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Nach dem Zweiten Weltkrieg erschütterte der Bebop die Jazzwelt. Die Reaktion der Konservativen hieß Dixieland und war reine Nostalgie – als hätte es den abenteuerlustigen und ideengewittrigen Small-Band-Swing der Kriegsjahre nie gegeben. Ein vergessenes Schlüsselkapitel der Jazzgeschichte.

Celesta-Blues und Schubert-Swing
Um 1940 explodierte die Combo-Fantasie
(2006)

Von Hans-Jürgen Schaal

Es gab ein experimentelles Jazzleben vor Charlie Parker. Soll heißen: Der Bebop fiel nicht aus heiterem Himmel in die Clubs der 52. Straße. Die wahnwitzig schnellen Tempi der Bopper, ihre übergeschnappten Intervalle, ihre abgefahrenen Themen, ihre ausgefinkelten Akkorde waren keine Laune des Augenblicks. Dieser Wahnsinn lag vielmehr in der Luft und er hatte Methode. Im Schatten des Big-Band-Swing, der die Umsätze der amerikanischen Plattenindustrie in nur sieben Jahren um das Vierzehnfache gesteigert hatte, gedieh eine bunte Szene des widerspenstigen Freigeists. Vor allem montags, wenn die großen Tanzpaläste pausierten, trafen sich die Musiker zu Jam Sessions und übten sich in entfesselter Virtuosität. Oder man bildete eine „Band innerhalb der Band“ und übertrug die Disziplin der straff organisierten Orchester gewitzt in eine vitale Miniatur-Besetzung. Das sollte sich als überlebenswichtig erweisen, denn mitten im Krieg brach dann die heile amerikanische Big-Band-Welt einfach zusammen. Erst kam der Streit zwischen der ASCAP und den Radios, dann das Aufnahmeverbot der Musikergewerkschaft und die Erhöhung der Vergnügungssteuer. Die Rationierung von Benzin, Öl und Reifen erschwerte Bandtourneen, Musiker wurden zur Armee eingezogen, die Herstellung von Music-Boxen wurde zeitweise gestoppt. Amerikas Jazz wurde zur Insel.

Der Erste, der auf die Idee kommt, eine Small Band des Swing zu gründen, heißt Benny Goodman. Weil er nicht immer nur in Dancehalls den großen Zampano geben will, holt er eines Tages zwei seiner Spezis – den Pianisten Teddy Wilson und den Drummer Gene Krupa – und erfindet mal rasch den Kammer-Jazz. Das Benny Goodman Trio ist vielleicht die erste Kleinformation, die im 4/4-Swingbeat spielt und dabei komplexe Harmonien mit unbeschwertem Jazzfeuer verbindet. Und es ist die erste „integrierte“ weiß-schwarze Band, die in Amerika live vor Publikum auftritt. Das kann sich 1936 nur der King of Swing erlauben; kurz danach nimmt er sogar noch einen zweiten Afroamerikaner hinzu, den Vibraphonisten Lionel Hampton. Am wohlsten fühlt sich dieses Zauber-Quartett in entspanntem Midtempo: Dann kuschelt sich Goodmans Klarinette unnachahmlich virtuos in Wilsons dicht rollendes Pianobett, das jeden Bassisten überflüssig macht. Erst als Wilson 1939 weggeht, wird aus dem Quartett ein Sextett: Der Pianist wird durch zwei Musiker ersetzt – und außerdem ist da noch Charlie Christian, das erste Weltwunder der E-Gitarre: Ihn will Goodman unbedingt dabei haben. Im Team machen Goodman, Hampton und Christian dann den entscheidenden Schritt: von den gemütlichen Standards hin zu Originals, die den wachen, modernen, elektrischen Geist der Combo einfangen. Die Sammlung „The Benny Goodman Sextet“ präsentiert all diese frechen Jump-Riffs, die kontrapunktischen Vamps, die mutwilligen Prä-Bop-Themen: „Flying Home“, „Shivers“, „Good Enough To Keep“ (das später „Air Mail Special“ heißen wird) oder „AC/DC Current“. Die letzten sechs Titel vom Winter 40/41 – nun ohne Hampton – könnten durch ihre drei Bläser traditioneller wirken, wäre da nicht Christians unbändige Bebop-Begeisterung. Großer Combo-Jazz ohne Verfallsdatum.

