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Im Mai 1949 fand in der Salle Pleyel das 1. Internationale Jazzfestival von Paris statt. Die Stars kamen natürlich aus Amerika: Sidney Bechet vertrat den Oldtime-Jazz, Hot Lips Page mit seiner Band repräsentierte Swing und Jump. Als Botschafter des modernen Jazz spielten das Charlie-Parker-Quintett und das Quintett von Miles Davis und Tadd Dameron.

Kokosnuss mit Limone
Miles Davis und die schwarze Sonne von Paris
(2006)

Von Hans-Jürgen Schaal

Erst wenige Monate vorher hatte Miles bei Bird gekündigt: Lange genug hatte er die Unzuverlässigkeit des drogensüchtigen Parker ertragen und das Quintett zusammengehalten. Das Capitol Orchestra, Miles’ neues Projekt, das unterm Titel „Birth of the Cool“ bekannt werden sollte, nahm zwar Anfang 1949 schon acht Titel auf, doch davon wusste die Welt noch nichts. Miles kam also als Bebopper nach Paris – als der Mann, der mit Parker gespielt hat. Und er enttäuschte die Bop-Fans nicht: Der Live-Mitschnitt mit Dameron gehört zu seinen feurigsten, brillantesten, heftigsten Dokumenten als Bop-Trompeter. Schließlich musste er bei Dameron ja in die Fußstapfen des virtuosen Fats Navarro treten.

Die Hellhörigen in Paris wussten dennoch, dass Miles über den Bebop hinauszielte. Boris Vian, einer der Initiatoren des Festivals, analysierte in „Jazz News“ wenige Tage vorher noch ausführlich Miles’ Solo in Parkers „Now’s The Time“ von 1945. Vier Qualitäten sind es, die er an Miles’ Spiel bemerkenswert fand: die vollkommene Entspanntheit, die innere Logik, den sonoren, nackten, Vibrato-armen Ton und das Timing. Vian spürte genau: Hier will einer aus der Maschinerie des Bebop ausbrechen, das virtuose Hot-Instrument Trompete in eine Stimme des Intimen verwandeln und dem Solisten Raum schaffen für Atem und Gefühl. Nach dem Auftritt des Davis-Dameron-Quintetts berichtete Vian: „Miles Davis, bei schnellen Tempi etwas gehemmt, weil sie ihn nicht sonderlich interessieren (und nicht etwa aus mangelnder Technik, da können Sie versichert sein), verfügt dafür in den langsamen und mittelschnellen Stücken über eine unverschnörkelte und sparsame Phrasierung, die echt hinreißend ist. Er beendet die unerwartetsten Phrasen mit einer verblüffenden Logik und Ungezwungenheit.“

Paris 1949

Miles Davis, knapp 23 Jahre alt, fährt für das Paris Festival zum ersten Mal ins Ausland und hat sich zu diesem Anlass extra neue Anzüge machen lassen. In Paris ist er überwältigt von der Erfahrung, dass es in der Fremde anders riecht, schmeckt und klingt als zu Hause – wir alle kennen das. Er ist auch überwältigt von der Jazz-Begeisterung der Franzosen und dem großen Interesse der Medien. Sidney Bechet ist ihr Gott, Charlie Parker mindestens der Messias. Kenny Clarke, der Drummer im Davis-Dameron-Quintett, pflegt schon seit längerem eine Schwäche für Frankreich und wird insgesamt 30 Jahre seines Lebens dort verbringen. Er erklärt die dortige Jazz-Begeisterung so: „Die Franzosen haben den Jazz immer als eine Erweiterung ihrer Kultur empfunden. Er geht zurück auf New Orleans und die Kreolen und Cajuns. Die haben schon immer Französisch gesprochen (....), sprechen es noch heute und fühlen sich zu Frankreich gehörig wie die Normannen oder Bretonen.“

Doch was Miles, den selbstbewussten Akademikersohn aus East St. Louis, am meisten beeindruckt, ist der fehlende Rassismus in Paris. Die Menschen, mit denen er dort zu tun hat, sehen in ihm den Musiker, den Künstler, den Menschen, den Amerikaner, einen Gleichwertigen. Er lernt Vian, Picasso, Camus, Sartre, die Beauvoir kennen, verbringt fröhliche Abende mit Frankreichs intellektueller Avantgarde auf dem Sofa des Club St. Germain. Er fühlt sich so inspiriert, dass er auf der Bühne die Stücke auf Französisch ansagt.

