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Der Vater des Free Jazz gehört längst zu den offiziellen Ikonen der amerikanischen Kunstszene. Selbst ein Wynton Marsalis, sonst nicht gerade bekannt für freie Töne, kommt an dieser Tatsache nicht mehr vorbei: Im letzten Jahr präsentierte er mit dem Lincoln Center Jazz Orchestra ein ganzes Programm mit der Musik von Ornette Coleman.

Ornette Coleman
Die Öffnung des Denkens
(2005)

Von Hans-Jürgen Schaal

Legendär war er schon, bevor er seine erste Platte machte. Oder besser gesagt: berüchtigt. Wenn der dunkelhäutige Texaner bei Jam Sessions einstieg, hörten gelernte Bebopper wie Max Roach oder Dexter Gordon einfach auf zu spielen. Die etablierten Jazzmusiker waren sich einig: Dieser Verrückte beherrschte weder die Harmonien noch sein Instrument. Für ihre Ohren klang das, was er spielte, ganz einfach falsch. Und da Ornette Coleman nie durch die strenge Schule des modernen Jazz gegangen war, musste man diesen Unsinn auch nicht ernst nehmen. Jedenfalls nicht in Los Angeles, einer eher konservativen Jazz-Metropole. Also lebte das „Schreckgespenst“ der Szene dort in den fünfziger Jahren unter ärmlichen Bedingungen, ernährte seine Familie mit billigsten Aushilfsjobs als Gepäckträger und Liftboy. Nur eine Hand voll junger Musiker scharte sich wie Jünger um ihn: die Trompeter Bobby Bradford und Don Cherry, die Schlagzeuger Ed Blackwell und Billy Higgins. Letzterer erklärte die Faszination Ornettes so: „Was konventionelles Spiel angeht, lässt sich alles auf 4-, 8-, 16- oder 32-taktige Phrasen zurückführen. Er aber fing an, Dinge zu schreiben, die elf Takte lang waren oder auch sechs. Wenn man das hörte, wirkte es völlig natürlich, und es brachte einen dazu, irgendwie anders zu denken. Das hat wirklich mein Denken geöffnet.“

Dass Ornette endlich doch einen Plattenvertrag erhielt – 1958 beim kleinen Label Contemporary –, verdankte er nicht seinem Spiel, sondern seinen Kompositionen. Denn Ornettes Melodien besitzen einen ganz eigenen Reiz: Amerikas Süden klingt darin auf, die Stimme des Blues und die fröhliche Musik mexikanischer Blaskapellen. Diese Stücke waren so elementar, so unregelmäßig, so unerklärlich und so unabweisbar wie Volkslieder. Das war für den Jazz schlicht „Something Else!“, wie der Titel der ersten Platte verhieß. Und die setzte eine Kettenreaktion in Gang: Ornette bekam nun im „Jazz Cellar“ von L.A. reguläre Engagements; Ornettes Bassist Don Payne überredete seine Bass spielenden Kollegen, sich doch mal einen Auftritt anzuhören; und Bassist Percy Heath vom Modern Jazz Quartet gab daraufhin seinem Bandleader John Lewis einen heißen Tipp. Als Lewis befand, Ornette sei „eine Erweiterung Charlie Parkers“, und ihn unter seine Fittiche nahm, war plötzlich alles ganz anders. Das Schreckgespenst wurde zur Avantgarde erklärt.

Der Pianist John Lewis war damals schon ein einflussreicher Mann in der Musikszene der Ostküste. Er verschaffte Ornette einen Plattenvertrag mit Atlantic Records, er verpflichtete ihn für seinen eigenen Musikverlag MJQ Music, ließ Ornettes eingängigste Stücke betexten, buchte ihn fürs Monterey Festival, engagierte ihn für Third-Stream-Projekte mit Gunther Schuller und holte ihn als Dozenten an die Sommerschule von Lenox in Massachusetts. Und das Abschlusskonzert in Lenox brachte dem Ornette Coleman Quartet wiederum ein Engagement in einem der besten Jazzclubs von New York ein, dem Five Spot. Da die Propaganda-Maschinerie auf vollen Touren lief, standen schon am ersten Abend die New Yorker Promis auf der Matte – gefolgt von den Reportern der Boulevard-Presse. Am Ende musste das Engagement auf zweieinhalb Monate verlängert werden: Der Messias eines neuen Jazz-Zeitalters schien angekommen. Folgerichtig hießen Ornettes erste Platten für Atlantic: „The Shape of Jazz to Come“ und „Change of the Century“. Die dritte trug den Titel „Free Jazz“: Das wurde der Name einer ganzen Stilrichtung.

