Die Schwaben gelten als fleißige und zähe Leute. Walter Lachenmann ist so einer. 1982 gründete der Exil-Stuttgarter in Oberbayern seinen Ein-Mann-Verlag Oreos und trotz einer längeren Publikations-Pause in den Neunzigern wächst das Projekt „Collection Jazz“ immer weiter. Rechtzeitig zum 20-jährigen Jubiläum präsentiert der Verlag nun die Bände 28 und 29 in Deutschlands größter Jazzbuch-Serie. Sie und elf weitere Jazz-Schmöker hat sich Hans-Jürgen Schaal für uns angeschaut. Ganz schön fleißig, was? Kein Wunder! Auch er: ein Schwabe.
Da swingt der Christbaum!
Jazzige Lektüre für Ihren Wunschzettel
(2002)
Von Hans-Jürgen Schaal
Nicht vor 20, sondern vor 50 Jahren begann die Kritiker-Karriere von Werner Burkhardt: mit 16 Zeilen über Count Basie für „Die Welt“. Der bibliophile Oreos-Band „Klänge, Zeiten, Musikanten“ bietet einen wechselvollen Querschnitt durch Burkhardts Zeitungs- und Magazinartikel seit 1961: Konzerte, Tourneen, Nachrufe, auch jazzige Reiseberichte vom Mississippi und der Route 66. Der Hamburger begleitete 1963 Sonny Rollins auf Deutschlandtour und hörte 1968 die Doors live in Frankfurt. Er reiste 1983 mit dem Manfred-Schoof-Orchester durch die DDR und 1991 zur Premiere von Paul McCartneys Oratorium nach Liverpool. Ein halbes Jahrhundert Pop- und Gesellschaftsgeschichte, aufgespießt von einem Feinstmechaniker des Musikfeuilletons. Zum Schmökern und Schmökern.
Angefangen hat die Collection Jazz einst mit einem Band des heutigen Jazz-thing-Mitarbeiters Gerd Filtgen: über John Coltrane. Ein anderer Jazz-thing-Autor, Ralf Dombrowski, hat nun eine Neudefinition des legendären Saxofonisten versucht. Die Monografie „John Coltrane“ bündelt die biografischen Daten, die die Jazzforschung in den letzten 30 Jahren zusammengetragen hat, und kommentiert ausführlich (und mit individuellem Akzent) die klingende Hinterlassenschaft des Saxofon-Heros, die längst ins Unübersichtliche gewachsen ist. Bei der entscheidenden Frage „Genie oder Masche?“ will sich aber auch Dombrowski nicht festlegen. Vielleicht liegt’s ja am „Quantensprung der Pluralität frühpostmoderner Kulturdeutung“? Muss ich ihn direkt mal fragen.
Coltrane hat viele schöne Aufnahmen gemacht, als Leader und als Sideman. Eine von ihnen ist fast immer dabei, wenn von den allerwichtigsten Platten des Jazz überhaupt die Rede ist: Miles Davis’ „Kind Of Blue“. Nicht weniger als drei Bücher sind in den letzten zwei Jahren über dieses Meisterwerk erschienen, eines davon nun auch auf Deutsch. Der Musikkritiker Ashley Kahn vom „Rolling Stone“ hat alles zusammengetragen, was die Beteiligten je zu den beiden Studiosessions und ihren fünf Titeln gesagt haben, dazu tolle Fotos und triviale Facts über Miles’ Entwicklung und die Entstehung des modalen Jazz und über Vermarktung und Vermächtnis der Aufnahmen. Auch das Studiogeplauder von den Bändern darf natürlich nicht fehlen: „Das machen wir besser noch mal... fangen wir mit den letzten vier Takten an?“ Nach 250 Seiten geht das Buch dann doch zu Ende. Man will auch gar nicht mehr wissen.
Ein anderer wichtiger Mitstreiter von Miles war Joe Zawinul, Österreichs führender Funk-Brother. Zawinuls Piano pushte Cannonball Adderley, seine Keyboards ließen Weather Report schweben, er schrieb Evergreens wie „Mercy Mercy Mercy“ und „Birdland“ und wurde diesen Sommer 70 Jahre alt. Ein guter Grund für eine bilderreiche Würdigung: „Zawinul. Ein Leben aus Jazz“. Gunther Baumann („Wiener Kurier“) interviewte den Jubilar zwei Wochen lang und erfuhr Überraschendes und Unglaubliches. Wer hätte gedacht, dass „In A Silent Way“ etwas mit Kühehüten zu tun hat und „Mercy Mercy Mercy“ seinen Namen durch einen Hochsprung-Weltmeister erhielt? Man staunt und staunt. Ein Buch randvoll mit Wirklichkeit.
