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Wo es heiß ist, muss man kühlen Kopf bewahren. Daher fand der Bebop in Südkalifornien kaum Freunde, der Cool Jazz dagegen eroberte die Herzen. Das Mulligan-Baker-Quartett, Shorty Rogers’ Giants oder Shelly Manne & His Men machten den kammermusikalisch-kühlen Westcoast-Stil berühmt. Sein Entwicklungslabor befand sich direkt an der Küste neben einem alten Leuchtturm.

Der Leuchtturm weist den Weg
The Best of the Lighthouse All-Stars
(2003)

Von Hans-Jürgen Schaal

Wir schreiben das Jahr 1948. Der 30-jährige, etwas unterbeschäftigte Kontrabassist Howard Rumsey bummelt durch Hermosa Beach, einen Ort an der Pazifikküste vor Los Angeles, nahe dem heutigen L.A. International Airport. Dort fällt dem Musiker ein Lokal namens „Lighthouse“ auf, ein Gebäude mit hübscher Mauersteinfassade und nautischem Flair und Bullaugen in den Türen. Das Lokal ist schlecht besucht und Rumsey kann nicht umhin, den Wirt John Levine zu fragen: Haben Sie hier schon mal Konzerte veranstaltet? Levine lässt sich überreden, einen Test zu machen. Rumsey trommelt eine Band zusammen: „Ich engagierte die am lautesten spielenden Musiker, die ich finden konnte. Wir sperrten die Türen zur Straße auf und schmetterten los. Die Leute tröpfelten herein. Bald war der ganze Raum voll. Es waren mehr Leute da, als Levine in den ganzen zwei Wochen davor gehabt hatte.“

Nachdem auch der Widerstand der Bürokraten von Hermosa Beach gebrochen ist, kümmert sich Howard Rumsey um das Musikprogramm. Musiker gibt es genug: Die Tonstudios der 20 Meilen entfernten Traumfabrik von Hollywood haben jede Menge guter Instrumentalisten angezogen. Und die brennen nur darauf, in ihrer Freizeit mal was anderes zu spielen, spontan und kreativ zu sein, zu improvisieren, zu experimentieren und Spaß zu haben. Bald hat Rumsey einen festen Kern von Musikern beisammen, mit denen er regelmäßig proben kann: Er nennt sie ab 1951 die Lighthouse All-Stars. Samstagabends stauen sich dann die Autos am Pier von Hermosa Beach. Auch am Sonntag lockt das Lokal mit swingender Musik von 14 Uhr bis 2 Uhr in der Nacht. Das Lighthouse macht den modernen Jazz in Kalifornien so populär, dass der Westcoast-Stil zum Begriff wird. Große Namen wie Miles Davis, Chet Baker, Charles Mingus oder Gerry Mulligan geben Gastspiele mit den All-Stars. Rumsey selbst steigt zum Manager des Clubs auf und zum Miteigentümer des Lokals. Die Adresse „30 Pier Avenue, Hermosa Beach, California“ wird zum Zentrum der modernen kalifornischen Jazzszene, zieht Fans aus der ganzen Welt an und entwickelt sich zum Touristen-Magneten.

Zur Besetzung der ersten Lighthouse All-Stars von 1951 gehörten der Trompeter Shorty Rogers, der Saxophonist Jimmy Giuffre und der Schlagzeuger Shelly Manne. Diese drei Musiker sollten sich zwei Jahre später bei Rogers’ Giants wiederfinden und einzeln oder gemeinsam bis in kontrapunktische Third-Stream-Experimente vordringen. Zu ihrer Zeit im Lighthouse waren sie noch ganz von den Orchestern von Stan Kenton und Woody Herman geprägt, dieser damals neuartigen Mischung aus Big-Band-Swing und Bebop-Ideen, innovativen Satzklängen und kühler Nonchalance. Das Album „Volume Three“ enthält vier Aufnahmen der ersten Lighthouse-Formation, darunter „Out Of Somewhere“ (über die Harmonien des Johnny-Green-Songs „Out Of Nowhere“) und „Big Girl“, eine pampige Persiflage auf den Rhythm&Blues – beide komponiert von Jimmy Giuffre. Nach dem Weggang des Triumvirats Rogers, Giuffre und Manne trat Bob Cooper, der andere Tenorsaxophonist der All-Stars, in den Mittelpunkt. Er sollte viele Jahre lang die musikalische Marschrichtung bestimmen, so auch auf den restlichen Aufnahmen von „Volume Three“ aus den Jahren 1953 und 1955. Zu den Highlights des Albums gehört „Jazz Invention“ mit dem teils ausgeschriebenen, teils improvisierten zweistimmigen Bläser-Kontrapunkt und „Witch Doctor“, dessen Dramatik Hollywoods Detektivfilmmusik der folgenden 20 Jahre vorwegnimmt – beide komponiert von Bob Cooper. Sein Arrangement von Jerome Kerns „The Song Is You“ kommt dagegen direkt aus der Kenton- und Herman-Ästhetik: Der Bläsersatz klingt wie ein harmonisierter Solist, der das Thema frei ausgestaltet. Mit den Stücken „Mexican Passport“, „Viva Zapata!“, „Mambo Los Feliz“ und „Witch Doctor“ reflektiert das Album unüberhörbar die heftige Mambo-Mode jener Jahre.