Wie sah die Freiheit aus, die Ornette brachte? Der in kleinen Verhältnissen aufgewachsene Texaner hatte intuitiv alle Regeln durchbrochen, an denen seriöse Kulturkritiker – zum Beispiel ein Theodor W. Adorno – den „Warencharakter“ des Jazz festmachen. Ornettes Musik kündigte nicht nur die konventionellen Phrasenlängen auf, sondern die verbindliche Chorusform überhaupt: das Gerüst der Harmonien und Taktzahlen, den durchgängigen Beat, das tonale Schema, das Variations-Prinzip. Die Form – der „Background“, so Ornette – sollte dem Fluss der Improvisation nicht mehr im Weg stehen. Was konventionellen Jazzmusikern „falsch“ vorkam, nannte Ornettes Bassist Charlie Haden eine „fortwährende Modulation“: Die improvisierende Band konnte sich überallhin bewegen, solange die Akteure einander nur aufmerksam zuhörten. Dissonanzen und Widersprüche gehörten zum Konzept. Schnell erkannten innovativ gesinnte Kollegen einen starken Verbündeten: Charles Mingus meinte, nun müssten die Saxophonisten endlich aufhören, wie Charlie Parker zu spielen. Und John Coltrane nahm sogar Nachhilfestunden bei Ornette.

Seine Abwendung von den Formalismen der U-Kultur führte dank einer cleveren Vermarktung dazu, dass Ornette Coleman von der seriösen Kunstszene adoptiert wurde. Jackson Pollocks Gemälde „White Light“ als Cover einer Wiederveröffentlichung des Albums „Free Jazz“: Das war nur ein Indiz. Was immer dieser unangepasste, eher schüchterne Saxophonist von nun an tat, um seine Musik lebendig zu halten: Es wurde als Selbstinszenierung eines „enfant terrible“ interpretiert. Ob er sich zwei Jahre vom Business zurückzog, ob er Trompete und Geige zu spielen begann oder seinen 10-jährigen Sohn Denardo als Drummer engagierte: Hier war offenbar eine Art schwarzer Warhol am Werk, ein Reality-Künstler. Bis zu einem gewissen Grad hat Ornette diese Rolle akzeptiert: Er sprach davon, nicht länger das käufliche Produkt sein zu wollen, sondern der Verkäufer zu werden – ein handelndes Subjekt der offiziellen Kulturszene. Schon in den sechziger Jahren begann er, für Streichquartett, Bläserquintett, Sinfonie-Orchester und Ballett zu schreiben, verlangte durchweg gewaltige Gagen und schuf sich damit ein Renommee als eigenwilliger zeitgenössischer Künstler. Hohe und hoch dotierte Kultur-Auszeichnungen, die Jazzmusikern nur selten zuteil werden, sind die Spätfolge: die MacArthur Fellowship (1994), die Aufnahme in die American Academy of Arts and Letters (1997), der japanische Praemium Imperiale (2001) und erst kürzlich der Gish Prize (2004).

