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1956 machte er seine letzte Jazzplatte, dann gehörte er endlich ganz der Welt der Popmusik. Der „braune Sinatra“ platzierte mehr als 100 Singles in den Charts, verkaufte über 50 Millionen Platten und hatte seine eigene TV-Show. Der gleiche Mann war in den vierziger Jahren Amerikas einflussreichster Jazzpianist gewesen. Ein Porträt anlässlich seines 40. Todestags.

Nat King Cole
Unvergesslich
(2005)

Von Hans-Jürgen Schaal

Es begann als Klischee – und entwickelte sich vollends zum Märchen. Die Anfänge von Nat Coles Leben entsprechen ganz dem bekannten Stereotyp des schwarzen Musikers: geboren in Armut in den Südstaaten, der Vater ein einfacher Arbeiter und Baptisten-Prediger, 12 Geschwister, von denen nur vier das Erwachsenenalter erreichen. Nat wusste nicht einmal sein Geburtsjahr; nach neuesten Forschungen war es 1919. Das war die Zeit der großen Migration aus dem Süden nach Chicago, wo sich die schwarze Bevölkerung in wenigen Jahren mehr als verdoppelte. Etwa 1922 zog auch Nats Familie in die Windy City: Sein Vater wurde dort später zum Reverend der True Light Baptist Church berufen. Also die übliche Prägung durch die Kirche, in der die Mutter die musikalische Regie führte: Mit elf Jahren spielte Nat die Kirchenorgel und sang im Kirchenchor. Neben Gospels standen Bach und Rachmaninov auf seinem Übungsprogramm.

Und dann der Einfluss des Jazz: Der konnte nicht ausbleiben auf der South Side von Chicago, dem Zentrum der urbanen schwarzen Musik der 20er-Jahre. Auch Nats Brüder – Eddie, Freddie und Ike – wurden vom Jazz-Bazillus angesteckt. Der Teenager hörte in seiner Nachbarschaft Louis Armstrong und Jimmie Noone und die anderen Stars seiner Zeit, wenn auch meist nur von der Straße aus, da er zu jung war, um in die Clubs zu dürfen. Besonders begeisterte ihn der Pianist Earl Hines: „Es war seine treibende Power, die mich ansprach. Ich war noch ein Kind und in der Entwicklung, aber ich klinkte mich in diesen neuen Hines-Stil ein.“ Earl Hines war das große Vorbild, als Nat seine ersten Bands gründete – die Rogues of Rhythm, die Royal Dukes – und dann Pianist bei den Solid Swingers wurde, dem Quintett seines älteren Bruders Eddie, des Bassisten. 1937 wurden die beiden Brüder für eine Neuauflage von Eubie Blakes Ragtime-Revue „Shuffle Along“ engagiert, die sechs Wochen lang in Chicago lief. Als die Inszenierung auf Tournee ging, blieb Eddie zu Hause, während Nat mitreiste nach Kalifornien.

Die Show platzte in Long Beach. Nat, der eine der Tänzerinnen geheiratet hatte, blieb mit ihr an der Westküste, klimperte sich durch die Bierkneipen („von San Diego bis Bakersfield“) und fand im Century Club von L.A. einen ersten festen Job. Hier stieg er rasch zum Lieblingspianisten der örtlichen Jazzszene auf, denn keiner besaß diese moderne, swingende, schlichte Sprache: Der junge Mann hatte Earl Hines in der rechten Hand und Count Basie in der linken. Bald hat man ihm im „Swanee Inn“ in Hollywood die Stelle als Hauspianist angetragen: Dort wurde aus dem 18-jährigen Nathaniel Adams Coles fast über Nacht der „King Cole“ – mächtiger als alle Earls und Counts der Jazzwelt. Was anfangs nur als Werbegag gedacht war – Nat sollte beim Spielen sogar eine Krone aus Goldpapier tragen –, entwickelte sich zum Erfolgsmärchen: Nat King Cole wurde binnen weniger Jahre einer der wahren Könige des Musikbusiness.

Über die Entstehung seines berühmten schlagzeuglosen Trios im Jahr 1937 – in der Blütezeit der Big Bands! – kursieren verschiedene Legenden. Angeblich soll Nat schon in Chicago mit seinem Bruder Eddie in einer ähnlichen Besetzung gespielt haben. Nach einer anderen Version hat ihn in L.A. eines Abends der Drummer versetzt und wurde daraufhin gefeuert. Wie auch immer: Das „King Cole Trio“ – nur Piano, Gitarre, Kontrabass – schlug völlig neue Töne an, schuf eine Art swingende Kammermusik, ein witziges, rasantes Feuerwerk der Unisono-Passagen und kompakten Improvisationen aller drei Spieler. Virtuose Klassizismen gehörten ebenso dazu wie lustige Jive-Nummern mit Trio-Gesang („Call The Police“, „I Like To Riff“, „Scotchin’ With The Soda“). Nats Mitstreiter waren Wesley Prince (Bass) und Oscar Moore (Gitarre), ab 1943 bzw. 1947 dann Johnny Miller und Irving Ashby. 1940 entstanden die ersten Aufnahmen, 1941 spielte man monatelang in den großen Jazzclubs der Ostküste, 1942 ein Jahr lang im „331 Club“ in Los Angeles, 1943 unterschrieb man bei der jungen Firma „Capitol Records“, 1944 gab es den ersten richtigen Pop-Hit. Weil Capitol seinen Aufstieg dem Nat King Cole Trio verdankte, hieß das Verlagsgebäude in L.A. unter Insidern auch „das Haus, das Nat gebaut hat“.

