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„Ein Bulgarendorf oder Selo liegt sehr oft von der Landstraße entfernt und folglich unsichtbar für die Mehrzahl der Reisenden.“ So liest man in Karl Mays „In den Schluchten des Balkan“, Band 4 seiner Gesammelten Werke. Seitdem sind 120 Jahre vergangen: Längst wurde aus dem unsichtbaren Bulgarendorf ein gut hörbarer Teil des Global Village. Der beste Bulgaren-Jazz kommt heute aus New York.

Aus den Schluchten des Balkan
Der Jazz entdeckt Südost-Europa
(2005)

Von Hans-Jürgen Schaal

Heiße Bläserfronten, ekstatische Rhythmen, heulende Klarinettensoli, melancholische Blue Notes, treibende Trommeln, virtuose Trompeten... Spätestens seitdem Markovic, Bregovic & Co. von Festival zu Festival hüpfen, weiß man auch bei uns, dass auf dem Balkan die Post abgeht. Ob Gypsy-Brass-Bands, Klezmer-Kapellen mit ihren frenetischen Bulgars oder die virtuose Hochzeitsmusik von Ivo Papasov: Auch dort, wo nicht „Jazz“ drauf steht, steckt oft eine Menge Jazz drin. Kein Wunder, dass man in der Ukraine behauptet, die Geburtsstadt des Jazz sei – Odessa! In der Tat hätte sich der Jazz auch auf Balkan-Basis entwickeln können – mit glühenden Improvisationen, verwirrenden Taktarten, wilden Tanzrhythmen und todtraurigen Balladen. Viele großartige Musiker haben dafür Beispiele geliefert – darunter der Pianist Milcho Leviev, der Saxophonist Nicolas Simion, der Vibraphonist Bosko Petrovic, der Kaval-Bläser Teodossy Spassov, der Bassist Nenad Vasilic...

Wer als Erster die Idee hatte, Jazz und Balkanmusik dauerhaft zu verheiraten, lässt sich wohl nicht mehr feststellen. Deshalb erkläre ich jetzt einfach den Trompeter Dusko Goykovich zum Vater des Balkan-Jazz. Geboren 1931 in Bosnien, der Vater Montenegriner, die Mutter Serbin, wurde Dusko früh vom amerikanischen Jazz gepackt und spielte mit 18 schon in der Radio-Bigband von Belgrad. Er durchlief die Orchester der internationalen Jazzwelt – Frankfurt All-Stars, European All-Stars, Kurt Edelhagen, Maynard Ferguson, Woody Herman, Kenny Clarke-Francy Boland –, ehe er sich auf einem neuen Level zu seinen balkanischen Wurzeln bekannte. „Swinging Macedonia“, eine Ko-Produktion der Plattenfirma Philips und des Trend-Magazins „Twen“, bezeichnete 1966 die Geburtsstunde des Balkan-Jazz. Mazedonische, serbische, bosnische, aber auch türkische und afrikanische Elemente sind hier in die Jazzsprache der 60er-Jahre eingeflossen. Die drei Bläser – Dusko Goykovich, Nathan Davis, Eddie Busnello – bilden ein einzigartiges Gemisch aus Coltrane’scher Intensität, Bigband-Satz und mazedonischer Hochzeitskapelle. In „Macedonia“ und „The Nights Of Skopje“ improvisieren sie so elegant und so expressiv, als hätten Jazzbläser schon immer im 5/4-Takt gespielt. Mit „Old Fisherman’s Daughter“ und „Bem-Basha“ verzaubert Dusko die Balkan-Melancholie sogar zu bleibenden Jazzballaden. Dass die Rhythmen und Skalen Südost-Europas als internationale Jazzsprache taugen, beweisen auch die Beiträge des beteiligten afroamerikanischen Pianisten Mal Waldron: Sein kleines Thema „Macedonian Fertility Dance“ könnte ohne weiteres irgendwo zwischen Skopje und Saloniki erklingen. Wie die mazedonischen Bauern wohl die afrikanisierten Trommeln und den Freejazz-Ausbruch im Mittelteil fänden?

