der Basspedale mindestens vier Jahre Übung benötigen würde, hatte Jimmy Smiths Ehrgeiz seine Herausforderung gefunden. Er besorgte sich einen Kredit, kaufte eine Hammond-Orgel und stellte sie ins Lagerhaus der Firma, bei der sein Vater als Gipser arbeitete.

„Ich ließ meine Orgel in der Lagerhalle, weil niemand erfahren sollte, dass ich diesen Hurensohn noch nicht spielen konnte. Ich konnte ihn wirklich nicht spielen. Und die Orgel blieb dort fast ein ganzes Jahr. Ich nahm mir Essen mit, drei Sandwiches, und übte den ganzen Tag lang.“ Das Hauptproblem waren natürlich die Basspedale. Um das Pedalspiel zu erlernen, ließ sich Smith von einem Kunststudenten einen Lageplan der Pedale aufmalen und hängte den Plan, etwa einen Quadratmeter groß, über der Orgel an die Wand. Dann setzte er um, was er einmal als Tapdancer gelernt hatte, arbeitete mit Ferse und Fußspitze und fand heraus, dass man das Fußgelenk locker halten muss. Er übte das Bassspiel, indem er seine Lieblingsplatten auflegte und nur mit den Füßen dazu agierte. Die Lagerarbeiter zogen ihn gerne auf und meinten, er würde es nie lernen. Sie wurden seine ersten Fans.

Eines Tages im Jahr 1954 war es so weit: Jimmy Smith packte seine Orgel, lud sie auf seinen Chevrolet-Truck und fuhr sie zu „Spider Kelly’s“, dem Club in der Mole Street in Philadelphia. Dort spielte er seinen ersten Gig und die Lagerarbeiter saßen dabei in der ersten Reihe. Dort explodierte erstmals der neue Hammond-Sound, der Jimmy-Smith-Sound, das Ergebnis monatelangen Übens. Dort verwandelte sich der steife Siebenschläfer Hammond-Orgel in einen feurigen, gefährlichen Puma: lichtschnell fauchende Bebop-Phrasen, nie gehörte Registrierungen, swingend dahinrollende Basslinien, ein aggressiver, perkussiver Sound-Hurrikan. Einer der Ersten, die sich nach Philly aufmachten, um das seltsame Klangwunder zu überprüfen, war Francis Wolff von der Plattenfirma Blue Note. „Er bot einen betäubenden Anblick“, berichtet Wolff über Jimmy Smith, „ein Mann in Krämpfen, das Gesicht verzerrt, verkrümmt in offensichtlichem Todeskampf, mit fliegenden Fingern, und die Füße tanzten über die Pedale. Die Luft war mit Wogen eines Sounds erfüllt, den ich nie zuvor gehört hatte. Der Lärm zerschmetterte einen.“

Jimmy Smith veränderte den Charakter der Hammond so gründlich, wie Coleman Hawkins einst das Saxofon neu definiert hatte. Smith spielte die Hammond nicht wie ein Klavier oder eine Orgel, sondern wie ein Trio aus Bop-Bläser, Walking-Bass und Perkussion zur gleichen Zeit. Er spielte sie mit dem ganzen Körper, athletisch und schweißtreibend, mit bissiger Aggressivität und bis zur Erschöpfung. In dieser offensiven, herausfordernden Art spiegelt sich auch sein Charakter als Mensch: Jimmy Smith nennt sich selbst „leicht daneben“ („slightly off“). „Jeder sagt: Jimmy Smith is verrückt, leg dich nicht mit ihm an. Besonders wenn er NICHT spielt.“ Wer je die Ehre hatte, den Meister zu interviewen, kennt seine Ungeduld, seine Angriffslust, sein überschäumendes Temperament und seine Leidenschaft, Kritiker und Kollegen zu beschimpfen. Mit der Einstellung, alle anderen von der Bühne pusten zu wollen, hatte Jimmy schon mit 9 Jahren einen Boogie-Piano-Wettbewerb gewonnen. Später sammelte er Erfahrung als Boxer (seine erste Platte hieß „The Champ“) und schlug einmal den Bop-Sänger Babs Gonzalez im Streit k.o. – vor den Augen des entsetzten Blue-Note-Produzenten Alfred Lion. Jimmy Smith ist nicht nur Träger des schwarzen Shotokan-Gürtels, er beherrscht auch subtilere Waffen: Voodoo zum Beispiel. „Ich habe immer mein Mojo-Pulver bei mir. Ich verteile es überall auf der Bühne, ein bisschen davon um meine Orgel herum, und ich lasse meinen Tenorspieler auf ein bisschen Puder treten. Damit sein Arsch heiß bleibt.“