Goodmans großer Konkurrent heißt Artie Shaw: auch er Klarinetten-Virtuose, Big-Band-Leiter und Swing-Millionär, auch er aus einer armen jüdisch-russischen Immigranten-Familie stammend, auch er über Nacht bekannt (1936) und dann zum Superstar (1938) geworden. 1940 beschließt auch Shaw, eine „band within the band“ zu gründen: die Gramercy Five, ein Sextett aus Musikern seines Jazz-Orchesters. Artie Shaws Geniestreich: Er setzt seinen Pianisten Johnny Guarnieri an ein Cembalo und gibt ihm obendrein einen E-Gitarristen zur Seite. Guarnieri muss für das ungewohnte und im Jazz extrem abwegige Cembalo eine ganz eigene Sprache entwickeln, die eher an den Miss-Marple-Soundtrack als an Scarlatti denken lässt. Acht Drei-Minuten-Stücke spielt diese Besetzung ein, die allesamt durch das Cembalo unverwechselbar charmant klingen. Die Band schlängelt sich in überirdischer Inspiration durch die kompakten Arrangements, die voll gestopft sind mit Solistenwechseln, dynamischen Gegensätzen, lichtschnellen Zwischenmotiven, virtuos verzierten Riffs, mächtigen Steigerungen und unerwarteten Moll-Melodien. Shaws „Dr. Livingstone, I Presume?“ ist ein kleines Afrika-Drama mit Dschungel-Beat und fröhlicher Militärfanfare. Und wer glaubt, Benny Goodman sei das Nonplusultra der Jazzklarinette, der hat Artie Shaw wohl nie gehört: Avantgardistischer, unberechenbarer, hinterhältiger kann man Swing nicht spielen. „The Complete Gramercy Five Sessions“ enthalten außerdem sechs Titel des prominenter besetzten zweiten Sextetts von 1945, durch das allenthalben schon der Bebop flackert. Die Neuzugänge Dodo Marmarosa (Piano) und Barney Kessel (Gitarre) werden zwei Jahre später auch mit Charlie Parker aufnehmen und der Blues „The Sad Sack“ könnte durchaus dessen Feder entflossen sein.

Noch mehr Weltkriegs-Klarinette: Weniger bekannt als Goodman, aber dessen erklärtes Vorbild ist der afroamerikanische Klarinettist Edmond Hall. Fast 40 Jahre alt ist der New-Orleans-Veteran, als ihm Alfred Lion das erste Studio-Date als Bandleader ermöglicht. Der Blue-Note-Produzent, Boogie-Fan und Liebhaber authentischer schwarzer Musik stellt für Hall Anfang 1941 das unwahrscheinlichste aller Kammerjazz-Quartette zusammen: Hall bläst Chicago-Klarinette, Charlie Christian greift Bebop auf der akustischen (!) Gitarre, Meade Lux Lewis rollt den Boogie auf einer Celesta (!) und Israel Crosby zupft auf dem Kontrabass geduldig den Blues. Denn nur Blues dürfen sie spielen (das hat Lion verordnet), aber eine solche Blues-Jam gab es nie: Die fragile Celesta erinnert an Weihnachten und Tschaikowskys „Nussknacker“ und treibt doch den Honky-Tonk-Rhythmus hinaus in die Nacht. Wenn diese Besetzung eine erdige Parodie auf die Gramercy Five sein sollte, dann ist Halls zweite Studioband von 1944 eindeutig an den Goodman-Combos orientiert: mit Goodmans Spezi Teddy Wilson am Klavier, Red Norvo am Vibraphon, der raren Gitarrenlegende Carl Kress (Charlie Christian ist tragischerweise 1942 verstorben), dem Bassisten Johnny Williams und keinem Drummer. Edmond Halls „Rompin’ In ‘44“ bringt Prä-Bop-Swing vom Feinsten. Auch die dritte Besetzung auf „Profoundly Blue“ – mit drei Bläsern, dem Schlagzeug-Tier Big Sid Catlett und Everett Barksdale an der Gitarre – hat viel zu bieten. Für Gitarrenfans ist die CD ohnehin unverzichtbar: Sowohl Christians Akustische wie Kress’ Ausflug ins Innere einer Jazzband sind absolute Raritäten.

