Jede lebendige Tradition zehrt von ihren Mythen, Gerüchten und unbewiesenen Legenden. Auch im Jazz schwärmt man gerne von dem genialen Musiker, der nie ein Tonstudio betrat, von dem überragenden Konzert, das nicht aufgezeichnet wurde, von der Studiosession, die unveröffentlicht blieb. Manchmal aber werden Mythen und Träume, die halb vergessen sind und an die keiner mehr glaubt, doch noch wahr.
Dornröschen, endlich wachgeküsst
Von legendären Schätzen und ihrer Entdeckung
(2005)
Von Hans-Jürgen Schaal
Im Herbst 1994 erschien die erste deutschsprachige Biographie über den Tenorsaxophonisten Stan Getz (1927-1991). Darin wird sein Quartett mit dem Vibraphonisten Gary Burton, das von 1962 bis 1964 bestand, als die interessanteste Getz-Band überhaupt bezeichnet. Der Saxophonist selbst nannte sie „das beste Quartett der Welt“. Umso bedauerlicher fand es der Biograph, dass diese Formation nie eine Studio-Aufnahme veröffentlicht hat. Doch das Buch war kaum auf dem Markt, da war es schon überholt: Noch im gleichen Jahr 1994 erschien die CD „Nobody Else But Me“, eine vollwertige Session des Quartetts, aufgenommen im März 1964 im Van Gelder Studio und damals unveröffentlicht geblieben. Der Grund: Getz stieg im Sommer 1964 mit der Platte „Getz/Gilberto“ in die amerikanischen Popcharts ein, wo sich das legendäre Jazz-Bossa-Album zwei Jahre lang hielt. Die Plattenfirma wollte in dieser Zeit nichts anderes von Getz hören als Bossa Novas. Doch die Studiosession des Quartetts enthält keinen einzigen: Da gibt es Jazz-Standards von Gershwin, Van Heusen, Kern, Rodgers und Porter und ein paar aktuelle Stücke von Getz, Burton, Phil Woods und Mike Gibbs. Also lagen die Bänder 30 Jahre lang bei Van Gelder im Archiv, ein schlafendes Dornröschen. Dass die Musik endlich doch noch erlöst wurde (englisch: released), freut nicht nur den Getz-Biographen: Obwohl das Quartett sich damals erst zusammenraufte – Getz war ein schwieriger Mensch und anspruchsvoller Bandleader, Burton war voller Vorurteile ihm gegenüber und Bass und Drums wurden später noch umbesetzt –, hält die Studio-CD, was die wenigen Live-Mitschnitte des Quartetts versprachen. Vom Bass-Ostinato-Einstieg in „Summertime“ bis zum emotional entfesselten Tenorsolo in „What Is This Thing Called Love“ gibt es durchweg große Jazzkunst zu hören, zuweilen melodisch üppig oder konstruktivistisch kühl, harmonisch neuartig oder verschämt virtuos. Besonders in Burtons „6-Nix-Quix-Flix“ und Gibbs’ „Sweet Sorrow“ finden Third Stream und 60er-Jahre-Neugierde wunderbar innovativ und prickelnd zusammen.