Dass die Lighthouse-Musiker bald gut im Geschäft waren, belegt das Album „Volume Six“ vom Winter 1954/55. Da schickte der Lokalsender KFOX bereits allabendlich ein DJ-Programm aus dem Lighthouse in den Äther und die Band wirkte geschlossen bei Hollywood-Produktionen mit. Auf der Platte hören wir „Who’s Sleepy“, die Erkennungsmelodie der Radiosendung, und „Mad At The World“, eine eigenwillig elegische Filmballade mit der Querflöte als Führungsstimme – beide komponiert von Bob Cooper. Auch aufstrebende Jungstars konnte sich das Ensemble mühelos angeln, so den Wundertrompeter Conte Candoli, der damals die Hörerumfragen dominierte. Er erhielt – mit gestopftem und offenem Horn – in „If I Should Lose You“ sein Solisten-Feature. Und weil es demokratisch zuging, haben auch die drei anderen Hauptdarsteller ihre Glanznummern: der Pianist Claude Williamson als Blockakkord-Schwärmer in „Isn’t It Romantic“, der Altsaxophonist Bud Shank als boppender Charlie Parker der Westküste in „East Of The Sun“ und natürlich der Tenorist Bob Cooper mit seinem (vor allem in der oberen Oktave) körperlos-mystischen Ton in der Ellington-Ballade „Prelude To A Kiss“.

„An einem kleinen Jazz-Bistro am Strand von Hermosa Beach, genannt The Lighthouse, wurden am letzten Samstagabend rund 400 Leute wieder weggeschickt.“ So beginnt der Bericht eines Reporters des Los Angeles Mirror im Herbst 1954. „Einigen Hundert anderen, die frühzeitig gekommen waren, gelang es, sich ins Innere zu quetschen. Nun ist Hermosa nicht gerade der am leichtesten zu findende Ort in der Welt, wenn man in Pasadena, im San Fernando Valley oder in Long Beach wohnt. Von dort nämlich kamen viele dieser Menschen. Noch dazu war der Nachtnebel an der Küste kürzlich noch so dick wie Spinnweben in einem Spukhaus. Was ist der Köder? Gestern Abend fand ich es heraus, als ich durch den Nebel zum Anfang des Hermosa-Piers ging. Das Lighthouse ist die Heimat einer außergewöhnlichen Jazzgruppe, bekannt als Howard Rumseys Lighthouse All-Stars. In den letzten sechs Jahren haben sie diese Lokalität zur höchsten Zitadelle des Jazz an der (kalifornischen) Südküste ausgebaut. Den meisten Jazz-Kreischern, -Heulern und -Schmetterern, deren Klänge von einem Ende von Los Angeles bis zum andern die Nächte zerreißen, ist dieses Sextett (an Wochentagen ein Quintett) einen weiten Sprung voraus.“

In der Tat: Das Kreischen und Heulen überließ man im Lighthouse den Möwen und dem Wind. Stattdessen ging es ums Ensemble-Spiel, ums Erproben von Zusammenklängen und Umsetzen von Arrangier-Ideen. Eines dieser Experimente nahm im Dezember 1953 seinen Anfang, als Bob Cooper und Bud Shank, die beiden Saxophonisten, erstmals auf ihren Zweit-Instrumenten im Duo spielten: der Oboe und der Flöte, absolut seltenen Klangfarben im Jazz. Coopers in den Balladen oft unirdischer Tenorton fand dabei seine natürliche Fortsetzung in der näselnden, unaggressiven Oboe, während Shank, der Dynamisch-Expressive, in seinen Flötensoli einen erwartungsgemäß flotten Bird-Bop tiriliert. Die ganze Platte „Oboe/Flute, Volume Four“ entstand nur mit diesen beiden Bläserfarben (alternativ: Englischhorn und Altflöte) und dem Rhythmustrio. Besonders zur Geltung kommt der fremdartig anmutende Zusammenklang in chromatisch getragenen, tranceartig orientalisierenden Melodien wie „Warm Winds“, „Still Life“, „Hermosa Summer“ oder „Waikikian“ – alle vier von Bob Cooper. „Blue Sands“, eine Komposition des Flötisten Buddy Collette, der Shank nach dessen Weggang von der Gruppe in diesen Duos ersetzte, passt wunderbar in die bizarre Stimmung. Auch die klanglich-melodisch-harmonischen Umformungen der Standards „Night In Tunisia“ und „Bags’ Groove“ sind absolut hörenswert und gehören bis heute zu den kuriosesten Versionen dieser Stücke.