In Jimmy Smiths gewaltigem Befreiungsakt steckten nicht nur Temperament und Ehrgeiz, sondern auch eine große Portion Talent und eine fundierte Ausbildung. Als Teenager verkehrte er viel im Haus von Bud Powell und spielte dessen Stücke nach, bis er eines Tages nicht mehr eingeladen wurde, weil sein Lerneifer Powell beunruhigte. Später hat er Powell auch bei einem Gig mit Charlie Parker kurzzeitig vertreten. An verschiedenen Musikschulen studierte Smith Harmonielehre und Musiktheorie, aber auch Kontrabass und Klavier – eine ideale Instrumente-Kombination für die Hammond-Orgel. Als Smith 1956 im „Café Bohemia“ in New York spielte, tauchten die aktuellen Jazz-Größen alle im Club auf, um ihm auf die Finger zu sehen: Blakey, Mobley, Monk, Roach, Rollins. „Sie dachten, ich hätte auf der Platte Overdubs verwendet, weil ich so schnell spielte, daher kamen sie, um es mit eigenen Augen zu überprüfen. Nach einer Weile kamen sie alle auf die Bühne, um mitzuspielen. Alle diese Bläser. Und Art bat Donald Bailey um den Platz auf dem Schlagzeug-Hocker. Das Haus stand in Flammen! Dann kommt Monk auf den Bandstand, stellt sich hinter mich und beginnt mit mir Orgel zu spielen. Mann, das war das Aufregendste, was mir außer meiner Geburt passiert ist!“

Die Apostel: Brother Jack, Sister Shirl, Big John & die anderen

Die Hammond-Explosion, die Jimmy Smith auslöste, war nicht zu überhören. Bis 1963 nahm er für Blue Note etwa 30 Alben auf, zuweilen unterstützt durch erdige, soulige Bläser wie Stanley Turrentine und Lou Donaldson, meist aber im puren Trio mit Donald Bailey (Drums) und wechselnden Gitarristen. Jimmy Smith war so erfolgreich, dass er in den 60er-Jahren zum Branchenriesen MGM/Verve wechselte, wo er auch Big-Band-Aufnahmen und andere ambitiöse Projekte verwirklichen konnte. Sein Beispiel brachte in den späten 50er-Jahren eine ganze Phalanx von Hammond-Organisten hervor, die er alle nicht zu Unrecht als seine Schüler und Kinder betrachtete. Die stilistische Entwicklung des modernen Jazz und die Popularität der Hammond-Orgel gingen damals einträchtig Hand in Hand: Der Hardbop der fünfziger verschärfte sich zum Soul Jazz der sechziger Jahre und die Hammond lieferte den Clubs und Radios der Afro-Amerikaner die zeitgemäßen Gospel-Funk-Vibrationen. Orgelcombos wurden zur schwarzen Seele der nächtlichen Metropolen.

In Philadelphia, wo Jimmy Smith 1954 Laurens Hammonds Instrument erlöst hatte, verbreitete sich die Message am schnellsten. Ein findiger Clubbesitzer witterte sofort einen Trend, mietete eine Orgel und verpflichtete eine junge Musikerin, sie zu spielen: Shirley Scott (1934-2002). Die gelernte Pianistin und Trompeterin besaß zwar nicht die Explosivität und lärmige Gewalt eines Jimmy Smith, brachte dafür aber moderne Relaxtheit und atmende Räume ins Spiel. In ihre Soli stieg sie immer federleicht ein, um die Intensität dann allmählich zu steigern: „Straight-ahead-Bebop, keine Fusion, keine Konfusion, aber immer ein bisschen Blues“, so beschrieb Shirley Scott ihren Stil in späteren Jahren. Typisch für sie waren schlanke, schnelle Läufe im oberen Tonbereich in einer hellen, flötenartigen Registrierung. Viele Jahre lang arbeitete sie mit souligen Tenorsaxofonisten zusammen, vor allem mit Eddie „Lockjaw“ Davis und mit Stanley Turrentine, der in den Sechzigern auch ihr Ehemann war. Shirley Scotts Beispiel machte die Hammond-Orgel als Frauen-Instrument akzeptabel und ermutigte spätere Organistinnen wie Trudy Pitts, Rhoda Scott, Gloria Coleman, Amina Claudine Myers oder Barbara Dennerlein.

