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Unseren musikalischen Grundwortschatz verdanken wir den alten Griechen: Melodie und Rhythmus, Harmonie und Chromatik, Kanon und Symphonie, Ode und Elegie – und natürlich die „musiké“ selbst. Gitarre und Leier, Xylofon, Tympanon und Cymbalon kommen ebenfalls aus der griechischen Antike. Die hellenische Mythologie kannte aber auch Blasinstrumente.

Salpinx, Syrinx, Aulos
Blasinstrumente im griechischen Mythos
(2004)

Von Hans-Jürgen Schaal

Dass Trompeter einen in den Wahnsinn treiben können, wussten schon die alten Griechen. Daher verwendeten sie die Salpinx nur, wenn es darum ging, Menschen in Tobsüchtige zu verwandeln: als Signalhorn in Kriegsschlachten, blutigen Opferritualen und wilden Festumzügen. Bei der Belagerung fremder Städte durfte die Salpinx Angst und Schrecken verbreiten. Auch kündigte Triton, der Seedämon und Sohn des Meeresgottes Poseidon, auf seinem Muschelhorn die gefährlichen Meeresstürme an. Für den Kunstgenuss jedoch war die Muscheltrompete (Triton) ebenso wie die Horntrompete (Keras) technisch zu schlicht, weshalb sich die Griechen die Mühe sparten, eine göttliche Herkunftsgeschichte für sie zu erfinden. Die olympischen Götter benutzten Hörner lieber, um daraus zu trinken.

Auch die Syrinx, die Panflöte, war nicht unbedingt salonreif. Das lag daran, dass Pan, der Gott der Hirten, im Ruf eines Tunichtguts und Tagediebs stand. Er war auf dem wolkenverhangenen Olymp nicht willkommen und verkroch sich daher lieber im Inneren der peloponnesischen Halbinsel, im wilden, bergigen Arkadien. Als Prototyp des Griechenland-Aussteigers scheute er die Arbeit und ersetzte sie durch das ausgedehnte mediterrane Mittagsschläfchen. Wenn man ihn bei diesem störte, konnte er allerdings böse werden: Dann trat er plötzlich aus dem Gebüsch, ein ungewaschener Kerl mit gewissen Attributen einer Ziege, und versetzte die armen Hirten, die ihn auf der Suche nach ihren Tieren aufgeweckt hatten, in „Panik“.

Wenn Pan nicht döste, war er ein rechter Schürzenjäger und ständig hinter den hübschesten Nymphen und Mänaden her. Eine von ihnen, die Nymphe Syrinx, floh vor seinen Avancen den ganzen Weg vom Berg Lykaion bis zum Fluss Ladon, geschätzte Entfernung: 25 Kilometer Luftlinie. Am Flussufer angekommen, ließ sie sich in ihrer Verzweiflung von hilfreichen Geistern in ein Schilfrohr verwandeln. Dem enttäuschten Gott entrang sich ein Seufzer, und als aus dem Schilf ein Klagelaut antwortete, ging er hin, schnitt einige Schilfrohre ab, klebte sieben oder neun davon mit Wachs zusammen und imitierte, indem er sie seitlich anblies, den Ruf aus dem Schilf. Ob er diese klingende Erinnerung an die Nymphe aus Mitleid und Reue oder aus ungestillter Sinneslust schuf, hat er nicht verraten. Jedenfalls wurde Pan der erste Panflöten-Virtuose und übertraf, wenn er abends vor seiner Höhle spielte, sogar den Gesang der Vögel.

Der Gott Hermes, bekannt als flinker Händler, Bote und Betrüger, gab die Syrinx übrigens als seine eigene Erfindung aus und verkaufte sie teuer an den Gott Apollon, den olympischen Hauptsachverständigen in Sachen Musik. Als Hermes sah, dass Musik ihren Wert hat, erfand er außerdem noch schnell die Lyra, die Tonleiter und die erste geschnitzte Holzflöte. Trotzdem erfuhr Apollon irgendwann, wer der wirkliche Urheber der Syrinx war, und forderte den ungeliebten Pan zum musikalischen Zweikampf heraus, um ihn zu demütigen. Nach dem Prinzip der Panflöte bauten die Griechen später die erste Pfeifenorgel, die Hydraulis, bei der der Luftdruck durch Wasserpumpen erzeugt wurde. Ihr verdanken wir das Wort Hydraulik.