Bei den Proben des Quintetts fällt ihm eine junge Frau auf, die still in der Ecke sitzt und nur zuhört. Miles ist sofort hingerissen: „Langes, schwarzes Haar, ein wunderschönes Gesicht, schmal, stilvoll, so anders als die Frauen, die ich kannte. Sie hatte eine ganz eigene Art, sich zu geben.“ Die Frau wird ihm nicht vorgestellt, er erfährt nur, dass sie zu den Existenzialisten gehöre. Schließlich winkt er sie einfach zu sich. Juliette Gréco, ein knappes Jahr jünger als er, gilt damals schon als Muse und Königin der Pariser Existenzialisten-Szene. Camus, Sartre, Cocteau und Prévert schreiben Chanson-Texte für sie. Als großer Jazz-Fan bejubelte sie im Vorjahr auch Duke Ellingtons Ankunft in Paris.

Miles und die Gréco sind sofort voneinander fasziniert. Obwohl sie sich sprachlich kaum verständigen können, entspinnt sich eine heftige Liebesromanze. „Ich war noch nie so glücklich in meinem Leben“, erinnert sich Miles später an die erste große Liebe seines Lebens. „Juliette und ich bummelten Hand in Hand an der Seine entlang, küssten uns, sahen uns in die Augen, küssten uns wieder und streichelten unsere Hände“ – eine undenkbare Szene im Nachkriegs-Amerika. Für Miles sind es Tage wie in Trance: Die Anerkennung als Künstler und Mensch, die er in Paris findet, und obendrein die Liebe einer wunderschönen Frau bewirken, dass er sich wie aus der Zeit gefallen fühlt. Paris ist für ihn ein Duft aus „Kokosnuss mit Limone, in Rum vermischt“.

Als die Pariser Tage zu Ende gehen, bleiben Kenny Clarke und James Moody (der Saxofonist des Quintetts) in Europa. Miles beschließt trotz seiner Romanze, nach Amerika zurückzukehren. Juliette bittet ihn zu bleiben, doch er setzt seinem plötzlichen Glück ein noch plötzlicheres Ende. Auf dem Rückflug ist er sprachlos vor Trauer, zurück in New York fällt er in eine tiefe Depression. Bald hat ihn der tägliche Rassismus wieder. Die Aufnahmen von „Birth of the Cool“ bleiben ohne Erfolg, während weiße Musiker mit Cool Jazz Karriere machen. Miles sucht Zuflucht in der Droge. Später wird er sagen: „Unsere Trennung ließ mich in den Abgrund fallen, in die Sucht.“

New York 1954

Erst Anfang 1954 kommt Miles vom Heroin los. Er ist ein anderer Mensch geworden, unzugänglich, abweisend, hinter der Maske des „evil nigger“ versteckt, wie er es selbst nennt. Er verhält sich unkonziliant, vor allem gegenüber Weißen – hart und kalt, misstrauisch und aggressiv. Kaum ist er die Sucht los, weiß er aber auch, was er künstlerisch will: In diesem Jahr findet er seinen Stil, das Spiel mit dem Dämpfer, das Vorbild Ahmad Jamal. „Blue Haze“ entsteht, „Walkin’“, später im Jahr: „The Man I Love“.