Nun aber: die Fantasie. Seit den großen Tagen Chicagos gehören Jazz und Crime irgendwie zusammen. Deshalb gibt es für Evan Horne, Bill Moodys Jazz-Detektiv, immer was zu tun. Sein zweiter Fall führt ihn ins „Moulin Rouge, Las Vegas“, um den lange zurückliegenden Tod des Tenoristen Wardell Gray aufzuklären. Am Ende weiß er so viel wie vorher, aber es gibt zwei Tote mehr. Für echte Krimi-Freaks wohl etwas zu harmlos, für Jazz-Kenner gute Unterhaltung. Etwas komplexer gestrickt ist Katja Henkels Roman „LaVons Lied“ um die deutsche Pianistin Thilda Horn, die in Amerika scheiterte und für den Mord an einem Saxofonisten ins Gefängnis ging. Die Botschaft, Jazzmusiker seien sexy, mag eine Werbung für den Jazz sein. Der unbedenkliche Umgang mit Klischees und historischer Wahrheit macht das Buch aber zum Ärgernis. (Coltrane 1953 am Sopransax? Was sagt Ralf Dombrowski dazu?) Jackie Kays Roman „Die Trompeterin“ (nun im Taschenbuch) ist von der unglaublichen Geschichte des Jazzmusikers Billy Tipton inspiriert, der in Wahrheit eine Frau war (Jazz thing 33, S. 24). Der vom „Guardian“ preisgekrönte Roman spürt den Gefühlen der Hinterbliebenen nach, vor allem des Adoptivsohns, der von nichts wusste und der seine Erinnerungen neu verorten muss. Ein sensibles, poetisches Buch.
Jetzt wird’s anspruchsvoll: Abteilung Wissenschaft. Darmstadt hat wieder getagt, diesmal zum Thema „Jazz und Gesellschaft“. Da geht es um Jazz-Vermittlung und Hörer-Statistik, die soziale Relevanz des Freejazz und die Politisierung des 30er-Jahre-Swing. Jazz-thing-Autor Christian Broecking schlägt sogar eine Brücke von der Adorno-Berendt-Diskussion von 1953 zum Marsalismus von heute. Kurz: Das wichtigste Jazzbuch des Jahres. Auch in Graz hat man getagt. Die Referate der ASPM-Jahrestagung „Heimatlose Klänge?“ beschäftigten sich 2001 mit dem Zusammenhang von Globalisierung und Regionalisierung und schlugen den Bogen von Udo Jürgens’ „Griechischem Wein“ über Kölner Rap bis hin zu siebenschlägigen Balkan-Rhythmen und dem mitteleuropäischen Jazz-Bild der 50er-Jahre. Da lässt sich viel lernen. Nochmals Österreich: Thomas Mießgang, einer der klügsten Köpfe in der Avantgarde-Diskussion, legt unterm Titel „Semantics II“ eine neue Serie von Interviews und Artikeln vor. Im Gespräch mit Leuten wie Steve Reich, Dave Douglas und Evan Parker ging er der Frage nach, wie und was Avantgarde heute sein kann. Lesenswert.?
Noch ein paar Neuauflagen. Ekkehard Josts unverzichtbarer Klassiker „Free Jazz“ ist wieder zu haben, ordentlich gesetzt und bebildert. „Von Mozart zu Madonna“, Peter Wickes Kulturgeschichte der Popmusik, gibt es seit 2001 im Taschenbuch: Freunde des traditionellen Jazz finden hier auch Interessantes über Shimmys und Jitterbugs. Wieder in den Buchläden ist der kleine Musik-Thriller „Carlotta spielt den Blues“, der vierte Fall der rothaarigen Privatdetektivin Carlotta Carlyle. Jetzt sind Sie dran. Der Weihnachtsmann wartet.
Bibliografie
Werner Burkhardt
Klänge, Zeiten, Musikanten. Ein halbes Jahrhundert Jazz, Blues und Rock (Collection Jazz Bd. 29)
Oreos, Waakirchen 2002
Ralf Dombrowski
John Coltrane. Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten (Collection Jazz Bd. 28)
Oreos, Waakirchen 2002
Ashley Kahn
Kind of Blue. Die Entstehung eines Meisterwerks
Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg 2002
Gunther Baumann
Zawinul. Ein Leben aus Jazz
Residenz, Salzburg 2002
Bill Moody
Moulin Rouge, Las Vegas (Roman)
Unionsverlag, Zürich 2002
Katja Henkel
LaVons Lied (Roman)
Rowohlt-Wunderlich, Reinbek 2002
Jackie Kay
Die Trompeterin (Roman)
Fischer Taschenbuch, Frankfurt 2002
Wolfram Knauer (Hrsg.)
Jazz und Gesellschaft. Sozialgeschichtliche Aspekte des Jazz (Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung Band 7)
Wolke, Hofheim 2002
Thomas Phleps (Hrsg.)
Heimatlose Klänge? Regionale Musiklandschaften heute (Beiträge zur Popularmusikforschung 29/30)
CODA, Karben 2002
Thomas Mießgang
Semantics II. Mögliche Musiken im Zeitalter der Desillusion
Triton, Wien 2002
Ekkehard Jost
Free Jazz. Stilkritische Untersuchungen zum Jazz der 1960er Jahre
Wolke, Hofheim 2002
Peter Witte
Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik
Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt 2001
Linda Barnes
Carlotta spielt den Blues (Roman)
Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2002
© 2002, 2007 Hans-Jürgen Schaal
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