NEWS





Zurück

Ein Stück Frankreich in Boston
Über die Saxofon-Mäzenin Elise Boyer Hall
(2005)

Von Hans-Jürgen Schaal

Claude Debussy (1862-1918) war von der Idee, für das Saxofon zu komponieren, nicht allzu begeistert. Er kannte das Instrument kaum, dieses seltsame „Rohrblatt-Tier“, und fühlte wenig Lust, sich näher damit zu beschäftigen. Auch die Europa-Premiere von Vincent d’Indys Saxofonwerk „Choral varié“, zu der er persönlich eingeladen wurde, konnte ihn nicht beflügeln. Als die enthusiastische Amerikanerin im rosa Abendkleid in dieses plumpe Instrument hineinblies, empfand er das als einen geradezu lächerlichen Anblick. Ihre Spielkünste überzeugten ihn ebenfalls wenig. Warum Debussy den Kompositionsauftrag trotzdem annahm, ist unklar; die Höhe des Voraus-Honorars, die enthusiastische Beharrlichkeit der Auftraggeberin oder das Beispiel angesehener Kollegen mögen eine Rolle gespielt haben. Das Honorar war jedenfalls schnell verbraucht, die Komposition jedoch stockte. Nach ein paar Monaten oder Jahren stellte Debussy die Arbeit daran ein, aber erst 1911 – acht Jahre nach Auftragsannahme – lieferte er. Was er lieferte, war die verkürzte Partitur eines Orchesterwerks mit Saxofon, mit der die Mäzenin nichts anzufangen wusste. Debussy starb, ohne sein Werk gehört zu haben.

Debussys Auftraggeberin, Mrs. Elise Boyer Hall (1853-1924), entstammte einer angesehenen Bostoner Familie mit alten französischen Wurzeln. Elise war in Paris geboren und erzogen worden, heiratete den amerikanischen Chirurgen Richard J. Hall, der in New York und Kalifornien praktizierte, und hatte zwei Töchter mit ihm. Zur Behandlung einer gesundheitlichen Schwäche empfahl ihr der Ehemann, ein Blasinstrument zu erlernen. Gelegentlich liest man, Elise Hall hätte von einer Typhus-Erkrankung ein Lungenleiden behalten; Frankreichs führender Saxofonist Marcel Mule vermutete gar, sie hätte Asthma gehabt. Doch ihr gesundheitliches Problem war ein anderes: Ihr Gehör ließ nach. Gegen die fortschreitende Ertaubung half allerdings auch das Saxofonspiel nicht.

Ihr Ehemann Richard Hall starb 1897. Die Witwe zog mit den Kindern zurück in die Heimatstadt Boston, wo sie in den gehobenen Kreisen verkehrte und sich im gerade mächtig aufblühenden Kulturleben der Stadt engagierte. Ein Jahr nach ihr kam Georges Longy (1868-1930) nach Boston, ein renommierter französischer Holzbläser, der vom Boston Symphony Orchestra als 1. Oboist verpflichtet wurde und diese Stellung bis 1925 behielt. Umgehend taten sich Elise Hall und Georges Longy zusammen: Sie förderten die französische Musikkultur in Boston, besonders bei der Boston Symphony, und gründeten zudem ein Amateur-Orchester, den Orchestral Club of Boston, dessen Dirigent Longy wurde, während Hall die Präsidentschaft übernahm. Auf ihrer beider Betreiben hin erklangen in Boston erstmals Werke von Debussy, Dukas, Enescu, Fauré, Franck, Ravel und anderer neuerer und zeitgenössischer Komponisten. Elise Hall war auch mitverantwortlich dafür, dass französische Künstler wie André Caplet und Pierre Monteux als Dirigenten nach Boston verpflichtet wurden.

