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Ich flehe: Herr, lass mich ihr Pedal sein!
- Michael Naura

Von ihren letzten Alben verkaufte sie jeweils rund drei Millionen Stück. Sie war Nummer eins in den Pop-Charts mehrerer Industrieländer, in den USA immerhin Nummer neun. Sie kassierte Gold in Frankreich, Platin in den USA, Doppelplatin in Kanada. Sie gibt 250 Konzerte im Jahr in großen Hallen. Sie ist Werbeträgerin für DaimlerChrysler und Rolex. Sie arbeitet mit einer großen Künstler-Management-Firma, von der sie gegen eine 15-prozentige Beteiligung geschickt in den Mainstream der Unterhaltungskultur bugsiert wird. Sie wird in große Talkshows eingeladen. Ihr Flirt mit Clint Eastwood ging durch die Promi-Klatschpresse. (Motto: Der alte Haudegen kann’s nicht lassen. Seine Frauen werden immer jünger.) Ihre Bilder als unnahbare Diva in Blond prangten auf Glanzpapier. Sie hat die Kontrolle über jede Foto-Veröffentlichung. Im Dezember 2003 heiratete sie den Popsänger Elvis Costello, man feierte auf dem Schloss von Elton John. Diana Kralls Musik ist inzwischen „Pop im eigentlichen Sinn des Wortes“, schreibt ihre Plattenfirma. Wo auch wäre da noch Platz für das Uneigentliche?

Jazz ist blond. Blond ist Pop
Diana Krall hat ein neues Album
(2004)

Von Hans-Jürgen Schaal

Diana Krall gilt als „die Anstifterin des momentan grassierenden Vokalistinnen-Wahnsinns“, so der Universal-Promotext. Wobei „Wahnsinn“ wahrscheinlich etwas ganz Tolles ist, denn niemand hat so viele Wahnsinns-Vokalistinnen am Start wie Universal. Das Phänomen Diana Krall hat in den letzten Jahren die Grenzen zwischen Jazz und Pop durchlässig gemacht. Ohne Krall: keine Norah Jones, keine Singer/Songwriter-Kolumnen in Jazz-Magazinen, keine Jazz-Standard-Platten von Joni Mitchell, George Michael und Brian Ferry.

Mit ihrem neuen Album hat Krall nun den letzten, den entscheidenden Schritt getan. Ein großer war es nicht mehr nach den kitschigen Streicher-Orgien Claus Ogermanns, die deutlich ein anderes Publikum meinten als das des Jazz. Mit „The Girl In The Other Room“ betritt Krall nun aber endgültig das andere Zimmer: Sie präsentiert ein halbes Dutzend eigener Songs, ist damit in die Kategorie der Singer/Songwriter aufgenommen und voll Mainstream-kompatibel. Und damit ist das, was an Diana Krall noch immer Jazz ist, zu etwas ganz Neuem geworden: nicht länger Tradition und Klischee, sondern Persönlichkeit und eigene Stimme. Dass sie auch Jazz-Klavier spielt, ist nun einfach die individuelle Note dieser Pop-Künstlerin. Dass sie auch Jazz-Standards singt, beweist die verblüffende Originalität dieser offenbar stilistisch schrankenlosen Vokalistin. Eine „deutlich persönlichere Diana Krall“ begegnet uns jetzt, so der Pressetext. Auch ihr Klavierspiel ist auf einmal, so heißt es, „besser denn je“.

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Blenden wir ein Jahrzehnt zurück. Eine 29-jährige, deutlich jünger aussehende Kanadierin hatte 1993 ihr Debüt auf einem kleinen, unabhängigen Jazz-Label aus Montreal. Die junge Dame war durch ihren Vater, einen Jazz-Fan und Stride-Pianisten, geprägt, hatte den Aufnahmen von Fats Waller und Earl Hines gut zugehört, Oscar Peterson bewundert, bei Jimmie Rowles studiert und die Berklee School besucht. Oscar Petersons Bassist Ray Brown gehörte zu ihren Förderern und gab dem Debütalbum folgende Kommentare mit auf den Weg: „Ich lernte Diana Krall in ihrer Heimatstadt Nanaimo in Kanada kennen. Sie war als Teenager ein Klavier-Genie (‚a teenage piano wiz’). Sie rief mich vor ein paar Jahren an und fragte, bei wem sie Klavier studieren sollte, und ich empfahl Jimmie Rowles oder Hank Jones. Jimmie Rowles war verfügbar und es hat sich hübsch bezahlt gemacht... Hören Sie sich den Drive an, in den sie in ihrem Solo gerät. Sehr guter Groove... Diana spielt ein interessantes Klaviersolo, das sich von einer einzelnen funky Linie in einen ‚locked-hand style’ bewegt und zurück... Sie können den Rowles-Einfluss in einem hohen Gang hören, wenn sich Diana durch zwei Chorusse vorantastet... Hier bietet Diana einiges an gutem, hart treibendem, funky Klavierspiel.“

