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Die Privatbahn, von der großen Hafenstadt Bari kommend, passiert kilometerlange Olivenbaum-Plantagen, ehe sie Ruvo erreicht. Ruvos Bahnhof liegt am Fuß des Stadthügels, umgeben von vier- und fünfstöckigen modernen Wohnhäusern. Erst auf der Hügelhöhe erschließt sich das Juwel der 25.000-Einwohner-Stadt: die mittelalterliche Altstadt, ein Labyrinth aus schmalen Schlupflochgassen auf jahrhundertealtem, gläsern glänzendem Kopfsteinpflaster. Ausgerechnet in dieser dunklen Trutzburg katholisch-süditalienisch-provinzieller Tradition, wo in der Karwoche die Heiligenstatuen durch die Gassen getragen werden, sollen die Geheimnisse des neuesten Jazz enthüllt werden? Ist ein größerer Gegensatz denkbar?

Höhepunkte des Eurojazz
Das Talos-Festival in Ruvo di Puglia
(2004)

Von Hans-Jürgen Schaal

Und doch ist Ruvo di Puglia genau der richtige Ort für die stilistischen Grenzgänge des Eurojazz. Kein Geringerer als der multikulturelle Stauferkaiser Friedrich II. hat im 13. Jahrhundert den Bau der örtlichen Kathedrale gefördert. Er ließ auch das 30 Kilometer entfernte Castel del Monte errichten, die „Krone Apuliens“, ein rätselhaftes, aus der Ferne verwirrend modern wirkendes Bauwerk, eine womöglich zweckfreie Synthese aus christlicher, jüdischer und islamischer Architektur. Im Jatta-Museum von Ruvo öffnet sich der historisch-kulturelle Horizont noch weiter: Hier dokumentieren vier Räume mit antiker Keramik – überwiegend schwarz grundierte ionische Vasen des 4. Jahrhunderts v.Chr. – Ruvos Wurzeln im weiteren Mittelmeerraum. Hier findet sich auch der berühmte Talos-Krater, der dem Festival den Namen gab. Er zeigt den Mythos vom Mord an Talos, einem von einem Gott geschaffenen Wesen aus Bronze, das im Dienst des Königs Minos die Insel Kreta beschützte.

Schauplatz Nummer eins: die Piazzetta Le Monache, ein kleiner Platz inmitten der Altstadt, eingeschlossen von Wohnhäusern (an denen die Scheinwerfer montiert werden), einer Kirche, einem Restaurant. Fünf Gassen münden dort – vier sperrt man ab, die fünfte dient als Eingangstor zum Festival. An der abfallenden Seite des Platzes hat man die Bühne errichtet, am anderen Ende zwei kleine Sitztribünen. Der Rest der Piazzetta ist bestuhlt, in der Mitte thronen die Mischpulte. Echte Logenplätze besitzen die anliegenden Balkonbesitzer und die kleine Heiligenstatue auf dem Kirchendach. Ein rötlichweiß gefleckter herrenloser Hund ist der eigentliche Platzherr unterm freien Himmel: Fünf Tage lang schnüffelt er sich durch die seltsamen Veränderungen seines angestammten Terrains und lässt sich vom Publikum füttern, verwöhnen und fotografieren. Nach der Zugabe des Trovesi-Oktetts erklimmt er sogar die Bühne und heimst den Beifall ein.