Das populärste, aber auch umstrittenste Blasinstrument im alten Griechenland war der Aulos, eine Art Doppel-Schalmei (oft fälschlich als „Doppelflöte“ übersetzt), die mit einfachem wie doppeltem Rohrblatt angeblasen wurde. Niemand Geringeres als die Göttin Athena soll das Instrument erfunden haben: Nachdem sie dem Halbgott Perseus geholfen hatte, der Medusa das Haupt abzuschlagen, wurde sie vom Klagen der Medusenschwester Euryale so bewegt, dass sie ihre Töne musikalisch festhalten wollte. Womöglich war sie dabei vom Muschelhorn ihres Ziehvaters Triton inspiriert, der ja Sturmflut-Trompeter beim Meeresgott Poseidon war. Athena jedenfalls fabrizierte aus den Knochen eines Steinbocks den ersten Aulos und erfand darauf aus Motiven von Euryales Klagegesang den „Nomos Polykephalos“, die „vielköpfige Weise“. Der Name erklärt sich daraus, dass Medusa und ihre Schwestern Gorgonen waren, die auf dem Kopf keine Haare, sondern Schlangen trugen. Am „Nomos Polykephalos“, dieser leidenschaftlichen, heftigen Trauermelodie, bewiesen jahrhundertelang die größten Auleten improvisierend ihre Meisterschaft.

Stolz spielte Athena auf dem Aulos auf, wenn sich die olympische Götterfamilie zum Gelage zusammenfand. Den Zuhörern gefiel ihr Spiel, nur Hera und Aphrodite konnten nicht aufhören, die ganze Zeit wie blöd zu kichern. Die empfindliche, etwas unnahbare Athena stand mit diesen beiden Göttinnen – die eine ihre Tante und Stiefmutter, die andere ihre Halbschwester – von jeher im Schönheits-Wettstreit: Paris’ Urteil zugunsten von Aphrodite hatte bekanntlich den Trojanischen Krieg ausgelöst. Daher ahnte Athena Schlimmes, als ihr ein Satyr den Rat gab, sich doch mal ihr Spiegelbild zu betrachten, wenn sie den Aulos blies. Athena begab sich an ein ruhiges, spiegelndes Gewässer in Phrygien, setzte das Instrument an und erstarrte beim Blick ins Wasser: Das anstrengende Blasen entstellte gar schrecklich ihre schönen Gesichtszüge – die Wangen blähten sich, das Gesicht lief blau an! Kein Wunder, dass Aphrodite und Hera, diese blöden Ziegen, ständig gekichert hatten! Noch schlimmer, dass es den Männern in der Götterfamilie offenbar völlig egal war, wie sie aussah! Athena schleuderte den Aulos von sich und verfluchte jeden, der ihn in die Hand nehmen sollte. Noch Alkibiades, ein bekannter Politiker im 5. vorchristlichen Jahrhundert, hielt das verzerrte Gesicht der Auleten für ein triftiges Argument gegen Bläsermusik.