Im Jahr, als „Swinging Macedonia“ entstand, kam Lala Kovacev gerade nach Deutschland. Auch er hatte im Belgrader Rundfunkorchester frühe Jazz-Erfahrungen gesammelt und sollte nun im Westen einige Zeit bei Horst Jankowski und Max Greger trommeln. Kovacev wurde in den 70er- und 80er-Jahren zu einem der führenden Jazz-Schlagzeuger Europas und Ko-Leader der Band „Jazz Consensus“. Seine Platte „Balkan Impressions“ entstand 1982 in einem Belgrader Rundfunkstudio. Dorthin hatte Kovacev zwei Kollegen aus München eingeladen: den Saxophonisten Günther Klatt (damals ein Shooting Star der deutschen Szene) und dessen Pianisten Paul Grabowsky. Für die besondere Balkan-Authentizität sorgen – neben Bandleader Kovacev – vier talentierte Herren aus der Region namens Draskoci, Mikovic, Dimitrijevic und Jelic. Ljubomir Dimitrijevic, der als Spezialist für Alte Musik bekannt werden sollte, bringt hier sogar einheimische Klangfarben zu Gehör: die mazedonische Zurla (eine Art Hirtenoboe) und zwei verschiedene ethnische Flöten. Souverän demonstriert er, dass Jazz auch auf traditionellen Balkan-Instrumenten funktioniert hätte. Umgekehrt wäre Günther Klatts kreischendes Sopransaxophon in einer serbischen Tanzkapelle auch nicht ganz fehl am Platz gewesen. Denn improvisieren kann man ja schließlich nicht nur in vier Vierteln, sondern auch in fünf oder viereinhalb, wie die Band in Kovacevs „Walk Dance“ und „Wedding Dance“ beweist. (Die viereinhalb Viertel entsprechen einem türkischen Aksak-Rhythmus oder 2+2+2+3 Achteln.) Wetten, dass ein früher New-Orleans-Fetzer wie „Muskrat Ramble“ auch in 9/8 funktioniert hätte?

Wir springen in die 90er-Jahre. Bojan Zulfikarpasic heißt der in Belgrad geborene Pianist, der seit 1988 in Frankreich Karriere macht. Aus Mitleid mit seinen Mitmenschen vereinfachte er anfangs noch seinen Namen zu Bojan Z.: Das verriet schon etwas von der unbekümmerten Frechheit, mit der er in die Trickkiste seiner balkanischen Heimat hineingriff. „Koreni“ (Wurzeln) von 1998 ist sein bisher aufwändigstes Album – mit wechselnden Besetzungen vom Duett bis zum Oktett, mit bis zu zwei Saxophonisten, zwei Kontrabassisten, zwei Trommlern und dem Gitarristen Vlatko Stefanovski, der auf seinem Instrument die arabische Oud imitiert. Zulfikarpasic baut sich hier einen bunten Tummelplatz, um mit den Versatzstücken des Balkan-Erbes respektlos zu jonglieren, dynamische Steigerungen ironisch abzubrechen oder sich über dramatische Wirkungen lustig zu machen. Nicht umsonst heißt eines der Stücke „The Joker“. Auffälligster Solist auf dem Album ist Kudsi Erguner, der türkische Ney-Virtuose: ein weiterer Hinweis darauf, dass Zulfikarpasics musikalische Welt nicht in Istanbul aufhört – und auch nicht in Bagdad (um den Reiseweg von Karl Mays Heldenfigur mal zurückzuverfolgen). Auf der anderen Seite gelingt es dem Pianisten aus Belgrad mühelos, Balkan-Melodik auch in klassizistisches Klavierspiel oder gar ins heiligste Jazzformat, das Klaviertrio, zu übersetzen. „Gradino Kolo“, ein Duett mit seinem langjährigen Saxophonisten Julien Lourau, kommt gar als eine Art serbische Kammermusik daher. Balkan goes everywhere.