Dieses geschlossene steinerne Gelände betraten an fünf Abenden hintereinander einige der Galionsfiguren des europäischen Jazz: Louis Sclavis, Gianluigi Trovesi, Rabih Abou-Khalil, Michel Portal, das Ganelin-Trio, das ICP Orchestra. Nach zwei Jahren Live-Praxis ist Sclavis’ stilistisch unbekümmertes Quartett-Projekt „Napoli’s Walls“ schon zum Klassiker geworden. Die rockigen, lärmigen, elektronischen Teile wuchern zusehends weiter und drohten in Ruvo schon durch ihre Lautstärke die Maßstäbe zu sprengen. Eine alchemistische Verschmelzung von vier Musiker-Persönlichkeiten und ihren ganz verschiedenen Spielauffassungen. Ähnliche Grenzgänge zwischen Jazz, Kammermusik und Elektronik unternahm Trovesis Oktett-Projekt „Fugace“. Schöne, lyrische Momente, besonders wenn der große Bergamaske die kleine Klarinette blies, dazu witzige Einsätze von Elektronik, Loops und Rock-Elementen. Aber zum Höhepunkt des Festivals hat es Trovesi nicht ganz geschafft: Die Kohärenz fehlte, vieles blieb Knalleffekt und auch einige Längen schlichen sich ein. Publikumsliebling war Abou-Khalil mit seinem kompakten, auf der Bühne auch optisch eng zusammengerückten Quintett und mit fantasievollen Ansagen auf Italienisch. So eigenwillig seine Themen gegliedert sind, so geschlossen und monumental wirkten die solistischen Beiträge. Viel Applaus für Luciano Biondini, den strahlenden Helden am Akkordeon.

Die eigentlichen Überraschungen kamen von jenseits der Mittelmeerländer. Das nach 17 Jahren wieder vereinigte Trio von Vjatcheslav Ganelin, Vladimir Chekasin und Vladimir Tarasov entwickelte eine spannende, klanglich teils surreal anmutende Kollektiv-Improvisation, in der noch die Umschwünge Konsequenz und Logik hatten. Wie Saxophonist Chekasin seine Leitmotive ins Geschehen fügt, ohne es dabei dominieren zu wollen, besitzt eine ganz eigene Ästhetik. Die Band 4Walls um den britischen Sänger Phil Minton überzeugte mit Ausdruckswillen und sachlicher Disziplin: eine Mischung aus Free-Manifest und Cabaret-Punk. Beim Auftritt des ICP Orchestra aus Holland glänzte Misha Mengelberg in einem stark monkifizierten Klaviersolo über Eric Dolphys Blues „245“. An Dolphys Tod vor 40 Jahren scheint der Pianist noch immer zu leiden, wie seine Ansage verriet. „245“, einer der ganz wenigen Standards, die auf diesem Festival erklangen, war kurioserweise auch beim Eröffnungskonzert von Phil Minton und Veryan Weston zu hören.

Keiner, der dabei war, wird die abendliche Stimmung auf der Piazzetta vergessen, den Einbruch der Nacht unter ekstatischem Jazzfieber. Das transparente Tuch hinter der Bühne gab der Fantasie Spielraum, wandelte sich – je nach Scheinwerferlicht – in einen blauen Theatervorhang, eine grüne Tropfsteinhöhle, eine schwarze Felskante oder ließ – rötlich verfremdet – die reale Hauswand mit Balkon durchschimmern. Dank der frei zugänglichen Soundchecks und der zivilen Eintrittspreise (3 Euro für ein Doppelkonzert) kam keinerlei Schwellenangst auf: Die Leute aus Ruvo und Umgebung gaben ihrer Neugierde nach und strömten herbei, viele junge Menschen, aber auch gesetzte Honoratioren und ganze Familien mit Kind und Kegel. Am Wochenende drückten sich auf dem kleinen Platz bis zu 1500 Menschen zusammen, von denen wohl die wenigsten in erster Linie Jazzfans waren. Das Festival in Ruvo ist vor allem ein Kulturereignis der Region, ein sozialer Treffpunkt. Man plaudert und isst und tut dort all das, was man sonst auch auf einer abendlichen Piazza unternimmt. Entsprechend großzügig werden in Italien die Anfangszeiten von Konzerten aufgefasst: 60 Minuten Verspätung sind keine Panne, sondern kommunikatives Bedürfnis. Natürlich weiß der Festivalleiter jedem Konzert eine wortreiche Eloge vorauszuschicken, auch die Lokalpolitiker wollen sich und die Kultur preisen, dann folgt die eigentliche Ansage, eine blumige Laudatio, und wenn der auftretende Musiker ebenfalls Italiener ist, wird auch er noch sein Sprüchlein sagen...

