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Es dauerte 30 Jahre, bis die Jazzwelt reif war für diese Sängerin. Denn Betty Carter sang anders als alle anderen: Sie demontierte die Standards, baute sie völlig neu zusammen, ergänzte Motive, Rhythmen, Kehrtwendungen und surreale Verfremdungen. Erst in den achtziger Jahren wurde Betty Carter als die größte lebende Jazzsängerin gewürdigt. Hans-Jürgen Schaal erinnert an die Vokalistin, Komponistin und Jazzpädagogin, die am 16. Mai 75 Jahre alt geworden wäre.

Betty Carter
Der verwaiste Thron
(2005)

Von Hans-Jürgen Schaal

Sie wusste genau, dass sie keine Nachfolgerin haben würde. „Nach mir gibt es keine Jazzsängerinnen mehr. Es ist traurig, dass da niemand ist, der mir in die Fersen tritt. Alle tun nur das, was alle anderen auch tun, und da ich nicht tue, was alle anderen tun, brauche ich nicht einmal Konkurrenz zu fürchten.“ Ohne Betty Carter ist die Welt des Jazz arm geworden. Zwar wimmelt es von jungen Jazzsängerinnen, aber keine besitzt auch nur einen Anflug dessen, was Betty Carter zuvorderst auszeichnete: radikale Originalität. Selbst unter Jazz-Instrumentalisten hat keiner so unbeirrbar wie sie heilige Kühe geschlachtet: Melodien umgebogen, Standardformen zerhackstückt, Texte sarkastisch verfremdet, Tempi und Rhythmen umdefiniert und sich dabei noch jedes Mal mit Haut und Haar ins spontane Abenteuer gestürzt. Nicht umsonst nannte sie eine ihrer späten Platten „It’s Not About The Melody“: Bei Betty Carter ging es um viel mehr als um schöne Evergreens. Kollegin Carmen McRae bescheinigte ihr: „Sie war die einzige wirklich improvisierende Jazzsängerin.“

Als Teenager stolperte sie in den Bebop hinein, die damalige Avantgarde des Jazz. Lillie Mae Jones, wie sie eigentlich hieß, lernte wild zu scatten und mit ihrer Stimme die Melodien modernistisch zu zersplittern. Schon mit 17 stand sie mit Charlie Parker auf der Bühne. Ein Jahr später wurde sie von Lionel Hampton, der Swing-Legende, als Bandsängerin engagiert. Als Künstlernamen wählte sie Lorraine Carter, doch weil ihr Herz so sehr für den Bebop schlug, rief Hampton sie „Betty Bebop“ – das mischte sich schließlich zu Betty Carter. Die junge Sängerin verschwieg nicht, dass sie lieber in Dizzy Gillespies Orchester gesungen hätte, und Hampton nahm ihr das jedes Mal übel und feuerte sie deswegen mehrfach. Auf Betreiben von Hamptons Ehefrau musste der Bandmanager sie dann immer wieder neu engagieren. So ging das fast drei Jahre lang. In dieser Zeit schaute sie sich ab, wie man eine Band leitet und Arrangements schreibt.

Mit Hampton kam sie nach New York, wo sie in den fünfziger und sechziger Jahren als Freelancerin arbeitete, vor allem im Apollo Theatre in Harlem, im Herzen der urbanen schwarzen Musik. Sie stand mit den Heroen des Jazz, Blues und Soul auf der Bühne, mit Monk, Dizzy, Muddy Waters und Ray Charles. Sie sang „Red Top“ mit King Pleasure (1953), machte ihr erstes Album mit Ray Bryant (1955), war Bandsängerin bei Gigi Gryce (1956), trat mit Miles Davis auf (1958), hatte mit Ray Charles den Duett-Hit „Baby, It’s Cold Outside“ (1961) und ging mit Sonny Rollins auf Japan-Tournee (1963). Die Musiker liebten Betty Bebop, ihre dunkle Stimme und ihre virtuose Improvisationskunst, und empfahlen sie weiter. Ihre Aufnahmen erschienen auf namhaften Labels wie Epic, ABC, United Artists oder Roulette. Und doch wollte sich kein dauerhafter Erfolg einstellen. Betty Carter blieb ein Geheimtipp.

Der Grund: Die Sängerin war nicht bereit, Erwartungen zu erfüllen. Sie wollte schon damals nicht das tun, was alle tun. Sie wollte originell sein, anders, besonders. „Damals trauten wir uns nicht, andere zu imitieren“, erzählte sie einmal. „Eine zweite Sarah Vaughan hätte nie den Respekt der schwarzen Community gehabt. In der Welt der Weißen war Imitation normal. Da gab es alle diese Mädchen wie Anita O’Day, June Christy, Chris Connor – und sie alle hatten Erfolg. Wir Schwarzen wollten dagegen jede für sich stehen. Das war mein ganzer Hintergrund, mein ganzes Fundament.“ Schon früh entwickelte sie ihren eigenen, kompromisslosen Stil – energisch und zuweilen kritisch, die Worte und Melodien zerdehnend und zerbröselnd, die Tempi wechselnd und die Tonalitäten sabotierend. Sie sang nicht Standards, sondern komponierte sie von Grund auf neu: mit veränderten Melodien, zusätzlichen Motiven, überraschenden Rhythmen. Was innerhalb dieser verblüffend innovativen Strukturen geschah, blieb allerdings in hohem Maß improvisiert: „Ich will nichts geplant haben, ich will alles frisch und neu.“ Da konnte es schon mal passieren, dass das Thema eines Songs gar nicht mehr erklang. „Ich improvisiere über ein Stück musikalischen Materials, und wenn ich die Melodie einbauen kann, baue ich sie ein, wenn nicht, dann nicht.“