Jetzt geht’s richtig rund: John Kirbys Sextett heißt um 1940 nicht umsonst „The Biggest Band in the Land“. Die Combo ist „bigger“ als die meisten Big Bands, weil sie mit nur drei Bläsern und Rhythmusgruppe den dichtesten, kontrapunktischsten Kammerjazz aller Zeiten zusammenbraut. Jump-Riffs, Boogie-Rhythmen, komponierte Ensemble-Breaks, feurige Solo-Juwelen, chromatische Intros, raffinierte Zweit- und Drittstimmen jagen einander durch 46 Trockenkonzentrate, von denen die wenigsten die Drei-Minuten-Grenze überschreiten. Die gestopfte Trompete von Charlie Shavers, das Doppelholz von Buster Bailey und Russell Procope, der fantasievoll ausschweifende Billy Kyle am Klavier, O’Neil Spencer an den Drums und natürlich Bandleader John Kirby – der beste Kontrabassist seiner Zeit – verschmelzen zu einem wildbunten Organismus, einer Hochleistungs-Maschine. Shavers zeigt als Arrangeur zudem besonderes Fingerspitzengefühl: Er ist wohl der Erste, der klassische Motive vollwertig verjazzt, indem er nicht nur die Themen zum Swingen bringt, sondern auch die Melodiebögen verdreht, sequenziert und in Echomotive und Breaks auflöst. Wer Grieg, Chopin, Dvorák, Schubert, Lehár, Donizetti, Tschaikowsky und Beethoven auf „The John Kirby Sextet“ gehört hat, weiß, wovon 15 Jahre später der West Coast Jazz zehren wird. Auch Jazz-Standards werden von den fantastischen sechs mit Lust und Genialität dekonstruiert und verpuffen in einem Feuerwerk virtuoser Einfälle: Der Bebop kann kommen!

Und dann ist da noch Raymond Scott: ein Original-Verrückter, der sich die Noten spart und seinen Musikern ihre Parts einfach auf dem Klavier vorspielt. Eigentlich ist er ja auch mehr Ingenieur als Musiker und wird später Prä-Synthesizer, Kompositions-Maschinen und MIDI-Techniken entwickeln. „The Music Of Raymond Scott“ von 1937 bis 1940 präsentiert halsbrecherischen, technizistischen Combo-Swing ohne Improvisation: Pianist Scott erlaubt seinen virtuosen Bläsern nämlich selbst in den Soli keinen Ton Abweichung vom Einstudierten. Das Raymond Scott Quintette – übrigens ein Sextett und wahrscheinlich das Vorbild für John Kirby – schweift dabei durch ein Spielzeugland der Fantasie: Pinguine und Enten hört man in dieser Musik lebendig werden, arabische, türkische, afrikanische Klischees werden bemüht, Anleihen an Klassik und Marschmusik hineinmontiert, kleine Klanggeschichten von Auktionen, Kraftwerken und Kindertrompeten erzählt. Nicht nur Igor Strawinsky ist ein großer Fan von Scotts greller Kammerjazz-Combo. Später wird man diese Klänge – allen voran das Stück „Powerhouse“ – für den Zeichentrickfilm entdecken und den bewegten Bildern von Bugs Bunny und Daffy Duck unterlegen. Aber da ist der Technik-Visionär Raymond Scott längst mit anderem beschäftigt.

© 2006, 2009 Hans-Jürgen Schaal


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