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Marcel Mule und Sigurd Rascher: Die Konkurrenz zwischen diesen beiden großen Saxofonisten brachte in den 1930er-Jahren das klassische Saxofonkonzert zur Blüte. War Pierre Vellones’ Opus 65 (für Mule) die Premiere der Gattung oder doch Edmund von Borcks Opus 6 (für Rascher)? Hier Mules französischer Esprit mit kontrolliertem Vibrato, dort Raschers deutsch-skandinavische Präzision mit Höhenakrobatik... Über die richtige Interpretation der Konzerte von Glasunow und Ibert wurden sich die beiden nie einig. Milhaud vs. Larsson, Tomasi vs. Martin: Das ist klassische Saxofon-Philosophie in nuce.

Mit Gassenhauer-Charme
(2005)

Die schönsten Saxofonkonzerte der 1930er-Jahre:
Glasunow, Larsson, Ibert, Milhaud, Tomasi, Martin

Von Hans-Jürgen Schaal

1.
Alexander Glasunow
Konzert in Es für Altsaxofon und Streichorchester, op. 109
1934, 14 min., UA: Rascher, Nyköping (Schweden) 1934

Alexander Glasunow (1856-1936) galt als der letzte Vertreter der russischen Schule (Borodin, Mussorgsky, Rimski-Korsakow). Mit über 70 Jahren emigrierte der ehemalige Direktor des St. Petersburger Konservatoriums nach Paris, wo er 1932 für Marcel Mule ein Saxofonquartett schrieb. Im Folgejahr wurde er von Sigurd Rascher besucht, der ihn für die Idee eines Konzerts begeisterte. Das Konzert in Es wurde Glasunows Vermächtnis.

Noch einmal schäumt das 19. Jahrhundert auf: Von den virtuosen Kapriolen des Jazz noch keine Spur. Stattdessen ließ sich Glasunow von der Filmmusik von Thomas de Hartmann und von russischen Volkstönen inspirieren. In dem einsätzigen, immer wieder das Tempo wechselnden Werk verstecken sich verschränkte Satz- und Themenbezüge. Kenner fühlen sich an Glasunows Violinkonzert erinnert: Das Saxofon spielt im Konzert der Streicher hier die „Supergeige“ – mal schwermütig, mal strahlend, aber immer mit Würde. Die etüdenartige Solokadenz wurde auf Drängen von Sigurd Rascher vom Komponisten erweitert. Eine Art Fugato-Einstieg bringt das Orchester zurück. Ein spätromantisches, schwärmerisches Werk.

2.
Lars-Erik Larsson
Konzert für Altsaxofon und Streichorchester, op. 14
1934, 20 min., UA: Rascher, Norrköping (Schweden) 1934

Lars-Erik Larsson (1908-1986) gehörte in jungen Jahren zu den Avantgardisten in Schweden. Er studierte u.a. bei Alban Berg und zeigte sich offen für Ideen seriellen und polytonalen Komponierens. Als Professor für Komposition in Stockholm bezog er nach dem Krieg konservativere Positionen. Das Saxofonkonzert des jungen Larsson ist Sigurd Rascher gewidmet, der 1934 – nach seiner Emigration aus Deutschland – Saxofonprofessor in Malmö wurde.

Hier bricht sich die Welt des 20. Jahrhunderts Bahn: Larssons Konzert spricht eine eindeutig moderne Sprache. Gleichzeitig werden die technischen Anregungen Raschers gezielt aufgegriffen: enorme Höhenlagen, extreme Registerwechsel, zwei hochvirtuose Solokadenzen, dazu Rhythmen und Spieltechniken des Jazz. Der erste Satz, Allegro molto moderato, schafft eine modernistische, teils swingende Grundstimmung. Der zweite Satz, Adagio, ist der Schlüssel zum harmonischen Bau des Ganzen und führt in schreitendem Tempo eine gewaltige dynamische Steigerung herbei. Im dritten Satz, Allegro scherzando, gewinnt das Saxofon mit seinen extrem schnellen Läufen einen fast barocken Solistenglanz. Verblüffende, freche Musik mit „unwiderstehlichem Zauber“ (John-Edward Kelly).

3.
Jacques Ibert
Concertino da camera für Altsaxofon und 11 Instrumente
1935, 13 min., UA: Rascher, Winterthur (Schweiz), 1935

Jacques Ibert (1890-1962) befand sich 1935 auf dem Höhepunkt seines Erfolgs. Ein Jahr später wurde er nach Rom berufen, wo er rund 20 Jahre lang die Académie Française leitete. Die Sängerin Marya Freund machte Rascher in Paris mit dem populären Komponisten bekannt. Auf Wunsch von Rascher und gegen den Rat von Mule notierte Ibert im Concertino zahlreiche extreme Altissimo-Töne, versah sie dafür aber mit dem Zusatz „ad libitum“.