In diesem Sommer kommt Juliette Gréco nach New York. Fünf Jahre sind vergangen seit ihrer Romanze. Die Gréco ist inzwischen eine berühmte Filmschauspielerin, die „schwarze Sonne von Paris“, sie wohnt im Waldorf Astoria und empfängt in ihrer Suite. Die Welt, in der sie sich wieder begegnen, ist nicht Paris, und Miles ist nicht bereit oder nicht fähig, in die Vergangenheit zurückzuspringen. Er geht zwar ins Waldorf Astoria, aber nicht alleine. Er genießt es, dass das weiße Personal ihn und seinen Begleiter – den Drummer Art Taylor – voller Misstrauen behandelt. Auch nach einem innigen Begrüßungskuss der Gréco fällt Miles nicht aus der Rolle: Er gibt ihr gegenüber den gefährlichen, unzugänglichen Schwarzen. Er ist unfreundlich, leiht sich Geld von ihr, verlässt sie brüsk nach 15 Minuten und sagt weitere Treffen telefonisch ab. In New York gelten andere Spielregeln.

Paris 1956

Zwei Jahre später ist Miles wieder in Paris – mit Lester Young und dem Modern Jazz Quartet. Der alte Zauber kehrt sofort zurück und die Gréco, obwohl tief verletzt, verzeiht ihm. Sie sind erneut ein Liebespaar und sitzen zuweilen mit Sartre im Café, der ihnen vorschlägt zu heiraten. Im Club St. Germain hören sie Bud Powell, den großen Bebop-Pianisten, der seit einem Schädel-Hirn-Trauma und einer Elektroschock-Therapie an Schizophrenie leidet. Mitten im Solo verliert er den Faden und weiß nichts mehr zu spielen. Das Publikum reagiert ratlos und peinlich berührt. Dieses Erlebnis – sein Freund Bud geistig zerrüttet, heimatlos in einem fremden Land unter ahnungslosen Menschen – deprimiert Miles. Er sieht nicht, dass Powell in Paris ein relativ sicheres Asyl gefunden hat. Sein Untergang wird erst kommen, als er 1964 nach New York zurückkehrt.

Paris 1957

Durch die Vermittlung von Juliette Gréco lernt Miles schon am Flughafen Louis Malle kennen, den angehenden Filmregisseur der „Nouvelle Vague“. Malle engagiert Miles für die Musik zu seinem ersten Spielfilm, „Ascenseur pour l’échafaud“ (Fahrstuhl zum Schafott). Der Trompeter sieht sich die ersten Kopien des makabren Krimis an, macht sich Skizzen, entwickelt Ideen, bereitet sich gewissenhaft vor. Dann geht er mit seinem „französischen“ Quintett ins Studio: mit Barney Wilen, René Urtreger, Pierre Michelot und dem Wahl-Franzosen Kenny Clarke. Die Aufnahmen entstehen in einem düsteren, alten Gebäude, dem Studio Poste Parisien, in einer stockdunklen Dezembernacht. Zu den ablaufenden Filmszenen improvisiert die Band einsame Töne, bis der Trompeter den jeweiligen Take abpfeift. Es kommt zu einer ungewöhnlichen Synthese von Film noir und Cool Jazz: Miles’ musikalische Vorgaben sind minimal und schaffen Raum für unheimliche Emotionen. Diese Nacht in Paris ist die wahre Geburtsstunde von Miles’ modalem Konzept.

Noch einmal sind Miles und die Gréco ein Paar. Doch von dem romantischen, beeindruckbaren jungen Mann von 1949 ist nichts geblieben. Miles, „the baddest motherfucker“ und Vorbild einer Generation von Schwarzen, die endlich die Sklavenmentalität überwinden wollen, ist inzwischen ein erfolgreicher, kompromissloser Geschäftsmann. Er vermisst in Paris die Spannungen und den Konkurrenzdruck, die dem New Yorker Jazz seine Schärfe und Energie geben. Er schockiert die Pariser Kritiker damit, dass er sich auf der Bühne nicht anbiedert und seine Stücke nicht ansagt. Er trennt sich von der Gréco in Liebe, aber sie haben ihre Territorien markiert. Er hat sich endgültig für Amerika entschieden. Und für seine Rolle darin.

© 2006, 2009 Hans-Jürgen Schaal


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