Längst ist der Balkan auch im Heimatland des Jazz angekommen. Kein Wunder, sind doch alle Immigranten-Gemeinden in Amerika – die Griechen von Chicago, die Deutschstämmigen von Milwaukee, die Armenier von Philadelphia – auf ihre Alte-Welt-Traditionen stolz. Schon 1986 stellte der Saxophonist Matt Darriau seine Bigband-Komposition „Balkan Bounce“ vor, angeregt von bulgarischer Volksmusik; später wurde er bekannt als Mitglied der Jazz-Klezmer-Band The Klezmatics. Seine eigene Band gründete Darriau 1991: das vierköpfige Paradox Trio. Begleitet von Gitarre, Cello und Handtrommeln, spielt er hier die Glanzrolle des zentralen, überragenden, ekstatischen, virtuosen, ungebändigten Bläser-Solisten – eine Mischung aus Ivo Papasov und Giora Feidman. Darriau bläst nicht nur in Saxophone und Klarinetten, sondern auch in eine Reihe von Volksinstrumenten – Schalmeien, Flöten, Dudelsäcke – und wahrscheinlich in alles, was sonst noch Töne von sich gibt. „Flying At A Slant“ hieß das zweite Album des Paradox Trios (1997): Auf ihm verbindet sich die balkanische Tempo-Raserei mit der dramaturgischen Logik eines Jazz-Solisten von der Ostküste. Darriaus wichtigster Komplize beim Paradox Trio ist der Gitarrist Brad Shepik, der allerlei schräge Metren und exotische Saitenklänge beiträgt, aber auch spannende Soli auf der E-Gitarre. Bei so viel differenzierter Dynamik und Klanggebung passt sogar ein Stück von Bartók ins Programm: Schließlich war auch der Ungar schon von den ungeraden bulgarischen Rhythmen fasziniert. Zu Recht.

Darriaus Gitarrist Brad Shepik ist so etwas wie die Schlüsselfigur im aktuellen amerikanischen Balkan-Jazz: Immer wenn Südost-Europa mitschwingt, hat er seine Finger mit im Spiel. Einen ganz eigenen Weg geht Shepik mit dem Quartett Pachora: Auch diese Band ist von bulgarischen Rhythmen und Melodien inspiriert, setzt aber weniger auf virtuoses Feuerwerk als auf subtile Verfremdungen. Im Mittelpunkt steht Klarinettist Chris Speed, ein eher introvertierter Improvisator, der seine Soli gerne großräumig und bedächtig entwickelt. Die Tempo-Orgien bulgarischer Hochzeitstänze stehen dabei nur noch als historische Inspiration am Klanghorizont. Auf ihrem vierten Album, „Astereotypical“ (2003), verquicken die vier von Pachora die Balkan-Rhythmen mit skurril-individuellen Ideen, die mal an Avantgarde-Pop und mal an Minimal Music erinnern. Das Stück „Bushka Lounge“ schwillt an wie ein dramatischer Soundtrack, kippt dann aber um in eine Melodie, die geradewegs der griechischen Hitparade entflohen scheint. „Klink“ erforscht eigensinnig die Grenzen zur strukturellen Auflösung, „Snap“ wirkt wie ein Perpetuum Mobile von ziellosen Linien, „Push“ besitzt schon beinahe Punk-Qualitäten. Pachora entführt den Hörer in eine kaleidoskopische Welt, in der sich Balkan-inspirierte Melodien in bunten Mustern auflösen und der Viervierteltakt zu einem fremdartigen Erlebnis werden kann. Karl Mays bulgarisches Dorf von 1884 ist längst in Hunderte von Pixels zersprungen und wandert als digitaler Datenstrom rund um die Welt. Natürlich im 11/8-Takt.

© 2005, 2008 Hans-Jürgen Schaal


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