Ray Brown prophezeite Diana Krall damals eine große Zukunft – als Jazzpianistin. Dabei hat sie auf ihrem Debütalbum nicht weniger und nicht schlechter gesungen als später. Auch die Jazzzeitung schrieb im Sommer 1994: „Bei der CD ‚Stepping Out’ handelt es sich um das Debüt-Album einer Pianistin... Diana Krall, eine junge Kanadierin, stellt sich zugleich als Vokalistin vor. Um es gleich vorwegzunehmen: Als Pianistin gefällt sie mir besser, obwohl sie eine passable, erstaunlich reife Stimme hat. Die Gesangseinlagen tragen allerdings im positiven Sinne zur Abwechslung (...) bei.“ Diana Kralls Klavierspiel hatte auch bei Konzertauftritten in den Jahren davor schon reichlich Kritiker-Lob eingefahren. Leonard Feather nannte sie „eine Post-Bop-Solistin, deren Reife über ihr wahres Alter hinwegtäuscht“. Mark Miller berichtete vom Toronto Jazz Festival 1988: „Krall hinterließ am Montagabend einen gewaltigen ersten Eindruck allein durch die Autorität ihres Spiels. Sie ist schnell und aggressiv, technisch versiert (vorsichtig gesagt) und ganz ohne Furcht. Diana Krall ist bereits an dem Punkt, wo sie nicht mehr Klavier spielt, sondern mit dem Klavier spielt. Das ist ein Durchbruch, den viele Pianisten nie geschafft haben.“

Auf den ersten Eindruck hin ist Kralls Klavierspiel einfach nur swingender Mainstream-Jazz. Es basiert ganz auf den Tricks und Licks der Swing-, Funk- und Bop-Pianisten. Wenn man will, kann man diesen Stil in all seine Bestandteile zerpflücken: die kleinen Blues-Figuren, die Blockakkord-Folgen, die En-passant-Zitate, den Ellingtonschen Lakonismus, die Basieschen Diskant-Tänzeleien, die Funk-Akzente, die Laidback-Grooves, die kleinen vorarrangierten Übergänge... Und doch: Wie Krall damit umgeht, wie sie diese Stilmittel aneinander reiht und ihnen neue, spontane, auch ungeschliffene Zusammenhänge gibt, das besitzt durchaus Originalität. Nicht umsonst gab sie etliche Male gemeinsame Konzerte mit Benny Green, dem technischen Nonplusultra der Piano-Traditions-Verwertung. Green macht die ganze Geschichte des Jazzklaviers in einem einzigen Chorus hörbar. Was ihm durch perfektionistische Übersteigerung gelingt, schafft Krall durch ihre sparsame, wählerische, pointierte, ganz und gar eigenwillige Ästhetik. Sie hätte eine große Pianistin werden können.