Eine ähnliche Geschichte gibt es vom ersten Mahavishnu Orchestra zu erzählen, John McLaughlins legendärer Jazzrock-Pionier-Formation. Das Quintett hatte bereits zwei erfolgreiche Alben veröffentlicht – „The Inner Mounting Flame“ und „Birds Of Fire“ – und ging im Juni 1973 für ein drittes ins Studio. Weil sich die Musiker am Ende nicht einig wurden, ob zusätzliche Overdubs nötig waren oder nicht, beschloss man, stattdessen zunächst einen Konzertmitschnitt zu veröffentlichen, „Between Nothingness And Eternity“. Am 31. Dezember 1973 jedoch löste sich das Quintett – „die größte aller Jazz-Rock-Bands“ (Joachim-Ernst Berendt) – wegen menschlicher Differenzen auf. Gerüchte (und Bootlegs) von einem dritten Studioalbum der ersten Besetzung kursierten zwar bald – doch das Album kam nie, denn McLaughlin hatte sich längst ein neues Mahavishnu Orchestra zusammengestellt. Erst als der Arrangeur Bob Belden die CD-Reissues der Band betreute, stieß er zufällig – im November 1998! – in Los Angeles auf die Zweispur-Bänder der Londoner Session von 1973. „The Lost Trident Sessions“, 1999 veröffentlicht, präsentieren zwar keine Sensationen, und die Hälfte der sechs Stücke kennt man schon von der Live-Platte. Dennoch: Wer dem Sound der ersten Mahavishnu-Besetzung verfallen ist, diesen irisierend modalen Themen über ungeradtaktigen Metren, diesen Hochgeschwindigkeits-Soli von Gitarre, Geige und Moog, den exakt stakkatierenden Drum-Salven Billy Cobhams, dem Pendeln zwischen meditativer Ruhe und rockendem Ritual, der kann in diesem unverhofften Nachschlag zu den längst abgenudelten Originalplatten sein Lebenselixier finden.
Ein Mann, der es sich zur Passion gemacht hat, den Gerüchten von unveröffentlichten Sessions nachzuspüren, ist der amerikanische Produzent Michael Cuscuna. Besonders die Archivschätze des Labels Blue Note haben es ihm früh angetan. Denn Alfred Lion, der Blue-Note-Gründer und Jazz-Enthusiast, produzierte über die Jahre weit mehr Sessions, als er veröffentlichen konnte. Dabei zwang ihn die ökonomische Situation zuweilen sogar, innovative Musik zugunsten aktueller Trends zurückzustellen. 1967 verkaufte er das Label; sein Partner Francis Wolff kümmerte sich um das Label bis zu seinem Tod 1971. Danach drohten die unveröffentlichten Session-Bänder endgültig hinter der Dornenhecke des Vergessens zu verschwinden. Michael Cuscuna, damals ein junger Jazzkritiker und freier Produzent, sammelte jedoch alle unter den Musikern kursierenden Legenden und führte ein Notizbuch über die ungehobenen Blue-Note-Schätze. 1975 gelang es ihm, in die Katakomben des Label-Archivs vorzudringen; seitdem schaufelt er unermüdlich unbekanntes Hörmaterial ans Licht. Reiche Funde machte er beim Trompeter Lee Morgan (1938-1972). Der war seit seinem großartigen Comeback mit „The Sidewinder“ (1964) auf „funky“ Kassenschlager festgelegt. Sessions, bei denen der Trompeter neue Ideen ausprobierte, erschienen dagegen zum Teil mit jahrelanger Verspätung oder erst nach seinem Tod. „1967 nahm Lee eine seiner allerbesten Platten auf“, sagt Cuscuna, „aber auch die hatte kein ‚funky’ Stück. Ich habe sie 1976 unter dem Titel ‚The Procrastinator’ herausgebracht.“ Morgan scheint bei diesem All-Star-Projekt von allen Trends unberührt: Weder Soul-Jazz noch Free Jazz scheinen ihn zu interessieren. Das Titelstück besitzt vielmehr einen fast „slawischen“ Lyrismus, „Party Time“ (von Vince Jones später betextet) ist ein Staccato-Bebop-Blues, und Wayne Shorters Stücke erinnern an den pastellenen Sound des damaligen Miles-Davis-Quintetts. Morgan ist hier nicht nur der größte Jazztrompeter seiner Zeit, sondern auch ein stiller Visionär, der den Mainstream-Jazz auf völlig neues emotionales Gelände hätte führen können.