Longy, der erfahrene Solist, wurde zudem natürlich der Saxofonlehrer von Elise Hall. Im Sommer, wenn Longy die französische Heimat besuchte, reiste die Mäzenin mit, um den Unterricht nicht zu versäumen und Werbung für ihr Instrument zu machen. 1900 – mit 47 Jahren – hatte die fleißige Schülerin ihr Konzertdebüt als Saxofonistin und war damit eine Pionierin auf der internationalen Saxofonszene. Nur wenige Jahre nach dem Tod von Adolphe Sax (1814-1894), dem Erfinder des Saxofons und eifrigsten Anreger von Saxofonwerken, übernahm Elise Boyer Hall die führende Förderer-Rolle für die Saxofonliteratur. Von 1900 bis 1920 gab sie mindestens 22 Saxofonwerke in Auftrag, allesamt bei französischen und belgischen Komponisten, die Longy ihr empfohlen und vermittelt hatte. Die meisten dieser Werke hat Elise Hall selbst als Solistin uraufgeführt.

Die erste Komposition für Saxofon, die in Elise Halls Auftrag entstand, war das „Divertissement espagnol“ von Charles Loeffler (1861-1935), einem seit 1881 in den USA lebenden französischen Geiger. Elise Hall hat das rund achtminütige Werk für Altsaxofon und Orchester im Januar 1901 in der Copley Hall in Boston uraufgeführt. Loeffler lieferte der Mäzenin noch zwei weitere Saxofonwerke, eine „Ballade carnavalesque“ für vier Holzbläser und Klavier und eine „Rhapsodie“ für Altsaxofon und Klavier. Der Franzose Henri Woollett (1864-1936) schrieb ebenfalls drei Werke in Halls Auftrag, darunter das sinfonische Gedicht „Sibéria“ (für Altsaxofon und Orchester) und ein Oktett für Flöte, Oboe, Altsaxofon und fünf Streicher. Georges Longy, der Mitstreiter Elise Halls, komponierte seiner Saxofonschülerin eine „Impression“ und eine „Rhapsodie“.

Viele dieser Werke sind heute vergessen, doch die Namen einiger der Komponisten klingen zumindest Insidern noch vertraut. Philippe Gaubert (1879-1941) war nicht nur ein angesehener Flötist, sondern später auch Chefdirigent der Pariser Oper. André Caplet (1878-1925) gewann immerhin den Rom-Preis von 1901. François Combelle (1880-1953), der Vater des Jazz-Saxofonisten Alix Combelle, spielte die Saxofonsoli bei der Republikanischen Garde und war der Vorgänger und Förderer von Marcel Mule. Florent Schmitt (1870-1958), Massenet-Schüler und Musikkritiker, schrieb später noch wichtige Saxofonwerke, zum Beispiel das Saxofonquartett von 1941. Vincent d’Indy (1851-1931), Franck-Schüler, Kompositionslehrer, Direktor der Schola Cantorum, gehörte einmal zu den einflussreichsten Persönlichkeiten im französischen Kulturleben. Sie alle komponierten für Elise Boyer Hall. Die von ihnen gelieferten Partituren liegen heute in der Musikbibliothek des New England Conservatory in Boston.

Der populärste Komponist, der in Elise Halls Auftrag schrieb, war zweifellos Claude Debussy, der Vater der impressionistischen Musik. Debussys etwa zehnminütige „Rapsodie“ für Orchester und Altsaxofon ist daher auch das berühmteste und meistgespielte unter allen Auftragswerken für Elise Hall. Wann der Komponist die Arbeit daran beendete, ist umstritten; die Angaben schwanken zwischen 1903, 1904, 1908 und 1911. Oft ist zu lesen, Debussy habe lediglich einen unfertigen, unspielbaren Entwurf geliefert, der von einem seiner Schüler, dem späteren Kompositions-Professor Jean Roger-Ducasse (1873-1954), nach Debussys Tod orchestriert wurde. Amerikanische Forscher, die Einblick in die Original-Partitur genommen haben, widersprechen dem allerdings. Ihnen zufolge hat Debussy sein Werk komplett instrumentiert, es nur nicht für jedes Instrument getrennt notiert. Der Saxofonist Ken Radnofsky, der sich ausgiebig mit Debussys Werk befasst hat, schrieb mir im Juli 2005: „Roger-Ducasse hat das Werk nicht etwa vollendet, sondern nur nach Debussys Partitur ausgeschrieben. Er war mehr ein Kopist als ein Orchestrator.“ Vermutlich waren verlegerische oder egoistische Motive daran schuld, dass die Orchestrierung Roger-Ducasse zugeschrieben wurde.