Schauplatz Nummer zwei: der Dominikaner-Konvent, ein heller Innenhof unter freiem Himmel, wo Zikaden, Schwalben, Kirchenglocken und Flugzeuge ins Konzert miteinstimmen. Hier fanden am frühen Abend die Recitals statt, intime, kammermusikalische Auftritte. Keith Tippett, der in seiner Bühnenkluft wie ein Seeheld des 18. Jahrhunderts wirkt, ließ Holzblöcke und Kugeln auf den Klaviersaiten tanzen. Manchmal klang es, als spielte er drei Tasteninstrumente gleichzeitig. Stefano Battaglia tat sich schwer, zwischen Anklängen an Schönberg, Jarrett und Schumann seinen Weg zu finden: zu viel innovative Technik, zu wenig melodischer Fluss. Die Holländer Misha Mengelberg und Han Bennink zogen ihre bewährte Nummer ab, die Tasten wischend, das Drumset zerlegend, und die Korrespondenzen in ihrer Musik passierten wie nebenher. Michel Godard (Tuba, Serpent) und Gavino Murgia (Sopransax, Stimme), die Schwergewichte der Abou-Khalil-Band, hatten ein paar Duettnummern einstudiert und wollen bald zusammen auf Tournee gehen. Zu klein wurde der Konvent am Sonntagabend, als das singende Frauenquartett Faraualla mit seinen beiden Perkussionisten auftrat. Das war polyphoner Gesang zwischen heiligem Ritual und heidnischem Spottlied, gespeist aus apulischer Folklore und fesselnd arrangiert. Wer holt die vier Schönen und ihre Trommler nach Deutschland?

Pino Minafra, der Jazz-Trompeter mit dem Schnauz und Begründer des Festivals, hatte – nach zwei Jahren Pause – diesmal wieder die Programm-Verantwortung. Er saß bei jedem Konzert mit auf der Bühne, war auch bei der Podiumsdiskussion mittendrin, dirigierte die Zugabe des Meridiana Multijazz Orchestra und gab bei Trovesi eine gelungene Rap-Scat-Einlage. Schließlich musste er sich ja gegen die Lokalpolitiker behaupten: Kulturpflege ist Politik, nicht nur in Süditalien. Da wird das Urteil der Fachleute, die Ruvo für das beste italienische Jazzfestival dieses Sommers halten, ihm den Rücken stärken. Auch dass er bei 16 Konzerten mit 100 Musikern auskam, dennoch knapp 30-köpfige Projekte auf die Bühne stellte und die Abende jeweils in monumentalen, erhebenden Klängen gipfeln ließ, wird Minafras Position guttun. Auch musikalisch machte es Sinn, einzelne Musiker in mehreren Rollen zu erleben: Michel Godard, Gianluigi Trovesi, Keith Tippett, Misha Mengelberg, Han Bennink, Phil Minton und Veryan Weston, sie alle traten in zwei verschiedenen Besetzungen auf. Sogar dreimal war der Sarde Gavino Murgia zu hören, der neben seinem kehligen Obertongesang ein abenteuerlustiges Sopransax, ein kühl säuselndes Tenorsax und die sardische Schalmei (Launeddas) spielte. Auch die Sängerinnen von Faraualla traten dreimal auf, denn Minafra hatte sie für zwei Orchesterprojekte verpflichtet.

Ehrengast des Festivals war übrigens Free-Jazz-Produzent Leo Feigin (Leo Records): Er steht nicht nur einigen der auftretenden Musiker sehr nahe, er und sein Label waren auch Thema der Podiumsdiskussion. Dabei verstiegen sich die Enthusiasten der frei improvisierten Musik zu Botschaften wie „Killer haben die falsche Musik gehört“, „Gute Musik macht Menschen besser“ und „Die Konsumgesellschaft ist totalitär“. Niemand widersprach. Denn dort sind solche Sätze wahr, dort unterm blauen Himmel von Ruvo, wo ein Kilo Tomaten und eine Paprika zusammen 60 Cent kosten und wo kleine Kinder bis in die Nacht Free Jazz hören dürfen. Dort in Ruvo ist der Bronzemann Talos dem Mordanschlag entgangen und bewacht weiter seine kostbare Jazz-Insel. Talos lebt.

2004, 2009 Hans-Jürgen Schaal


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