Ähnlich wie Shirley Scott bevorzugte Richard „Groove“ Holmes (1931-1991) eine gewisse Relaxtheit, die manchmal schon an Count Basie erinnerte: Gerne ließ er einfach taktelang den swingenden Groove für sich sprechen. Holmes stammte aus Camden (New Jersey), direkt gegenüber von Philadelphia am anderen Ufer des Delaware River gelegen. Anders als fast alle Hammond-Organisten war er kein gelernter Klavierspieler, sondern kam vom Kontrabass her, was der Qualität seiner Basslinien an der Orgel zugute kam. Seine Phrasierung war deutlich von Saxofonisten geprägt. Holmes orgelte sich durch die Clubs, bis er 1960 von Les McCann entdeckt und an die Plattenfirma Pacific empfohlen wurde. Als Komponist ist Holmes kaum hervorgetreten, dafür als origineller Arrangeur: Besonders erfolgreich war seine rhythmisch groovende Fassung der Ballade „Misty“ von 1965. Auf demselben Album spielte er auch Clifford Browns „Daahoud“ als Bossa Nova. Dank der freien Räume in seiner Musik konnte er später noch einen zweiten Keyboarder in seine Band aufnehmen. 1973 machte er auch ein Album mit dem Kollegen Jimmy McGriff.

Der heute 68-jährige Jimmy McGriff wurde der erfolgreichste von Jimmy Smiths Schülern und Nachahmern in Philadelphia. McGriff hatte mehrere Instrumente gelernt – Bass, Saxofon, Drums, Piano, Vibrafon –, ehe er, von Smiths Sound begeistert, zur Hammond-Orgel fand. Er nahm bei Smith selbst Unterricht, mit dem er sich anfreundete, aber auch bei Richard „Groove“ Holmes sowie bei einem Kirchenorganisten und machte 1959 seine erste Hammond-Platte. Drei Jahre später hatte er mit einer instrumentalen Adaption von Ray Charles’ „I’ve Got A Woman“ einen ersten echten Hit: Seitdem heißt es, er „singe“ durch seine Orgel. McGriff nennt sich selbst einen Blues-Spieler, nicht einen Jazz-Organisten: Seine kurzen Shout-Phrasen, extensiven Tremoli und fetten Stops (Register) zeigen, dass er keine Angst davor hat, sich populistisch zu geben. Wiederholt arbeitete er mit „echten“ Blues-Künstlern wie Junior Parker oder Albert Collins. Sein häufigster Partner über die Jahre hinweg war der Blues- und Funk-Saxofonist Hank Crawford.

Ebenfalls aus Philadelphia kam Charles Earland (1941-1999). Er arbeitete als 17-jähriger Saxofonist in der Band von Jimmy McGriff, als er vom Hammond-Fieber gepackt wurde. Immer wieder sah er dem Bandleader beim Spielen über die Schulter, bis es McGriff zu viel wurde und er den Kiebitz feuerte. Earland startete daraufhin eine eigene Band mit wechselnden Organisten und stieg 1963 schließlich selbst auf die Hammond um. Ende der sechziger Jahre arbeitete er bei Lou Donaldson, bevor er ein eigenes Orgel-Trio gründete und mit dem Album „Black Talk“ großen Erfolg hatte. Earland spielte viel in R&B-Clubs, wo er sich den Ehrennamen „The Mighty Burner“ verdiente. Er war berühmt für seine Art, durch groovende Riffs, stehenden Pedalton oder häufige Phrasen-Wiederholungen (oft kontrarhythmisch) die Spannung in den Clubs immer mehr anzuheizen.

Der bekannteste der Hammond-Helden von außerhalb Philadelphias war „Brother“ Jack McDuff (1926-2001), wegen seiner liebsten Kopfbedeckung auch „The Captain“ genannt. McDuff stammte aus Champaign (Illinois), südlich von Chicago, und war ursprünglich Bassist. In den fünfziger Jahren stieg er aufs Piano um, ehe er 1959 die Hammond für sich entdeckte. Seine Band – meist ein Quartett mit Sax, Gitarre, Drums – brachte etliche Talente hervor, darunter die Gitarristen George Benson und Pat Martino. McDuff war ein fleißiger Komponist, der nicht nur Funk- und Blues-Riffs, sondern auch originelle Bop-Melodien schrieb. Er solierte mit einer subtil pianistischen Qualität, spielte die besten Basslinien nach Jimmy Smith und bevorzugte häufig scharfe, kratzige Registrierungen. Seinen größten Hit hatte er 1962 mit „Rock Candy“. In den 90er-Jahren spielte er auch mit jungen Hammond-Kollegen wie Larry Goldings und Joey DeFrancesco.