Die Gewitztheit des Nat King Cole Trios erregte ein enormes Aufsehen. Selbst Count Basie erschien das perfekte Ineinandergreifen der drei Solisten wie ein Wunder: „Diese Jungs konnten jeweils die Gedanken des anderen lesen. Es war unglaublich!“ Nach King Coles Vorbild gründete der Super-Virtuose Art Tatum 1943 ein eigenes schlagzeugloses Trio, später folgten diesem Modell auch Oscar Peterson, Ahmad Jamal, Tommy Flanagan und der frühe Ray Charles – von Hunderten von Lokalgrößen nicht zu reden. Nat Cole gehörte zu den prägenden Jazzpianisten der 40er-Jahre. Er hatte große Sessions mit Lester Young oder Lionel Hampton und war beim ersten Konzert von „Jazz at the Philharmonic“ im Sommer 1944 der Pianist der ersten Wahl. Die Palette an Kollegen, die ihn zu ihren wichtigen Einflüssen zählen, reicht von Erroll Garner, Oscar Peterson und Billy Taylor bis hin zu Red Garland, Ahmad Jamal, Wynton Kelly und Bill Evans. Daher erntete Nat King Cole heftige Kritik, als er später das Jazzklavier aufgab, um als Popsänger Karriere zu machen. Der blinde englische Pianist Eddie Thompson nannte diesen Schritt „eine Tragödie für die Musik“.

Nat Coles Gesangstalent wurde eher zufällig entdeckt. Einer Anekdote zufolge bat eines Abends ein leicht angetrunkener Clubgast um eine bestimmte Vokalnummer; Cole kannte sie nicht, sang stattdessen „Sweet Lorraine“ und erhielt dafür 15 Cent Trinkgeld. Von da an baute er öfter Gesangsnummern ins Programm seines Trios, um es ein wenig aufzulockern. „Ich sang Sachen, die mir seit langem vertraut waren. Ich versuchte nicht, sie irgendwie besonders klingen zu lassen, ich sang sie einfach. Danach stellte ich fest, dass die Leute anfingen, nach mehr Gesangsnummern zu fragen.“ Seine natürliche, weiche Stimme, seine exakte Aussprache und seine Fähigkeit, sich beim Singen einfallsreich zu begleiten, machten Coles Gesangseinlagen bald zu einer besonderen Attraktion und brachten sie auch in lokale R&B-Charts. Schon 1944 landete er einen echten Hit mit seinem selbst komponierten Song „Straighten Up And Fly Right“, einem Stück, das den Rock’n’Roll vorwegnahm und sogar Bo Diddley inspiriert hat. Der Text war von einer Predigt von Coles Vater angeregt, die wiederum auf ein schwarzes Volksmärchen zurückgriff; leider hatte Cole sein Copyright an dem Song schon Jahre vorher für ein Taschengeld verkauft und erhielt keine Autorentantiemen mehr.

Der Erfolg von „Straighten Up And Fly Right“ bewies, dass ein schwarzer Sänger auch beim weißen Publikum Chancen hatte. Gepusht wurde Coles Sängerkarriere vor allem durch die umtriebige Plattenfirma Capitol und durch seine zweite Ehefrau Maria, die er 1948 heiratete und mit der er drei leibliche Töchter und zwei Adoptivkinder hatte. Bald folgte ein Gesangs-Hit dem anderen, zum Beispiel „Paper Moon“ (1945), „Route 66“ (1946), „Christmas Song“ (1946/47), „For Sentimental Reasons“ (1947), „Nature Boy“ (1948), „Mona Lisa“ (1950), „Unforgettable“ (1951), „Send For Me“ (1957), „Ramblin’ Rose“ (1962), „Those Lazy-Hazy-Crazy Days Of Summer“ (1963). Auch in den trivialsten Popsongs wirkte der „Mann mit der Samtstimme“ ehrlich, ungekünstelt und sympathisch. Sein Trio jedoch war bald nur noch Staffage und wurde im Lauf der 50er-Jahre durch schwülstige Studio-Orchester ersetzt.

Was die Einschätzung seiner Gesangskünste betraf, blieb Cole immer bescheiden. „Meine Stimme ist nichts, worauf man stolz sein müsste. Sie hat einen Tonumfang von vielleicht zwei Oktaven. Ich nehme an, es ist das heisere, rauchige Geräusch, das manche mögen.“ Dieses Geräusch verdankte sich nicht zuletzt einem extrem hohen Zigarettenkonsum. Nat King Cole starb mit 45 Jahren an Lungenkrebs. Doch vierzig Jahre nach dem ersten Erfolg von „Unforgettable“ war die sanfte, kratzige Stimme von Nat King Cole noch immer unvergessen und einen Grammy wert: im virtuellen Duett mit seiner ältesten Tochter Natalie.

Hör-Empfehlungen:
The Definitive (1942-1947) (Blue Note/EMI)
The Instrumental Classics (1944-49) (Capitol/EMI)
Penthouse Serenade (1952-1955) (Capitol/EMI)

Hommage à Nat King Cole:
Diana Krall: All For You (1996) (Impulse/Universal)

© 2005, 2008 Hans-Jürgen Schaal


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