Auch seine größten Verehrer runzeln bei einer Sache allerdings die Stirn: Das ist Ornettes seit 1963 angekündigtes Theoriebuch. Dass er seine musikalische „Freiheit“ fand, weil er nie das Transponieren gelernt habe, ist natürlich üble Nachrede. Aber was Ornette über sein System und seine Philosophie, genannt „Harmolodics“, von sich gibt, liest sich bestenfalls wie esoterische Prophetie: „Im 21. Jahrhundert werden Musik und Sprache klanglich homogen werden, während die ethnischen Sprachen erhalten bleiben. Melodie, Komposition, Improvisatoren, Stile in ihrer jetzigen Form werden entsprechend ihrem jeweiligen Konzept harmolodisch.“ So viel scheint klar zu sein: „Harmolodic“ nennt er das Klanggeflecht bewegter Linien, die im Chroma miteinander kommunizieren – ohne vorgegebene Harmonien. Dabei ist jede Stimme gleichberechtigt und in der Lage, den Gang der Dinge mitzubestimmen. „In der Musik gibt es keinen Anführer“, sagt Ornette. All das hat er selbst am schönsten demonstriert – etwa im Trio mit David Izenzon und Charles Moffett oder in seiner Band „Prime Time“. Was soll ein Theoriebuch dazu noch ergänzen?

© 2005, 2009 Hans-Jürgen Schaal

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1996 lud der Altsaxophonist Ornette Coleman, geb. 1930 in Fort Worth, den Pianisten Joachim Kühn, geb. 1944 in Leipzig, zu einer Reihe von Duo-Konzerten ein. Ihr Leipziger Konzert erschien auf der gemeinsamen CD „Colors“, der viele Jahre lang keine neue Veröffentlichung von Ornette folgte.

Joachim Kühn erzählt:

„Ornette war seit je einer meiner Lieblingsmusiker. Ich erinnere mich genau daran, als ich zum ersten Mal von ihm hörte, etwa 1959. Mein Bruder Rolf kam damals aus New York nach Leipzig zu Besuch und sprach von diesem neuen Musiker, der ohne Harmonien arbeite und jetzt viel Furore mache. Mein Bruder war kein Fan von ihm, aber ich war sofort fasziniert. Ich war damals 14, 15 Jahre alt. Mein Bruder brachte auch die erste Platte von Ornette mit, es war ‚This Is Our Music’. Für mich war sofort klar: Das ist der fällige Schritt nach vorne, da verlässt einer die ausgetretenen Pfade des Bebop. Ich war dann der Erste in der DDR, der frei gespielt hat. Ohne die Harmonien konnte man sich ja viel direkter ausdrücken, und es gab viele stilistische Möglichkeiten.“

„Meine Agentin Geneviève Peyrègne hat Ornette in den Neunzigern in Paris auf einer Party kennen gelernt. Sie erzählte mir davon und ich sagte ihr, dass er einer der größten Musiker für mich sei. Die beiden haben sich angefreundet: Ornette kam öfter zu ihr, um in Ruhe an einer Ballettmusik zu schreiben. Eines Tages bat er sie: Spiel doch mal eine Musik, die dir gefällt, und sie legte etwas von meinem Trio mit JF und Daniel auf [Jean-François Jenny Clark und Daniel Humair]. Ornette sagte wohl etwas wie: Dieser Pianist ist ein richtiger Musiker! Er lud mich dann ein, mit ihm in Verona ein Duokonzert zu spielen. Das war im Sommer 1996 in der Arena vor 12.000 Leuten, denn im zweiten Teil spielte das Gitarrentrio von McLaughlin, DiMeola und De Lucia. Wir probten vorher drei Tage. Ornette ist in dieser Hinsicht ganz anders, als man sich einen Free-Musiker vorstellt. Er nimmt ein Konzert sehr ernst.“

„Wenn er überhaupt mal ein Konzert akzeptiert, dann stellt er offenbar enorme Bedingungen. Er spielt nur etwa 4 bis 6 Konzerte im Jahr, meist in Italien. Und er schreibt für jedes Konzert 10 neue Stücke. Wir arbeiteten etwa sechs Jahre lang zusammen und gaben in dieser Zeit etwa 20 Konzerte. Ich habe also etwa 200 Stücke von ihm gelernt. Einmal durfte ich ihn zu den Leipziger Jazztagen holen. Ich arbeitete damals fast gleichzeitig mit ihm und mit dem Thomanerchor und erwartete, dass das eine große Umstellung wäre. Aber das war es überhaupt nicht: Es war genau dieselbe Intention. Erst später habe ich registriert, dass Ornette am 9. März geboren ist, Bach am 21. März und ich genau dazwischen am 15. März. Ich bin gesandwicht von den beiden Musikern, die mein musikalisches Leben bestimmen. Einige Wochen später rief er an und fragte, ob es mir recht sei, wenn das Konzert auf CD erscheint.“

