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Für die einen war sie die „First Lady of Jazz“, für die anderen die „First Lady of Song“. Denn Ella Fitzgeralds Stimme war beides: ein improvisierendes Jazz-Instrument mit perfekter Time und Intonation – und die wahrhaftigste, menschlichste Verkörperung des Great American Songbook. Damit gibt sie uns zwei der besten Gründe, um sich des 20. Jahrhunderts in Liebe und Dankbarkeit zu erinnern.

Die uns Trost spendet
Das Beste am 20. Jahrhundert war Ella Fitzgerald
(2005)

Von Hans-Jürgen Schaal

Ella Fitzgerald durchlief viele Rollen. Mit 17 Jahren gewann sie einen Amateur-Wettbewerb im Apollo Theatre in Harlem, wurde zum Prototyp der Swing-Jugend und ließ mit frech-fröhlichen Liedchen wie „A-Tisket A-Tasket“, „Deedle-De-Dum“ und „Coochi-Coochi-Coo“ die Hörerherzen leuchten – mitten in der Depression der 30er-Jahre. Nach dem Krieg wandelte sie sich zur virtuosen Modernistin, jammte mit den wilden Beboppern und erhob den wortlosen Scatgesang zur Kunstform. Dann drückte sie das gesamte American Songbook an ihren breiten Busen, all die Gershwins, Porters, Berlins und Arlens, und schuf im Verein mit bunt tönenden Studio-Orchestern gültige, klassische, akkurate Versionen der Standards. „Ich wusste nicht, wie gut unsere Songs sind, bevor ich Ella Fitzgerald hörte“, gestand Texter Ira Gershwin, der seinen Bruder George um fast ein halbes Jahrhundert überlebte. Während eine Billie Holiday immer nur von sich und ihrem Schmerz erzählte, machte Ella Fitzgerald jeden Song zu einer Botschaft voller Trost und Wahrhaftigkeit: Man musste ihr einfach glauben, selbst wenn sie Weihnachtslieder sang. Zusammen mit Louis Armstrongs Reibeisenstimme und Russell Garcias raunenden Streichern krönte sie sogar „Porgy and Bess“: Louis als naiver, herzensguter Porgy, Ella als anbetungswürdige, unbefleckbare Bess – wer heult da nicht Tränen der Rührung? Und dann die späte Fitzgerald, die Grande Dame jenseits aller Moden und Zwistigkeiten, die Akrobatin der lyrischen Tiefen-Schattierung, deren Stimme auch mit 60 Jahren noch Kindlichkeit und Wärme und den Glauben an die Menschen verströmte...

Ihre berühmten „Songbooks“ will man eigentlich nicht immer hören. Das liegt nicht an Ella: Sobald diese Stimme einsetzt, die Vibration der Humanität, ist man an den Kern des Wesentlichen gefesselt und kommt nicht mehr los. Doch was die Herren Nelson Riddle, Billy May, Buddy Bregman und so weiter mit ihren hochkarätigen Musiker-Versammlungen drum herum anstellen, das ist halt immer ein bisschen wie Disneyland für Erwachsene oder – in Pippi Langstrumpfs Worten – „Saft UND Schokolade“. Klassisch gewordener Kitsch. Das „Duke Ellington Songbook“ von 1957 ist da ganz anders: Erstens handelt es sich hier nicht um die Schlager des Broadway, sondern um echte, schwarze Jazznummern. Und zweitens spielt hier kein prätentiöser Studio-Klangkörper, sondern das einzig wahre Duke Ellington Orchestra – bzw. eine swingende Jazz-Combo um den Tenorsaxophonisten Ben Webster. Das 3-CD-Set geht gleich hart und herzlich los mit Dukes störrischem Klavier, einem entfesselten Becken und Ellas sprudelndem Scat-Solo im unbetexteten „Rockin’ In Rhythm“. Manche der Orchester-Nummern mögen etwas eckig, hastig und frenetisch wirken, die ungewohnten Arrangements zum Teil sogar experimentell, aber sobald Ellas Honigstimme fließt, löst sich alles ins Federleichte auf. Und niemals klang „Day Dream“ berückender als hier mit dem impressionistisch-wilden Intro, Ellas Zaubertimbre und Johnny Hodges’ Altsaxophon. Die meisten der großen Ellington-Balladen fallen jedoch an die Small Group, die sich für die ganz intimen Stücke sogar noch mehr ausdünnt: „Solitude“, „Azure“, „In A Sentimental Mood“ und „Lush Life“ sind reine Duette zwischen Ella und Barney Kessel bzw. Oscar Peterson. In diesen fragilen Traumszenen kann Ella frei die Melodien variieren, ohne den Text fallen zu lassen: In dieser Technik hat sie bis heute niemand übertroffen. Jedes Stück eine Referenz-Version.

Mit dem anderen großen Orchester-Fürsten, dem Count Basie, reist Ella sechs Jahre später scheinbar zu den Anfängen der Tin Pan Alley zurück. „Honeysuckle Rose“, „Them There Eyes“, „Tea For Two“, „Ain’t Misbehavin’“ oder „On The Sunny Side Of The Street“ datieren aus den Jahren 1924 bis 1930, als die Sängerin selbst noch ein Kind war. Sofort klingt ihre Stimme noch heller, noch jugendlicher, noch weniger als unangestrengt. Quincy Jones schrieb die Arrangements für das Album „On The Sunny Side Of The Street“ und übersetzte dabei die naive Sinnlichkeit der Prä-Swing-Ära in kalkulierte, ausbalancierte Big-Band-Dramaturgie: Cool wie ein Uhrwerk tickt der Basie-Rhythmus dahin, die Bläsersätze schleichen sich weich und relaxt an und häufen dann ganze Wettersteingebirge von Sound auf. Mit „Satin Doll“ knüpft Ella sogar ans Ellington-Songbook an: Dort hatte sie in diesem Stück einen halben Text improvisiert, inzwischen hatte Johnny Mercer einen ganzen geschrieben. „Shiny Stockings“ ist dagegen eine Nummer aus dem damals aktuellen Basie-Fundus – und auch hier zaubert Ella die dringend gebrauchten Lyrics aus der eigenen Tasche. Faszinierend, wie sich ihre Stimme in den modernen Stücken verändert: Nichts mehr vom naiven Ella-Kind, stattdessen sachliche, erwachsene Freundlichkeit. Musik, die schmeichelt.