Ein gewisser Marsyas, der in mythischer Zeit durch Phrygien streifte, fand den von Athena weggeworfenen Aulos, hob ihn auf und wurde der erste Meister auf diesem Instrument. Marsyas war ein Anhänger der Kybele, der großen orientalischen Muttergottheit, deren Kult auf orgiastische und ekstatische Weise gefeiert wurde. Der Aulos galt daher als das typische Instrument wilder, enthemmter Rituale aus dem Osten, speziell aus Phrygien und Thrakien. Die Satyrn und Silene in Dionysos’ Schwarm (Komos) bliesen den Aulos, er wurde bei den großen dionysischen Festen gespielt, erklang zum ekstatischen Dithyrambos, dem dionysischen Chorgesang, und überall dort, wo Tanz, Gelächter und Trunk angesagt waren. Auch heilende Kräfte wurden dem Aulos zugeschrieben, besonders bei Irrsinn und Hüftweh. Die griechischen Krieger, die die Stadt Troja belagerten, hörten, so erzählt Homer, wie an den abendlichen Feuern der kleinasiatischen Stadt der Aulos und die Syrinx ertönten. Noch der Philosoph Aristoteles sah die phrygische Tonart eng mit dem Aulos verbunden: Beiden gemeinsam sei ein enthemmender und leidenschaftlicher Charakter.

Marsyas’ ausdrucksvolles Aulosspiel fand so viel Anklang, dass die Bauern in Kleinasien der Meinung waren, selbst Apollon, der Gott der Musen, könne keine schönere Musik machen. Das kam dem Meister der Lyra persönlich zu Ohren, der – empfindlich und ehrenrührig, wie die olympischen Götter nun mal waren – den armen Marsyas zum musikalischen Wettkampf herausforderte: Lyra gegen Aulos. Es wurde festgelegt, dass der Sieger mit dem Besiegten nach Belieben verfahren könne – eine ziemlich unfaire Sache, wenn man bedenkt, dass Marsyas’ Gegner ein unsterblicher Gott war. Beide Kontrahenten gaben ihr Bestes – Apollon auf der Lyra, Marsyas auf dem Aulos. Die Schiedsrichter, die neun Musen, erkannten auf ein Unentschieden. Da schlug Apollon hinterlistig vor, die Regeln zu modifizieren: Beide Wettkämpfer sollten ihr Instrument verkehrt herum spielen und dazu noch singen. Das funktioniert mit der Lyra ganz gut, aber beim Aulos natürlich überhaupt nicht. Die Musen kümmerte die Unfairness der Bedingungen nicht: Sie sprachen dem Gott Apollon, ihrem Bruder, den Preis zu. Der anwesende Phrygerkönig Midas, ein Anhänger des Kybele-Kults und Freund der Satyrn, widersprach dieser Entscheidung und bekam dafür von Apollon Eselsohren verpasst. Nach einer anderen Version kämpfte Apollon gegen Pan und der Schiedsrichter war der Flussgott Tmolos, aber das Ergebnis war dasselbe: Midas bekam für seinen Protest wiederum lange Ohren.

Entsprechend ihrer Verabredung tobte sich Apollon am unterlegenen Marsyas nach Belieben aus: Er folterte ihn, zog ihm die Haut bei lebendigem Leibe ab und nagelte sie an einen Baum. Dem Mythos zufolge entstand so die Platane. Auf diese Weise erfüllte sich Athenas Fluch. Auch Herakles soll den „dionysischen Aulos“ gehasst haben. Apollon dachte erst freundlicher über ihn, als der Aulet Sakadas im Heiligtum zu Delphi zu Apollons Ehren aufspielte. Umgekehrt lebte Marsyas im Volksglauben als Märtyrer der Freiheit weiter. Noch im 3. Jahrhundert v. Chr. soll er „seiner“ Stadt Kelainai in Phrygien zu Hilfe gekommen sein, als sie von den Galatern (Galliern) bestürmt wurde, und soll die Stadtbewohner mit seinem Aulosspiel angefeuert haben. Die ersten großen Aulosspieler der historischen Sage – Olympos, Hyagnis, Krates – leiteten sich alle von Marsyas und der Stadt Kelainai her. Nach einer anderen Sage stammt der Aulos aus der Stadt Troizen in der Argolis und wurde dort von Pittheus oder Ardalos erfunden. Dass Ardalos als Sohn des Hephaistos galt, des Gottes der Schmiede, deutet darauf hin, dass die argolischen Auloi nicht nur aus Holz, Knochen oder Schilfrohr gefertigt wurden, sondern womöglich auch aus Bronze.

© 2004, 2007 Hans-Jürgen Schaal


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