„Harmolodics scheint ja ein System zu sein, das keiner so richtig versteht. Es ist auf jeden Fall eine demokratische Denkweise. Ornette ist nicht der Boss in seiner Musik. Du weißt, es hängt damit zusammen, dass er das Transponieren nicht akzeptiert. Er hat mir zum Beispiel gesagt, er arbeite gern mit Kontrabässen, weil der Bassschlüssel in der Oktave beinahe der Altsaxofon-Notation entspräche. Man lernt jedes Mal was Neues, wenn man sich mit ihm über Harmolodics unterhält. Auch das ist Harmolodics: dass man Ideen aneinander reiht, anstatt sie zu entwickeln, und das unabhängig vom Rhythmus. Wenn ich mich zu sehr an die Vorgaben halte, dann sagt er zu mir: Spiel mehr dich selbst! Das Stück ist nur die Plattform, und das Solo kann ganz im Kontrast zum Thema stehen. Sein System hat mich inspiriert, mein eigenes System zu entwickeln, das ‚Diminished Augmented System’. Ich arbeite damit seit 1999, es ist viel konkreter als Harmolodics. Die Idee dazu kam mir bei einer Probe mit Ornette, und er hat mich sofort ermuntert, es auszuprobieren.“

„Er hat mich auf seine Kosten nach New York eingeflogen und mich fürstlich untergebracht. Wir arbeiteten eine Woche lang in seinem fantastischen Studio in der 125. Straße, dem Harmolodic Studio. Er hatte für mich einen Steinway-Flügel gemietet und kümmerte sich um alles. Wir arbeiteten zusammen an seinen neuen Stücken, 12 bis 14 Stunden am Tag, ich habe kreativ an den Harmonien mitgewirkt. Alles wurde aufgenommen. Er hat totale Kontrolle über alles, er macht alles selber. Jedes Konzert wird mitgeschnitten, und [sein Sohn] Denardo sammelt wohl alles in einem richtigen Archiv. Ich habe unzählige Stunden Musik von uns auf DAT-Kopien. Wir haben dabei immer nur seine Stücke gespielt. Wir haben auch im Quartett zusammen gespielt mit Charnett Moffett und Denardo Coleman. Das war wieder eine ganz neue Erfahrung. Wir spielten zum Beispiel ein Thema und plötzlich sagt er den Rhythmusbegleitern, sie sollen ein ganz anderes Tempo wählen – und plötzlich war er da, dieser unnachahmliche Ornette-Coleman-Sound. Es ist eine völlig eigene Herangehensweise, eine andere Logik.“

„Ornette kommt aus ganz einfachen Verhältnissen. Er ist ein typischer Self-made-man. Vielleicht ist er deshalb so schwierig, so kompliziert. Aber zu mir war er immer wie ein Vater. Ich hatte 1.000 Fragen, und er hat immer alles beantwortet. Oder er kam einfach her und sagte: Habe ich dir schon erzählt, wie ich mal Charlie Parker kennen lernte? Und er geht immer ans Telefon, wenn ich anrufe. Am Telefon reden wir gewöhnlich mindestens 1 bis 2 Stunden, nur über Musik, wie welche Töne wohin passen. Er benutzt nicht das Wort „Akkord“, er redet einfach von „Sound“. Ornette studiert die Musik nach wie vor. Er ist ein richtiges Vorbild für mich, 100 % Hingabe an die Musik. Ich habe von Ornette sehr viel Bestätigung und Ansporn erfahren. Das passiert einem deutschen Musiker im internationalen Jazzbusiness eher selten. Er lädt mich immer wieder ein, nach New York zu kommen, ich könne jederzeit bei ihm wohnen.“

Das Interview führte Hans-Jürgen Schaal.

© 2005, 2009 Hans-Jürgen Schaal


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