Das Publikum empfand ihren Stil lange Zeit als zu avantgardistisch. In den späten Sechzigern, als Jazzsänger ganz aus der Mode kamen, bemühte sich Betty Carter daher gar nicht mehr um Plattenverträge. Sie konzentrierte ihre Kräfte und machte noch radikaler ihr ganz eigenes Ding, wie es damals viele Kollegen im Free Jazz oder Avantgarde-Rock taten. 1969 stellte sie sich ein Begleittrio für die Bühne zusammen, zwei Jahre später startete sie ihr eigenes Plattenlabel, Bet-Car. Und siehe da: Das Jazzpublikum der siebziger Jahre maß nicht mehr nach den Konventionen von Bop und Cool, es war offener für individuelle, persönliche Konzepte. Betty Carter, die größte Innovatorin des Jazzgesangs, war inzwischen 45 Jahre alt und hatte plötzlich und überraschend Erfolg. 1975 tourte sie durch Japan und genoss ein längeres Engagement im Keystone Korner von San Francisco. 1976 wurde sie auf den Festivals in Berlin und Belgrad frenetisch gefeiert. 1977 trat sie erstmals in Newport auf und wurde sofort wieder eingeladen. 1979 veröffentlichte sie ihre Königsplatte, „The Audience With Betty Carter“, mit der fast halbstündigen Improvisations-Suite „Sounds Movin’ On“. Betty Carter, eine Art John Coltrane des Jazzgesangs?

In den achtziger Jahren war es kein Geheimnis mehr: Betty Carter galt als „die größte lebende Jazzsängerin“, die „originellste Sängerin aller Zeiten“, „das Beste, was dem Jazzgesang passieren konnte“. Ihre widerspenstige Art, mit Songs zu verfahren, war längst unverkennbar und doch immer für Überraschungen gut. Der Quell ihrer zuweilen grotesken Ideen schien unerschöpflich. Kaum jemals hat sie einen Song so gesungen, wie man ihn kennt: Thema, Soli, Thema. Kaum jemals hat sie eine Chorusform heil gelassen, einen Rhythmus von Anfang bis Ende beibehalten, ihre Band nach Lust und Laune swingen lassen. Gewöhnlich zersplitterte sie die Songs, gab jedem Teil ein anderes Tempo, einen anderen Sound und schrägen Charakter und eine neue Botschaft. Gerade eben noch macht sie sich mit einer atonalen Version von „Sometimes I’m Happy“ über die Naivität der dreißiger Jahre lustig, da taucht sie schon mit ihrer rauchigen, celloartigen Stimme in ein düster zerdehntes, modal dramatisiertes „Lover Man“ ab. Sie stauchte die Melodien und kaute die Texte und trieb den Silbengesang über die Grenze in den Wahnsinn.

Betty Carters Interpretationen sind Kunstlieder mit den Mitteln des Jazz. Hier kann man lernen, worum es in der swingenden Musik geht: um die ständige Verwandlung von Tradition in Originalität. Was den Kern des Jazz betrifft, den schwarzen Rhythmus, blieb Betty Carter aber zeitlebens dem bodenständigen Spirit Harlems verbunden: „Wenn du unserer Musik den Rhythmus nimmst, hören die Schwarzen nicht mehr zu.“ Betty Carter zeigte, dass man mit Rhythmus alles transportieren kann: abstrakte Finessen, künstlerische Nuancen, witzige Inhalte. Ihre Songs waren oft kämpferisch, zuweilen feministisch, in einem gewissen Sinn sogar Jazz-Kabarett. Sie brauchten den Dialog mit dem Publikum: Betty Carters beste Alben entstanden bei Live-Konzerten. Von selbst ernannten Avantgardisten, die hohe Subventionen kassieren, aber vor leeren Häusern spielen, hielt sie ebenso wenig wie von einfallslosen Imitatoren der Konvention. „Jeder muss sich ein Publikum erst mal selbst schaffen“, meinte sie. „Dazu braucht es Geduld, Ausdauer, künstlerische Entwicklung und Kontinuität in der Bühnenpräsenz sowie in der musikalischen Stilistik.“ Für Betty Carter ging diese Rechnung auf, wenn auch erst nach Jahrzehnten.

Der Ruhm kam spät und gewaltig. 1988 nahm Verve, das damals führende Jazzlabel, die Sängerin unter Vertrag und ließ ihr alle künstlerische Freiheit. Vier ihrer Verve-Alben wurden für Grammys nominiert. Sie gewann die Umfrage-Polls, kassierte Doktorhüte, stieg zur „First Lady“ des Jazzgesangs auf. Ihre Band galt als Talentschmiede und brachte einige der interessantesten jungen Pianisten hervor: Mulgrew Miller, Benny Green, Stephen Scott, Cyrus Chestnut, Jacky Terrasson. Ihre Workshops in Brooklyn wurden als „die beste Universität des Jazz“ gefeiert. 1997 erhielt sie die National Medal of Arts.

Im Jahr darauf starb sie an Bauchspeicheldrüsenkrebs und hinterließ einen leeren Thron. Bis heute ist keine Nachfolgerin in Sicht. Betty Carter hat es gewusst.

© 2005, 2009 Hans-Jürgen Schaal


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