Der Chef-Schatzgräber im Blue-Note-Archiv übernahm mit der Neugründung des Labels 1985 zahlreiche Aufgaben in der Firma. „Ich habe keinen Titel, und ich bin auch nie offiziell eingestellt worden“, verriet mir Cuscuna 1999. „Ich produziere manchmal, berate in Musiker- und Marketingfragen und mache die ganzen Wiederveröffentlichungen. Das sind etwa 60 bis 100 Reissues im Jahr, davon vielleicht 80 % Blue Note, der Rest ist Roulette und Capitol Jazz. Und jährlich veröffentlichen wir etwa 20 neue Blue-Note-CDs.“ Einer, dessen Diskografie durch Cuscunas Schatzsuche enorm anwuchs, ist der Gitarrist Grant Green (1931-1979). Besonders beliebt war Green als gospelig-souliger Mittäter in Hammond-Orgel-Sessions. Von denen hat er mehr aufgenommen, als Blue Note damals auf den Markt werfen konnte, und so blieb Cuscuna reichlich zu tun. Noch 1999 veröffentlichte er, nun in 24-bit-Auflösung, „Blues For Lou“, eine Dornröschen-Session von 1963, deren acht Stücke komplett unveröffentlicht und selbst auf Compilations oder Japan-Editionen nie zu hören waren. In der klassischen Orgeltrio-Besetzung (B3, Gitarre, Drums) zupft Green unaufgeregt melodische Blues-, Funk- und Soul-Linien mit deutlichen Anklängen an die Musik von Ray Charles – reines Feeling, pure Seele, keine Gimmicks. Sein Orgelpartner hier ist „Big“ John Patton, der damals noch keine zwei Jahre die Hammond spielte und dabei war, einen ganz eigenen Zugang zum Instrument zu finden. Später wurde Patton durch seine dunklen Klangfarben und dräuenden Tremoli berühmt, die ihn als Orgler auch hier schon unverwechselbar machen.
Einmal war auch Michael Cuscuna erfolglos. Die Rede ist von der „Original Ellington Suite“, einer 1958er-Erstfassung von Chico Hamiltons „Ellington Suite“ von 1959. Die Legenden um die verschollene Originalversion blühten unverwüstlich über Jahrzehnte, galt doch als deren Protagonist kein Geringerer als Eric Dolphy (1926-1964), der heilige Innovator des Jazz, der so früh zu den Engeln zurückkehrte. Zwar hatte Dick Bock, Gründer des Labels Pacific, in den 60er-Jahren Kostproben der 58er-Version auf Compilations veröffentlicht, doch zehn Jahre später, als Cuscuna, Jäger des verlorenen Schatzes, in die Archive eintauchte, waren die Bänder nicht mehr aufzufinden. Das frühe Dolphy-Dokument schien für immer verloren. Aber die Geschichte hat ein gutes Ende: Noch einmal 20 Jahre später (1995) erstand ein Jazzfan aus Kanada namens John Cobley in einem Second-Hand-Plattenladen im englischen Brighton eine alte Vinyl-Ausgabe von Hamiltons „Ellington Suite“. Das Cover nannte die Musiker der offiziellen Veröffentlichung, das Etikett auf der Platte allerdings war unbedruckt und mit der Hand beschrieben: „Unreleased Takes 8-22-58“. Es dauerte eine Weile, ehe der Jazzfan den Altsaxophonisten auf seiner Platte als Eric Dolphy erkannte und die Bedeutung seines Fundes begriff. Auch Michael Cuscuna wurde belohnt: Er durfte nämlich im Jahr 2000 den 24-bit-Release betreuen. Noch heute ist „The Original Ellington Suite“ ein beeindruckendes Hörerlebnis: Die innovativ kühlen Arrangements der Ellington-Klassiker und die dezente Instrumentierung (Cello, Gitarre, Bass, Jazzbesen) geben der Musik einen geradezu kammermusikalischen Ernst. Die expressiven Akzente setzt natürlich Eric Dolphy, der sich – auf Flöte, Altsax und Klarinette – nahtlos in den gedämpften Ensembleklang einpasst, um dann desto nachdrücklicher in frischen Bebop auszubrechen. Es sind seine frühesten erhaltenen Improvisationen. Pacific-Produzent Dick Bock empfand sie 1958 anscheinend als unzumutbar.
© 2005, 2008 Hans-Jürgen Schaal © 2005 Hans-Jürgen Schaal |