Trotz seiner Reserviertheit gegenüber dem Auftrag hat sich Debussy stark an den Wünschen von Elise Hall orientiert. Sein Werk, das ursprünglich „Rhapsodie Mauresque“ heißen sollte, lässt in Melodik und Rhythmik deutlich „maurische“ (andalusische, orientalische) Einflüsse anklingen, aber in einer freien, fantasierenden, impressionistischen Form. Diese Konzeption schätzte die Saxofon-Mäzenin besonders: Viele der Auftragskompositionen für Elise Hall heißen Rhapsodie, Fantasie oder Impression, der Zusatz „spanisch“ oder „maurisch“ kommt mehrmals vor. Dabei setzt Debussys wunderbares Tongemälde das Saxofon eher sparsam ein, mehr als Klangfarbe denn als Solostimme – vielleicht aus Rücksicht auf Elise Halls Spieltechnik. Die Auftraggeberin führte das Werk allerdings nicht selbst auf. Ihre Premiere erlebte die ausgeschriebene „Rapsodie“ 1919 in Paris durch François Combelle.

Literatur
Kenneth Radnofsky: America’s First Concert Saxophonist Was A Woman, in: Saxophone Journal, Vol. 10, No. 4 (1986)
Harry R. Gee: Saxophone Soloists And Their Music, 1844-1985, Indiana University Press (1986)

Hörempfehlungen
A Saxophone For A Lady (Debussy, Caplet, d’Indy, Schmitt u.a.), Saxofon: Claude Delangle, BIS-CD-1020
Works for Saxophone and Orchestra (Debussy, d’Indy u.a.), Saxofon: Johannes Ernst, Arte Nova 74321 67510 2

Der Autor dankt Ken Radnofsky.

© 2005, 2009 Hans-Jürgen Schaal


Bild

13.09.2024
R-R-ROCK: THE WHO & KID DYNAMITE, KING CRIMSON (beide: Fidelity), OCTOBER EQUUS (Image Hifi)

11.09.2024
Mehr JAZZ: BUD POWELL (Piano News), SHORTY ROGERS (Fidelity), JAZZ IN KOPENHAGEN (Image Hifi), TOBIAS HOFFMANN JAZZ ORCHESTRA (Jazzthetik) und ein Buch über JUTTA HIPP (Fidelity)

11.09.2024
KLASSIK im September: ORCHESTERSTADT MÜNCHEN (Brawoo), BACHS MUSIKALISCHES OPFER, DIE BÖHMFLÖTE, MARIA HERZ, BACH-MIKKELSEN und ein Buch über C.P.E. BACH (alle: Fidelity)

10.09.2024
Jazz-Neuheiten: ERNTE, AUSFAHRT, JOACHIM ULLRICH, KOPPEL-BLADE-KOPPEL (alle: Fidelity), VERTIGO TROMBONE QUARTET, PERICOPES+1, KAUFMANN-KALIMA, BAS-VAN GELDER, BAN-MANERI, HUME-MAY (alle: Jazzthetik), ASEO FRIESACHER, PHILLIP GOLUB (beide: Jazz thing), DIE ENTTÄUSCHUNG, VINSENT PLANJER (beide: Fono Forum)

mehr News

© '02-'24 hjs-jazz.de