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Europas größter Jazzmusiker, der Erfinder des Gypsy-Jazz, der Welt schnellster Plektrum-Gitarrist, der Drei-Finger-Zauberer: Django Reinhardts Ruhm strahlt ungebrochen, auch 50 Jahre nach seinem frühen Tod am 16. Mai 1953. Doch was ist wirklich dran an den Legenden um das Leben des genialen Roma-Gitarristen? Wir haben mal die Django-Mythen hinterfragt und wirklich ganz Erstaunliches gefunden.

Django Reinhardt
Die Wahrheit hinter der Legende
(2003)

1928: Der Wohnwagenbrand. Später wird er sagen, er sei einem Geräusch nachgegangen, habe eine Maus im Wagen vermutet, sei mit der Kerze in der Hand herumgeschlichen und dabei über irgendetwas gestolpert. Wer die Unordnung in Djangos Wohnwagen kennt, kann sich das vorstellen. Nur: Django ist viel zu abergläubisch, viel zu ängstlich, um in einer schwarzen Novembernacht unerklärlichen Geräuschen nachzuspüren. In Wirklichkeit sitzt er heimlich über seltsamen Papieren, doch das würde er keinem verraten. Django ist 18 Jahre alt und kann nicht schreiben oder lesen – weder Buchstaben noch Noten. „Wenn du ein berühmter Künstler werden willst, musst du Verträge lesen und deine Musik aufschreiben können“, sagt seine junge Frau immer wieder. Musikerkollegen helfen ihm: Das ist ein großes D, ein großes R, das ist ut majeur, ré mineur. Django versucht aus den wirren, hingekritzelten Zeichen schlau zu werden, verwechselt Laute und Töne, wird erst ungeduldig, dann nervös, schließlich panisch. Er schwitzt, stöhnt, fuchtelt herum... Plötzlich liegt die Kerze am Boden, die Papiere brennen lichterloh, Django überlebt nur knapp. Mit einer Frau, die so dumme Ratschläge gibt, will er danach nichts mehr zu tun haben.

1934: Gründung des Quintetts. Was für eine geniale Idee: zwei Rhythmusgitarren! Die schaffen einen swingenden Drive, eine harmonische Welle, die ihn, den Solisten, wie von selbst vorantragen. Die jedes Klavier oder Schlagzeug unnötig machen. Richtig, aber Django hat ganz andere Gründe: Er braucht Ersatzteile. Die Attacke, mit der er die Stahlsaiten anreißt und die Lautstärke alle acht Takte noch einmal steigert, fordert regelmäßig Opfer. Gut, er hat gelernt, auch auf fünf Saiten zu spielen. Aber falls dann noch eine reißt und noch eine? Er kann ja schlecht mitten im Stück aufhören. Ganz klar: Nin-Nin muss dann sein Instrument hergeben. Schließlich ist er sein Bruder und Eugène begleitet sowieso besser. Und falls Django mal ganz ohne Gitarre zum Konzert aufkreuzt (ziemlich oft), dann ist jedenfalls immer gleich ein übriges Instrument zur Hand, egal wo man spielt. Und vor allem: Die beiden Begleiter können abwechselnd Djangos Gitarrenkoffer tragen. Ein Star glänzt, aber er arbeitet nicht.

1939: Der Kriegsausbruch. Am 3. September erklären Großbritannien und Frankreich den Deutschen den Krieg. Django, mit seiner Band gerade in England unterwegs, reist Hals über Kopf zurück nach Paris – ohne Gepäck, ohne Besitztümer, ohne Gitarre. Haben ihn die Sirenen erschreckt? Hält er Frankreich für sicherer? Nein, er kann sich Krieg gar nicht vorstellen. Es ist nur ein Vorwand, um endlich wegzukommen: weg von diesen Hotels mit ihren endlosen Gängen, zahllosen Türen, sinnlosen Ziffern, dummen Geräuschen. Weg von den Lifts und den Drehtüren, der seltsamen Sprache und dem seltsamen Essen. Und weg von diesem unheimlichen Grappelli, der immer so elegant und ruhig ist, so ordentlich und geizig, der Englisch spricht, mit den Frauen schäkert, mit den Veranstaltern telefoniert, ein Essen bestellen kann. Grappelli ist ja noch rätselhafter als die Engländer – so anders, dass Django ihm alles zutraut. Grappelli bleibt zurück auf der Insel. Sie werden sich erst 1946 wiedersehen.

1944: Cabaret „Chez Django Reinhardt“. Dieser Zigeuner ist ein raffinierter Kerl und trickst jeden aus. Jetzt hat er sogar seinen eigenen Club in Paris, als wolle er sich über sie alle lustig machen: über die Deutschen, die Engländer und die Franzosen sowieso. Die immer gleichen Gestapo-Beamten sitzen wieder an den hinteren Tischen, ziehen nicht mal ihre schwarzen Mäntel aus. Immer enorm höflich, sagen sie „Maître“ zu ihm und lassen ihn sonst in Ruhe: Sie lauern auf seine Hintermänner, die Drahtzieher der Résistance. Die wiederum sitzen an den vorderen Tischen im Widerschein des Rampenlichts, plappern laut und qualmen wie Schlote und wollen den offensichtlichen Kollaborateur Reinhardt auf frischer Tat ertappen. Im Clubraum strategisch verteilt stehen die britischen Agenten – überzeugt davon, dass Django ein doppeltes Spiel spielt und von beiden Seiten Informationen erhält, die kriegsentscheidende Bedeutung haben. Wie übermittelt er sie bloß? Stecken die Botschaften in seiner Musik? Nie wieder wird Jazz so populär sein in Frankreich.

1946: Die USA-Tour. Django hat Amerika immer bewundert: den Jazz, die großen Autos, Hollywood, die smarten Gangster im Film... Und Eddie Cantor, der amerikanische Star, hat ihm sogar die Hand geküsst, 1938 in England. Nach dem Krieg wird Djangos Traum endlich wahr: eine US-Konzerttournee mit Duke Ellingtons Band. Danach ist das Thema Amerika für immer gestorben. Was ist passiert? Zunächst mal haben ihm die amerikanischen Gitarrenfirmen gar keine Instrumente geschenkt, obwohl er extra ohne Gitarre anreist. Die Gitarren, die er dann bekommt, sind billige Blechpötte und taugen nichts. Schlimmer noch: Keiner bietet ihm eine Filmrolle in Hollywood an. Dann sprechen alle Leute nur Englisch und die Musiker wollen immer wissen, welchen „Schlüssel“ er benutzt, als wäre seine Musik eine verschlossene Schatzkiste. Und als er zwei Stunden zu spät zum Konzert kommt (Carnegie Hall), wird er deshalb gleich von der Presse niedergemacht. Aber der wirkliche Schock ist ein anderer: die geblümte Unterwäsche. Ellingtons ganze Band trägt sie und sogar der Duke selber, mit dem sich Django ein Abteil des Eisenbahnwagens teilt. Geblümte Unterwäsche! Das ist doch nicht sein Amerika! Eine Fälschung, eine billige Fälschung!

© 2003, 2010 Hans-Jürgen Schaal


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