Willkommen im französischen Impressionismus! Mit Esprit und Kunstverstand tänzelt dieses Concertino durch prickelnde Chromatik und feurige Synkopen, durch Anklänge von Ravel und Jazz. Der erste Satz, Allegro con moto, schlägt den Bogen von dramatischer Härte zu träumerischer Melodik. Im zweiten Satz, Larghetto, entwickelt das Saxofon zunächst solo eine berückende chromatische Melodie. Der direkt anschließende dritte Satz, Animato molto, behält trotz aller Virtuosität seinen französischen Charme. Raffinierte Klangzauber – gestopfte Trompete, Klarinette, E-Horn – ziehen sich durchs ganze Werk. Das Concertino konkurriert mit Iberts erfolgreichem Flötenkonzert von 1934 und war ihm die liebste seiner Kompositionen. Ein Feuerwerk der Farben und Emotionen.

4.
Darius Mlhaud
Scaramouche
1937, 9 min., UA: Mule, Paris, ca. 1937

Darius Milhaud (1892-1974) war um 1930 Frankreichs führender Komponist und ein früher Vertreter der „Weltmusik“. Er zeigte sich stets offen für exotische Rhythmik, Melodik und Polytonalität und adaptierte musikalische Ideen aus Afrika, Brasilien und dem Jazz. Das Saxofon setzte er bereits 1923 in „La Création du Monde“ ein. 1940 begann er in Kalifornien zu unterrichten, wo der spätere Jazzpianist Dave Brubeck sein erfolgreichster Student wurde.

„Scaramouche“ versammelt eingängige Melodien, die Milhaud ursprünglich für Bühnenmusiken geschrieben hat, u.a. fürs Pariser Théâtre Scaramouche – daher der Name der Suite. Neben der Version für Altsaxofon und Orchester legte der Komponist mindestens drei weitere Instrumentierungen vor. Die Dreisätzigkeit (schnell-langsam-schnell) verleiht seiner Suite eindeutig den Charakter eines kleinen Virtuosen-Konzerts. Der erste Satz, Vif, kommt mit tänzerischem Elan daher und erinnert im Mittelteil an einen russischen Tanz von Strawinsky. Der zweite Satz, Modéré, gibt sich sanft-romantisch, irgendwo zwischen Mahler und Blues. Der dritte Satz, Brazileira, ist von Samba-Rhythmen angeregt und verwendet viel Perkussion. Elegante Spielmusik mit Gassenhauer-Charme.

5.
Henri Tomasi
Ballade für Altsaxofon und Orchester
1938, 14 min., UA: Mule, 1939 (?)

Henri Tomasi (1901-1971) studierte bei Vidal und d’Indy und erhielt mit 26 Jahren den Prix de Rome. In seiner Instrumentierungskunst zeigt sich ein starker Einfluss Ravels. Von 1946 bis 1950 leitete Tomasi die Oper von Monte Carlo. Als guter Freund von Marcel Mule schrieb er für den Saxofonisten nach der Ballade noch ein zweites Konzertstück, das Concerto (1949). Für seine US-Tournee 1958 wählte Mule als Glanzstücke Tomasis Ballade und das Concertino von Ibert.

Hinter dem wechselvollen einsätzigen Werk steckt ein poetisches Programm, inspiriert von einem Gedicht von Tomasis Frau. Es handelt von einem Clown, der Geschichten erzählt und dabei zwischen Lachen und Verzweiflung schwankt. Entsprechend vielgestaltig entwickelt sich die Saxofonballade: mal weiträumig-lyrisch (Andantino), mal fröhlich-grotesk (Gigue), mal melancholisch-weinerlich (Blues). Das temperamentvolle, südländische Auf-und-ab schließt feierliche Melodien, tänzerische Märsche und eine Solokadenz mit ein. Ständig wechseln die Tempi und Stimmungen, aber jede Episode besitzt ihren melodischen und spieltechnischen Reiz. Großes, emotionales Musik-Kino.

6.
Frank Martin
Ballade für Altsaxofon und Orchester
1938, 15 min., UA: Rascher, 1939 (?)

Frank Martin (1890-1974) zählt zu den wichtigsten Komponisten der Schweiz. Er gründete die Gesellschaft für Kammermusik in Genf und lehrte an Hochschulen in Genf und Köln. Auf ganz eigene Weise verband er in seiner Musik Einflüsse von César Franck, Impressionismus und Zwölftontechnik. Zwei Jahre nach der Ballade für Altsaxofon komponierte er eine zweite, kürzere Ballade für Tenorsaxofon (oder Posaune) und Orchester.

Martins Ballade wirkt wie ein Gegenentwurf zu Tomasi: beinahe kammermusikalisch streng, klar strukturiert und von einem schweren, teils düsteren Ernst getragen. Um die sangliche, ausdrucksvolle Stimme des Saxofons zu betonen, hat der Komponist auf andere Bläser verzichtet und dafür dem Klavier und der Perkussion größeren Raum gegeben. Emotional packende, zuweilen dissonant pochende Steigerungen verleihen der Musik ihre dramatische Härte. Die hohen Lagen in der Solokadenz verraten wieder den direkten Einfluss Raschers. Eine ergreifende, ein wenig beängstigende musikalische Vision, die wohl nicht zufällig am Vorabend des Zweiten Weltkriegs entstand.

© 2005, 2008 Hans-Jürgen Schaal


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