Wie muss man sich das Innere des Lighthouse vorstellen, dieses Experimentallabors des Westcoast-Jazz? Auch davon kann uns der Reporter des Los Angeles Mirror einen hübschen Eindruck geben. Ihm zufolge operierten die kalifornischen Klangforscher „in einem langen, niedrigen, rechteckigen, schummrig beleuchteten Raum mit unformeller, lockerer Atmosphäre“. Auf der einen Seite hingen Fotos von Stan Kenton und anderen Künstlern, auf der anderen gab es eine grün beleuchtete Uhr und zwei rot glühende Schiffslaternen, entlang der Wände eine Serie impressionistischer Gemälde. Sie trugen Titel wie „Wie-kann-ich-dich-verstehen-wenn-du-nicht-sagst-was-ich-bereits-weiß-Blues“, „An manchen Tagen fühle ich mich angriffslustig“ oder „Wer hat die Melodie?“. Oben über einer offenen Decke waren vier riesige HiFi-Lautsprecher angebracht. Die Besucher saßen im Halbkreis an niedrigen Tischen um die kleine, hinten verspiegelte Bühne oder auf gepolsterten Hockern an der Bar, die die ganze Gegenseite des Raums einnahm. Unser Reporter schreibt: „Viele Universitäts- und Collegestudenten haben hier ihr Hauptquartier aufgeschlagen, was den ungewöhnlich hohen Prozentsatz an tollen, gut aussehenden Mädchen erklären mag. Das Durchschnittsalter ist Mitte 20.“

Aber die Konkurrenz wuchs: Jazz war populär und das Lighthouse auf Dauer doch ein wenig weit weg von der Central Avenue und dem Wilshire Boulevard. Außerdem erwartete das Publikum große Solo-Statements und heiße Schlachten – ein Trend, der der Lighthouse-Philosophie nicht so ganz entsprach. Dass die Betreiber etwas zu kämpfen hatten, verrät der Plattentitel „Music For Lighthousekeeping“; dass sie höchste professionelle Maßstäbe anlegten, verrät die Musik darauf. Bill Holman, einer der besten Stan-Kenton-Arrangeure, lieferte dem kompakten Sextett von 1956 gleich drei knackige Eigen-Kompositionen: zwei Mambos und ein Feature für den Drummer Stan Levey. Den anderen Schwerpunkt bilden zwei Stücke aus dem Basie-Repertoire: Für den „Taxi War Dance“ hat man sogar Lester Youngs berühmtes Solo fürs Ensemble transkribiert und arrangiert. Der neue Pianist der All-Stars, der damals 25-jährige Sonny Clark, glänzt mit einem eigenen Blues und seinem perlend leichten Spiel, einer perfekten Ergänzung zum positiven Swing des Ensembles. Ein Juwel ist Coopers „Octavia“, diese exquisite Balladen-Melodie aus ganz großen und ganz kleinen Tonschritten, vom Flüstersax des Komponisten mit mysteriöser Traurigkeit vorgetragen.

Zwar gingen die All-Stars nie auf Tournee, aber sie hatten doch ein paar Auswärtsspiele im Ballungsraum Los Angeles – zum Beispiel 1955 vor 1200 Menschen in Laguna Beach oder auch 1957 an der UCLA. Passend zum Namen der Uni-Konzerthalle – Josiah Royce – fuhr das Sextett 1957 im Luxus-Vehikel vor, nämlich aufgepolstert zur Big Band mit vier zusätzlichen Trompeten, vier zusätzlichen Posaunen und Tuba und Perkussion. Bob Cooper, der später noch ein ernsthafter Third-Stream-Komponist werden sollte, schrieb die ganze Musik. Sein „Prelude To The Queen“ ist ein pastellenes Klanggemälde mit kunstvoll verwobenen einzelnen Bläserstimmen, „Bruinville My Bruinville“ ein Blues, bei dem Trompetensatz und Posaunensatz unabhängige Themen zu spielen scheinen, und „Mambo Del Quad-O“ überrascht mit einer längeren kollektiven Trommeleinlage. Den größten Aufwand betrieb Cooper aber für das Arrangement des Eingangsstücks, Gershwins „Strike Up The Band“: Gegenläufige Marschfanfaren münden in schnellen Swing, eine eigenständige Variation des Themas erklingt dann in langsamem Tempo, und während des Vibraphon-Solos von Victor Feldman beschleunigt die Band wieder. Auch wenn die Satzbläser bei dieser Konzert-Mono-Aufnahme manchmal ein wenig abtauchen, kann „Jazz Rolls Royce“ mit den fortgeschrittensten orchestralen Sounds jener Zeit konkurrieren, mit Stan Kenton und Gil Evans. Howard Rumsey, der Welt unauffälligster Bassist, sah das Projekt als Kulminationspunkt der Lighthouse-Geschichte.

© 2003, 2007 Hans-Jürgen Schaal


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