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Was sind Jazz-Standards?

Von Hans-Jürgen Schaal

"Standards": So nennt man die bekanntesten und meistgespielten Stücke des Jazz, das Basis-Repertoire aller Jazzmusiker.

Zu den ältesten dieser "klassischen" Jazz-Melodien gehören afroamerikanische Kirchenlieder wie "When The Saints Go Marching In", Ragtime-Stücke wie der "Maple Leaf Rag", Kompositionen des klassischen Blues wie der "St. Louis Blues" oder die Erfindungen der ersten Jazzbands von New Orleans und Chicago wie "Tiger Rag" und "Beale Street Blues".

Die meisten Jazz-Standards entstammen jedoch den Broadway-Musicals der 1920er bis 1940er Jahre: Die Bühnen-Songs von George Gershwin, Richard Rodgers, Cole Porter, Harold Arlen, Irving Berlin und anderen waren damals die Schlager der Saison und wurden von improvisierenden Jazz-Musikern gerne als Ausgangs-Material verwendet. Auch die Filmproduktionen Hollywoods brachten immer wieder populäre Songs hervor, die ins Jazz-Repertoire Eingang fanden.

In jeder Epoche der Jazzgeschichte schrieben außerdem die Musiker selbst zahlreiche Stücke, die die Jahrzehnte überdauerten und in Hunderten von Aufnahmen verwendet wurden – etwa Duke Ellingtons "Sophisticated Lady", Charlie Parkers "Billie's Bounce", Thelonious Monks "Round Midnight", John Coltranes "Naima" oder Miles Davis' "All Blues".

Im Jazz kann ein Stück viele Gestalten haben. Es kann schnell oder langsam gespielt werden, mit halbierter oder verdoppelter Taktzahl, mit schlichter oder komplexer Harmonik, karg oder üppig arrangiert, melodisch gerundet oder nervös zerrissen, als Klaviertrio oder Big-Band-Nummer, als Dixieland oder Free Jazz – und überhaupt in einer unbegrenzt großen Variationsbreite von persönlichen Stilistiken.

Jeder Standard hat sein eigenes Spektrum an Spielweisen hervorgebracht und jeder hat seine eigenen Traditionen der Interpretation. Die Jazz-Standards sind daher auch für die meisten jungen Jazzmusiker der Einstieg in diese Musik: An beispielhaften Einspielungen schulen sie ihren Stil, an den oft benutzten Akkordfolgen erlernen sie das Improvisieren.

Manchmal machen sich diese Akkordfolgen aber auch selbstständig und bringen neue Themen hervor. Oder die alten Themen suchen sich neue Harmonien. Und immer wieder schaffen bedeutende Musiker Dokumente ihres Könnens, indem sie einem dieser großen Songs ihren eigenen Stempel aufdrücken und einen ganz neuen Charakter verleihen.

Jazz-Standards sind nicht vergleichbar mit den Sinfonien und Sonaten der klassischen Musik, denn im Jazz spielt sich das Wesentliche jenseits der notierten Komposition ab: in der Improvisation, im Arrangement, in der Stilistik. Aber gerade deshalb ist es wertvoll, die Schicksale von Jazz-Standards zu verfolgen. Sie sind das Material, an dem sich Jazz-Geschichte vollzieht. In der Entstehung, Ausformung, Interpretation und Verwandlung von Standards spiegeln sich die stilistischen Entwicklungen im Jazz über Jahrzehnte hinweg.

Wie ein solches Stück geboren wird, wie es ins Jazz-Repertoire gerät, welche Metamorphosen es hier im Lauf der Jahrzehnte erfährt, wie dabei ein immer größeres Reservoir an Ausdrucksformen entsteht, aus dem spätere Musiker schöpfen, anknüpfend und weiter entwickelnd, übertrumpfend und verfremdend: Das sind faszinierende Geschichten.

Und sie sind keineswegs zu Ende erzählt: Auch heute erscheint kaum eine Jazz-CD ohne Standard-Stücke darauf. Auch heute bemühen sich junge Musiker ständig um Neudeutungen der alten Melodien. Und auch heute noch entstehen Jazz-Standards – die Jazz-Standards von morgen.

© 2001, 2007 Hans-Jürgen Schaal


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