Aber mal ehrlich: Wenn man dieser Frau zuhören darf, dieser Palette an Farben und Gefühlen, wozu braucht man da noch eine Big Band? Gewöhnlich war Ella mit kleinem Gepäck unterwegs: ein Pianist, ein Bassist, ein Drummer, vielleicht noch eine Gitarre, das reichte völlig aus. Mit der handlichen Besetzung ließ sie auf der Bühne gern ihr Temperament sprudeln, im Studio malte sie unermüdlich eine lyrische Preziose nach der anderen. Auf „Clap Hands, Here Comes Charlie!“ trifft sie genau die Mitte zwischen Temperament und Lyrik: Da gibt es bedeutungsferne, fröhlich jumpende Gassenhauer wie „Jersey Bounce“, „Music Goes Round And Round“, „This Could Be The Start Of Something Big“ oder das Titelstück selbst, in denen sie die Band im Uptempo vor sich her treibt, aber auch hingebungsvoll modellierte Seelenstücke wie „You’re My Thrill“, „Good Morning Heartache“ oder dieses „Cry Me A River“, das sie hier erstmals vom Pop in den Blues schaufelt. In solchen Melodien erzählt sie nicht nur eine, sondern viele Geschichten: Wer das Woher der Songs kennt, hört auf einer zweiten, dritten Ebene Jazz-Historie pur. Und die reicht bei Ella immer auch in die Moderne hinein: Nicht nur Monks ewigkeitsverdächtige Ballade „Round Midnight“, auch Dizzy Gillespies Bebop-Schlachtross „A Night In Tunesia“ hat sie im Programm. Für Letzteres schrieb ihr Jon Hendricks damals einen taufrischen Text. Und weil der so hübsch ist, singt ihn Ella gleich mehrere Chorusse lang und erfindet dabei ganz neue Melodien irgendwo zwischen Tunis und Tennessee. Clap Hands!

Ihre letzte Wandlung vollzog die große Trösterin in den 1970er Jahren: Versteckt hinter lockiger Perücke und dicken Brillengläsern bohrte sie sich endlich bis ins Innerste der Songs – eine Voodoo-Priesterin der Reime und Rhythmen. Man hatte da oft das Gefühl, dass sie in der Musik Botschaften hört, die wir nie verstehen werden, und dass sie von ihrem unendlichen Wissen nur so viel an uns weitergibt, wie wir gerade bequem ertragen können. Denn das Schöne ist nichts als der Kissenzipfel der Wahrheit. Unsere Song-Professorin grub sich am allertiefsten in die Welt der emotionalen Schatten, wenn sie allein mit dem Gitarristen Joe Pass ganz souverän duettierte – ein gewagtes Experiment, denn der Segovia des Jazz war alles andere als der geborene Begleiter. Aber ein solcher hätte Ella an diesem Punkt auch nichts genutzt: Sie brauchte einen Widerpart, ein virtuoses Spiegelkabinett, um die unbekannten Facetten im Bekannten zum Leuchten zu bringen. Das Experiment, das auf vier Alben anwuchs, begann 1973 mit „Take Love Easy“: So schlicht klingt das Schwerste, wenn Ella es singt mit ihrer mütterlichen Umsicht. Selbst robuste Swing-Nummern wie „Don’t Be That Way“ und „Gee Baby, Ain’t I Good To You“ werden da zu unauslotbaren Kunstliedern, schöner als schön.

Zum Schluss: „Fine And Mellow“ war meine erste Platte von Ella und wird für mich immer etwas Besonderes sein. Im Verein mit einigen der besten Mainstream-Solisten – Clark Terry, Harry Edison, Zoot Sims, Eddie „Lockjaw“ Davis, Tommy Flanagan, Joe Pass, Ray Brown, Louie Bellson – weilt die Sängerin hier unter ihresgleichen: als große Improvisatorin, Interpretin, Instrumentalistin der Stimme. Im immer noch textlosen „Rockin’ In Rhythm“ gibt sie den Ton an und reiht sich mit ihrem Scatgesang ganz selbstverständlich in die Jam-Session ein – zwischen Tenorsax, Gitarre, offener und gestopfter Trompete. Gershwins „The Man I Love“ bietet das andere Extrem: melodische und sprachliche Unter- und Nebentöne, die man in dieser Liebessehnsuchts-Ballade nie vorher gehört hat. Und wer außer Ella konnte 1974 sogar noch die Eitel-Sonnenschein-Lieder der 30er Jahre mit Überzeugungskraft singen, mit neuer, wissender Ernsthaftigkeit? „I can’t give you anything but love, b-a-b-y, baby...“: Über dieses selbstironische, vergrübelt-verspielte Buchstabieren von „baby“ könnte man ein ganzes Buch schreiben. Im gleichen Stück trifft sich Clark Terry mit Ella auch zum humorvollen Austausch zwischen verschiedenen Silbendialekten. Und Ella kann gar nicht anders: Sie greift als geübte Scatterin Terrys fantasievolle Mumbles auf und macht daraus – Musik!

© 2005, 2009 Hans-Jürgen Schaal


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