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Berühmt geworden ist Diana Krall aber durch ihre Stimme. Deren Effekt hat nicht nur der Kritiker der Jazzzeitung damals unterschätzt. Alles, was der große Ray Brown über Kralls Gesang auf ihrem Debütalbum zu sagen hat, ist dies: „Was mich verblüfft ist die hübsche Phrasierung, die Diana als Vokalistin hat. Auch ihre Aussprache ist exzellent. Ich finde, da ist viel Soul in dieser Lady.“ Der gewaltige Erfolg der Sängerin Krall war in der Tat schwer vorhersehbar. Als das Album „Stepping Out“ entstand, schien die Jazzwelt nämlich noch in Ordnung: Jazzfans mochten keine Sänger, Songfans mochten keinen Jazz. Behaupten konnten sich allenfalls die großen Diven, die als Verkörperung der schwarzen Tradition galten: Abbey Lincoln, Betty Carter, Cassandra Wilson, Dee Dee Bridgewater, bald auch Dianne Reeves. Eine junge Weiße, die in dieser Liga mitspielt – wer hätte sich das vorstellen können? Und doch: Dass eine Sängerin wie Helen Merrill 1989 mit einer japanisch-französischen Koproduktion ein Comeback feierte, gesponsert von einer Telefongesellschaft, war das nicht ein erstes Indiz für den kommenden Erfolg einer anderen Art von Jazzgesang?

Diana Krall besitzt heute so wenig wie damals das, was etwa die reife Betty Carter auszeichnete: die Credibility, die Lebenserfahrung, den Willen zum Experiment, die historische Dimension, das sozialkritische Engagement. Diana Krall machte sich darüber auch nie Illusionen: Sie hielt sich selbst lange Zeit überhaupt nicht für eine Jazzsängerin. Noch vor wenigen Jahren sagte sie: „Ich bin jemand, der singt, nicht eine Sängerin im eigentlichen Sinn.“ In ihrer Jugend hatte sie zwar versucht, sich eine „schöne“ Sopranstimme anzutrainieren – aber ohne Erfolg. Als sie nach Berklee ging, war sie völlig aufs Piano fixiert. Doch in einem der Kurse dort musste die damals schon 25-Jährige vorsingen – und entdeckte dabei eine ganz andere, ihre wahre Singstimme: einen gedeckten, fast rauen Alt. Das war 1989, nur vier Jahre vor ihrem Debüt. Von da an verstand sie sich als „singende Pianistin“: Immerhin war Fats Waller, der geniale Pianist mit den witzigen Gesangseinlagen, eines ihrer Jugend-Idole gewesen. Aber schnell kehrten sich die Vorzeichen um: In den Liner notes ihres zweiten Albums (1995) verweist Krall stolz darauf, dass ihre Lieblingssängerinnen alle auch nebenher ein bisschen Klavier spielten – Sarah Vaughan, Carmen McRae, Dinah Washington und andere. Ihr drittes Album (1996) – vielleicht ihr bestes – widmete sie dann der Musik von Nat King Cole, der ein erstklassiger Jazzpianist war, aber als Sänger zum Weltstar wurde. Ein besseres Modell für Diana Kralls Karriere gibt es kaum.

Was macht Kralls Erfolg aus? Ich habe 1993 ihr Debütalbum gehört, noch bevor es erschienen war, und ich erinnere mich gut an diesen Moment. Man konnte beim Hören die Augen schließen und sich eine schwarze Sängerin vorstellen. Da war diese leicht verschleierte, sinnlich-dunkle, kehlige Stimme, die souverän mit dem Timing spielte, mutig die Melodie variierte, gewitzt die Dynamik wechselte und sich unmerklich einen Schatten von Heiserkeit überstreifte. Diana Krall hat die großen Jazzsänger ebenso gründlich studiert wie die Jazzpianisten. Wenn man dann aber die Augen wieder öffnete, sah man das CD-Booklet mit den Bildern einer hübschen Blondine mit ausgeprägtem Kinn und feinen Rundungen. Allein schon dieser Gegensatz – schwarze Musikästhetik und weiße Körperästhetik – war verwirrend und faszinierend. Berühmt wurde das Kritikerwort, das Kralls Stimme als „Honig mit Whisky“ beschrieb. Wer bei dieser lasziven Mischung aus Süße und Hitze aufhorchte und dann auch noch die Person attraktiv fand, musste einfach – ob Mann oder Frau – Diana-Krall-Fan werden.