Ebenfalls aus dem Mittleren Westen kam „Big“ John Patton (1935-2002), der schon als 12-Jähriger in seiner Heimatstadt Kansas City professionell Klavier spielte. Mehrere Jahre war er mit dem R&B-Sänger Lloyd Price unterwegs, ehe er 1961 nach New York ging, um Jazz zu spielen, und dort zur Hammond-Orgel fand. Bereits im Folgejahr nahm er neun Platten als Organist auf, davon zwei als Leader. Inspiriert vom „New Thing“, dem jungen Free Jazz, und speziell von John Coltrane, hatte er auf der Orgel von Anfang an einen eigenen Tonfall: harmonisch raffiniert, etwas düster, häufig mit dräuenden Ostinati und hohlen, gaumigen Sounds. Das war nicht der populäre Soul Jazz und R&B der Nachtclubs, sondern besaß die Intensität einer Beschwörung. Patton arbeitete mit progressiven Geistern wie James Blood Ulmer, David Murray, Grachan Moncur oder Sun Ra und adaptierte Stücke von Coltrane, Shepp oder Shorter für die Hammond. In den 80er- und 90er-Jahren sorgte John Zorn, der eine Schwäche für die dunklen Seiten des Hardbop hat, für Pattons Comeback.

Noch konsequenter als Patton schlug Larry Young (1940-1978) die Brücke in den neuen Jazz. Der Sohn eines Organisten aus Newark (New Jersey) studierte zunächst Klavier und war im Rhythm&Blues aktiv, bevor er 1960 sein Platten-Debüt als Hammond-Spieler gab. Sehr bald wurde deutlich, dass sich Young vom bluesigen, emotional direkten Soul Jazz entfernte und zu epischen Klangbildern tendierte: zu warmen Farben, mysteriöser Atmosphäre, abstrakteren Linien, modalen Improvisationen. Hammond-Kollege Jack McDuff nannte ihn den „Coltrane der Orgel“, und in der Free-Jazz-Szene galt Young 1967 als „der einzige ernsthafte Organist“. Er versenkte sich zunehmend in spirituelle Abenteuer, nahm den islamischen Namen Khalid Yasin an und entlockte der Hammond später sirrende, psychedelische Klangflächen. Damit schuf er dem Instrument um 1970 auch einen Platz in den Psychotrips der Jazz-Rock-Avantgarde. Young spielte zum Beispiel mit Jimi Hendrix, Miles Davis, John McLaughlin und Carlos Santana.

Das Hammond-Testament

Diese frühen Helden der Hammond waren beileibe nicht die Einzigen. Daneben gab es einen Don Patterson, Freddie Roach, Melvin Rhyne, Lonnie Liston Smith, „Baby Face“ Willette, Johnny „Hammond“ Smith, Leon Spencer, Charles Kynard, Billy Gardner und Dutzende weiterer Hammond-Spieler. Auch sprang der Funke über in Soul, Rock und Pop und sorgte dort für zahlreiche Hammond-Buschfeuer. In der Rockmusik der frühen Siebziger war die Hammond eine der wichtigsten Stimmen, vertreten durch Musiker wie Brian Auger (Trinity), Jon Lord (Deep Purple), Keith Emerson (ELP), Rick Wright (Pink Floyd), Gregg Rolie (Santana), Ray Manzarek (The Doors), Dave Greenslade (Colosseum) oder Gregg Allman (Allman Brothers Band). Erst als E-Piano, Synthesizer und andere elektrische Keyboards die Musikwelt eroberten, galt die Hammond plötzlich als überholt und altmodisch. Sie schien mit dem Ende der Soul-Jazz-Ära für immer verschwunden – eine bald vergessene Laune der Geschichte.

Doch Trends haben ihre eigenen Gesetze. Wer hätte geglaubt, dass Hardbop und Soul Jazz schon Mitte der 80er-Jahre wieder in Mode kämen, dass in Diskotheken dazu getanzt würde, dass Labels wie Blue Note und Verve ihre Wiederauferstehung feiern würden, dass sich eine Generation von Acid Jazzern die Grooves und Sounds von einst zum Vorbild nähme und auch die Hammond-Orgel plötzlich wieder „in“ sein könnte? Die alten Helden kamen zurück aus der Versenkung, allen voran Jimmy Smith, aber auch ein paar, die man längst vergessen hatte. Die neuen Helden der Hammond heißen Barbara Dennerlein, James Taylor, Joey DeFrancesco, Larry Goldings, John Medeski, Jeff Palmer oder Dan Wall. Auch sie sind Schüler und Kinder jenes Jimmy Smith, dessen Ehrgeiz vor 50 Jahren die Hammond zur Explosion brachte und der noch längst keine Ruhe gibt. „Ich werde mit der Hammond noch einer Menge Leute Angst einjagen, bevor ich sterbe.“

Nachtrag 2009: Jimmy Smith starb im Februar 2005, Jimmy McGriff im Mai 2008.

© 2004, 2007 Hans-Jürgen Schaal


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