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Der zierliche Mann mit dem schüchternen Blick, dem Schuljungenlächeln und der Rockertolle ist der Drummer erster Wahl, wo Groove und Abenteuerlust keine Gegensätze sein sollen. Jim Black trommelt für Tim Berne, Carlos Bica, Uri Caine, Dave Douglas, Ellery Eskelin, Satoko Fujii, Cuong Vu… Rund 50 Platten waren es in den letzten Jahren. Und obwohl Black darauf „nur“ der Schlagzeuger ist, hat er ihnen allen seinen Stempel aufgedrückt.

Jim Black
Akzente in der Zeit
(2003)

Von Hans-Jürgen Schaal

So essentiell ist Jim Blacks Beitrag zur progressiven Jazzfraktion, dass ihn ein Kritiker jüngst zu denen rechnete, „die scheinbar schon immer dagewesen sind“. Dies über einen Mittdreißiger, der gerade mal vor einem Jahrzehnt anfing, die New Yorker Szene auf Trab zu bringen. Damals schien Jim Black der Erste zu sein seit Marvin „Smitty“ Smith, der mit persönlicher Klanggebung kreativ wurde: kurzer Beckensound, hoch gestimmte Tom-Toms, die volle, ungedämpfte Basstrommel. Wichtiger noch: wie sich Black ins Spiel bringt, wie er die Musik vom Drumset aus modelliert und sie selbst in den Out-of-tempo-Passagen zu rocken scheint. Sein Groove ist einer der heftigsten, aber völlig unkonventionell: Keine zwei Takte schlägt er gleich, ständig improvisiert er die Akzente. Nein, das ist kein Sideman-Job.

Nachdem Jim Black jahrelang auf den Bühnen höchst präsent war und dabei immer ein wenig wie der nette, kleine Bruder des Bandleaders wirkte, warteten viele gespannt auf seine erste eigene Platte. Nur: Was für eine Art von künstlerischem Statement erhoffte man sich eigentlich von Jim Black, dem Schlagzeug-Tausendsassa? Welche Art von Musik traute man ihm als Bandleader zu? Eines steht fest: Mit seinem Quartett AlasNoAxis hat Black alle überrascht – und damit wieder einmal seine Sonderklasse bestätigt. „Die Idee war, etwas Eigenes zu machen: Musik, die ich selbst gerne hören würde“, formuliert Black vorsichtig. „Der Fokus sollte auf Songs und Texturen liegen – zwei Extremen. Das sollte AlasNoAxis bedeuten: Sorry, es gibt keine Mitte. Aber im Grunde ist der Bandname nur ein Spaß. Die Mitte ist der Sound der Band.“

AlasNoAxis schlägt eine Brücke zwischen Free Jazz und Garagenrock, zwischen Knitting Factory und Seattle-Faktor. Rock-Kritiker vergleichen die Band mit King Crimson, Jazzkritiker mit Naked City. Vor allem die Debüt-CD verblüffte durch provozierende Brüche, aggressive Sounds, flirrende Klangstrukturen: Black sieht sie heute als eine Art „Entgiftung“, ein notwendiges persönliches Statement. Die Melodien entsprangen allein seinem Kopf, und es ist seine ureigene Schlagzeugkunst, die die Pole zusammenbindet und die Übergänge plausibel macht. „Ich erarbeite die ganze Musik auf der Gitarre, obwohl ich gar nicht Gitarre spielen kann. Ich schreibe es nach Gehör auf und singe es für die Jungs. Die Band bringt eine Menge ein, schlägt Begleitlinien vor, die wir dann ausprobieren. Wir arbeiten eigentlich wie eine Rockband.“ Da ist es wichtig, dass sich Black mit seinen Nebenleuten blind versteht: „In dieser Besetzung spielten wir schon vor zehn Jahren in Island zusammen. Damals klangen wir wie eine gute Paul-Motian-Imitation.“

Drei Viertel von Blacks Quartett finden sich in der Band Pachora wieder, die mit „Astereotypical“ (Winter & Winter/edel Contraire) gerade ihre vierte CD veröffentlicht hat. Mit dem stillen Chris Speed, einem virtuosen Klarinettisten und sanften Tenorspieler, arbeitet Black sogar in insgesamt vier verschiedenen Ensembles zusammen, darunter Speeds eigener Formation Yeah No. Nur der Gitarrist von Pachora ist ein anderer, Brad Shepik: Mit ihm und Speed hat Jim Black schon als 14-Jähriger in Seattle Big-Band-Musik gemacht. Pachora entstand rund ein Jahrzehnt später, als Speed die bulgarische Musik entdeckte und seinen Freunden Platten vorspielte. „Wow, das ist wie Jazz!“, so Blacks erste Reaktion damals. „Das erinnerte an das, was wir selber machten, aber die Rhythmen klangen alle verkehrt, ich begriff die Melodien nicht, den harmonischen Fortgang, aber sie spielten Head, großes Solo, Head. Es war sehr vertraut und doch sehr fremd.“

Angetörnt vom Sound der bulgarischen Tänze und Balladen, begannen Speed, Shepik und Black über diese Rhythmen und Tonalitäten zu jammen. „Wir bemühten uns um ein tieferes Verständnis der Musik: des Rhythmus, des Feelings, der Vibes. Und statt die bulgarischen Standards schlecht und recht nachzuspielen, begannen wir dann, unsere eigene Musik nach diesen Prinzipien zu schreiben.“ Pachora ist bis heute eine kollektive Angelegenheit geblieben, auch wenn Chris Speed als Klarinettist am fleißigsten dafür komponiert. Und noch immer sind die im ersten Stadium gemachten „Forschungs-Tapes“ die Inspirationsquelle: Man kehrt zur bulgarischen Hochzeitsmusik zurück, dann baut man Abstand dazu auf, dann entwickelt man eigene Ideen, die oft mehr mit Jazz oder Rock zu tun haben, aber einer kargen Strenge verpflichtet sind. Das Bandkonzept wächst. Vom Balkan nach Wer-weiß-wo.

Hört man Pachoras Musik über längere Zeit, empfindet man irgendwann den Viervierteltakt als Fremdsprache. Jim Black hält gerne Workshops über diese ungeraden Metren: „Steve Coleman und diese Leute haben es geschafft, dass wir solche Metren als eingängig wahrnehmen. Diese bulgarischen Rhythmen haben enorm viel Groove und Bewegung. Eine andere Art, die Zeit zu empfinden. Die Zählzeit ist immer noch ‚odd’ (ungerade), aber das Feeling ist nicht mehr sehr ‚odd’ (seltsam).“ Zum Abschied hält er mir kraftlos die linke Hand hin. Beim Gepäcktragen hat er sich den rechten Arm gezerrt und will ihn keinem Händedruck aussetzen. „Aber Schlagzeug spielen kann ich noch“, sagt er und setzt sein Kinderlächeln auf. Dann ist ja alles gut.

Auswahldiskografie (bis 2003):

Mit AlasNoAxis: AlasNoAxis (2000), Splay (2002)
Mit Pachora: Pachora (1997), Unn (1998), Ast (1999), Astereotypical (2003)
Mit Ellery Eskelin und Andrea Parkins: One Great Day (1997), Kulak, 29 & 30 (1998), Five Other Pieces (+2) (1999), Ramifications (2000), The Secret Museum (2000), 12 (+1) Imaginary Views (2002)

© 2003, 2008 Hans-Jürgen Schaal


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