Die Kanadierin hat dem Jazz ein neues Gesicht gegeben: weiblich, weiß, blond und sexy. Ihren riesigen Erfolg verdankt sie einem Publikum, das Jazz eigentlich gar nicht mag und das „echte“ schwarze Jazzsängerinnen als viel zu speziell und exotisch empfinden würde, um sich für sie zu interessieren. Diana Krall aber eignet sich zum Pop-Sternchen: Sie wird von Starfotografen in Designer-Klamotten abgelichtet und der Öffentlichkeit als „Glamour-Girl“ und „Sex-Symbol“ verkauft. Viel Bein, viel Dekolleté, und das Haar wird jedes Jahr noch eine Spur blonder. Diana Krall – eine aufgeblasene Medien-Inszenierung? Ihre Kritiker – ja, die gibt es – haben diese „Schauspielerei“ schon immer gewittert, sogar in Kralls Gesang. Was diese Stimme signalisiere – Laszivität, Erfahrung, Gefühlstiefe –, sei einfach nur Maske, eine angelernte Masche, sagen ihre Kritiker. Krall schien das zu bestätigen, wenn sie zugab: „Allzu Persönliches singe ich nie, nur Songs, die zu mir passen.“ Das Schlimmste, was diese Frau in ihrem Leben erfahren musste und was ihren Songs Tiefe geben könnte, sagen ihre Kritiker, war eine Rising-Star-Tournee durch Mitteleuropa. Spielt Diana Krall nur die Jazzsängerin? Wenn ja, macht sie das gut. Blendend gut.

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Einiges freilich blieb auf der Strecke. Kralls Gesang besaß zuletzt nicht mehr die Vitalität und Direktheit, die ihn einmal auszeichneten. Immer öfter konnte man hören, wie sich die Stilmittel zu Effekten verselbstständigten: die Heiserkeit, das Hauchen, das Quasi-Sprechen. Sinnlichkeit statt Sinngebung. Es ist manchmal, als hörte sich die Krall selbst bei ihrem Gesangsvortrag zu, als wäre sie damit beschäftigt, ihren eigenen Mythos zu reproduzieren. Beginnt so das Dasein als Diva? Aber am meisten hat natürlich ihr Klavierspiel gelitten, das vor Jahren in die zweite Reihe treten musste. Es wurde nicht Opfer einer Inszenierung, sondern Opfer allzu leichter Routine. Kein Wunder also, dass Diana Krall mit ihrem neuen Album das Motto ausgab, sie wolle künftig mehr Klavier spielen als schauspielern. „Wahrscheinlich ist keines meiner anderen Alben so stark von Jimmie Rowles beeinflusst wie das neue. Immer wieder entdecke ich neue musikalische Wendungen, harmonische Verfeinerungen und rhythmische Kicks, die er in mich hineingepflanzt hat.“ Um das nachprüfen zu können, müssten die Klaviersoli auf dem neuen Album allerdings mindestens doppelt so lang sein.

Zu Kralls Wendung zum Wesentlichen passt, dass sie ab sofort auch als Sängerin persönlicher und individueller in Erscheinung treten will. Der Auslöser dafür ist natürlich nicht etwa der überall grassierende Singer/Songwriter-Trend (böse Unterstellung!), sondern eine ganz private Krise, die sie durchlebt hat: der Tod ihrer Mutter und ihrer Mentoren Ray Brown und Rosemary Clooney. „Die alten Standards reichten nicht mehr, um meine Gefühle auszudrücken“, sagt die Künstlerin. Und ihr neues Album bestätigt, was „mehr Persönlichkeit“ bedeutet: kein Cole Porter, Harold Arlen und George Gershwin mehr, dafür Songs aus der jazznahen Singer/Songwriter-Ecke (Joni Mitchell, Tom Waits, Elvis Costello) und zur Hälfte eigene Songs des Ehepaars Krall-Costello. Nur: Diese Letzteren klingen halt wie andere heutige Songwriter-Balladen auch, bloß mit Jazz-Instrumenten gespielt: Man kennt diese Art „Unplugged Pop“ von Norah Jones und vielen anderen.

Diana Krall wird sich mit diesem Album endgültig im Pop profilieren können. Sie hat sich von den geliehenen Gefühlen der Jazz-Standards gelöst und eifert stattdessen berühmt-bemühten Kultsängern nach. Fragt sich nur, ob das diesmal ihre wahre Stimme ist, ganz ohne Inszenierung. Vielleicht spielt sie ja nur die Popsängerin?

© 2004, 2010 Hans-Jürgen Schaal


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